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[Tagebuch] Sôlerbens Licht - Druckversion

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RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 20.02.2021


XXVII – Archivarium Planetarus

23.06.1352

Ich verließ Rabenfels noch am selben Abend. Über den selben Weg, über den ich die Stadt betreten hatte, kam ich auch wieder heraus. Ein Frachtkahn auf der Prage bot mir eine gute und sichere Möglichkeit während der langsam einbrechenden Dämmerung flussaufwärts zu fahren. Wenn man es genau nimmt, war es auch der einzig sinnvolle Weg aus Rabenfels heraus. Die wenigen Bergpfade, die durch die Gipfel des Kaphatgebirges führten, waren unbefestigt und gefährlich.
Ich brauchte letztlich auch nicht lange auf dem großen Schiff zu bleiben, welches gemahlenes Getreide aus Linnigh ins Zentrum des Landes transportierte und just seinen Rückweg angetreten hatte. Lediglich einige Stunden verbrachte ich an Bord, bis wir das Kaphatgebirge hinter uns gelassen hatten. An der erstbesten Stelle hinter den grauen Felsen ging ich von Bord, um direkt auf Yukis starken Rücken aufzusatteln.

Während meines Aufenthalts an Deck konnte ich einige Zeit mit dem Kapitän und seiner spärlichen Besatzung verbringen. Seit Jahren fuhr er immer auf derselben Strecke, lade immer in Kornfall Getreide ein, um es nach Rabenfels zu bringen. Doch in den letzten zwei Jahren, insbesondere in den vergangenen Monaten, sei ihm eine unangenehme Spannung im Süden des Landes aufgefallen. Die während des Krieges niedergebrannten Höfe und Landgüter waren noch nicht lang wieder hergerichtet; der Krieg hatte dem Süden Tasperins schließlich stark zugesetzt. Dafür bahnte sich eine neue Auseinandersetzung mehr und mehr an. Bauern wurden zur Arbeit eingezogen, um die Befestigungen an der Grenze zu Sorridia wiederzuerrichten. Und auch die Bastionen an der Fallicer Grenze wurden verstärkt und befestigt. Junge Burschen gingen nicht mehr in den Betrieben arbeiten, heuerten nicht mehr auf Schiffen oder auf den Feldern an, sondern wurden in den Militärdienst einbeordert. Viele traten dem Heer Tasperins gleich selbst bei, schließlich war dies der einzige Weg an eine angemessene Bezahlung und Ausbildung zu kommen.

Zwar hoffte dieser stramme Tasperiner auf eine Beruhigung der Lage, doch sah er sie nicht kommen. Mal eskalierte der Konflikt auf der einen Seite, ein anderes Mal auf der Gegenseite. Er wünschte sich, wie so viele, einfach nur Frieden. Damit er ein ruhiges Leben mit seiner Frau führen konnte. Damit er seinen Kindern beim Aufwachsen zusehen konnte. Damit er nicht jeden Abend mit von Schrecken geplagten Gedanken ins Bett gehen musste.

Ähnlich sahen es die wenigen verbliebenen Matrosen. Sie führten kein wohlhabendes oder besonders aufregendes Leben, aber immerhin waren sie zufrieden. Sie selbst sagten, dass sie glücklich waren. Aber was soll Glück schon sein? Wer darf es finden oder .. wer kann es überhaupt? Wenn das Schicksal und die Ordnung den Weg blockieren, wird dieses Glück unerreichbar. Ich hoffte, dass diese frommen Männer und ihre Familien ihr Glück finden, ihr ruhiges Leben bekommen und am Ende mit einem Lächeln in Deyns Reich eintreten können. Aber ebenso sehr, wie ich es ihnen wünschte, bezweifelte ich, dass es jemals so kommen würde.

Das Lastenschiff machte hinter den großen Hügeln des Kaphatgebirges einen kleinen Halt, um neue Vorräte einzulagern. Außerhalb des Gebirges waren die Preise um ein Vielfaches niedriger, ganze Dörfer hatten sich auf die Versorgung und Ausstattung der Schiffsbesatzungen spezialisiert. Manch eine Familie verdingte sich ausschließlich diesem Zweck, waren die Preise in Rabenfels für viele schlichtweg unerschwinglich. Ich nutzte meine Gelegenheit und ging mit Yuki von Bord, bedankte mich noch einmal ausgiebig bei der Besatzung für die Mitfahrgelegenheit und verbrachte die Nacht in einer Gaststätte im kleinen Dorf Kulmestal.

Nach der kurzen Überfahrt betraten meine Füße zum ersten Mal in meinem Leben den Boden der Bühlmark. Die grünbraunen Böden der Region waren für ihre Viehzuchten und weit auslaufenden Berghänge bekannt. Am östlichen Ende Tasperins lag das Fahlgebirge mit seinen einnehmenden Berggipfeln, von denen viele vermutlich niemals erklommen werden. Eingebettet in einem großen Bergtal an den Gipfeln eben jenen Gebirges lag die Stadt Auenthal, Hauptstadt der Bühlmark. Nördlich von ihr mein Ziel: Das Archivarium Planetarus.

Es kostete mich wenige Tage Reisezeit bis ich in der Stadt Perwich ankam. Die vor allem durch den Bergbau und einige Industriebetriebe geprägte Ortschaft war vergleichsweise, besonders für die Bühlmark, belebt. Händler zogen umher und ganze Karawanen aus Ochsenkarren brachten die erzeugten Waren an die Prage oder direkt über den Fluss weiter in die Herzlande Tasperins. Perwich bot für den Unkundigen keine größeren Sehenswürdigkeiten oder Errungenschaften, auch war es keine Stadt in der meine kulinarische Ader besänftigt werden konnte. Das liebliche Städtchen offenbarte mir allerdings eine Möglichkeit meine Vorräte aufzustocken und einen kurzen Bericht an Sir Saltzbandt zu übersenden.

Mein lokaler Mittelsmann war ein dicklicher Ordensbruder, der den ganzen Tag damit beschäftigt war einen großen Suppentopf immer wieder mit allerlei Zutaten zu füllen. Nach einigen Stunden des Umherrührens verteilte er den Eintopf, oder die Suppe, an die Obdach- und Mittellosen der Stadt. Selbstverständlich genehmigte er sich hin und wieder eine oder gleich drei Schöpfkellen als Kostprobe. Die Bedürftigen sollten schließlich nur ausgewählte und köstlich schmeckende Almosen bekommen.

Mit einem vielsagenden Schlag auf seinen dicken Bauch, nahm er meinen Brief an sich. Er schob ihn unter seine braune Kutte, legte ihn zwischen seinen Bauchfalten ab und ließ die Robe wieder hinabsinken. Ich war von der ganzen Vorstellung ein wenig irritiert, ließ mich aber nicht von meinem Ziel abbringen. Sir Saltzbrandt hatte diesen Mann hoffentlich nicht ohne Grund auserkoren, um als gesicherter Überbringen von Nachrichten zu fungieren. Es war zwar nur ein kurzer Sachstand, den ich nach Zandig sandte, aber ein Wichtiger. Immerhin waren bereits Monate vergangen, seit ich die Kurmark verlassen hatte.


Von Perwich aus verschlug es mich auf die großen braunen Hügel der Bühlmark. Das Land raute spürbar auf, Yuki und ich liefen entweder die ausgedehnten Hügel hinauf oder direkt wieder hinunter. Das Gebiet um Auenthal zeigte sich besonders unwegsam und naturbelassen. Straßen gab es nur durch das große Tal direkt in die Stadt hinein. Da ich mich allerdings entschlossen hatte nicht auf einer der belebten Verkehrswege zu verkehren sondern den schnelleren Weg entlang der Gipfel zu nehmen, musste ich schwierige und teils ruppige Strecken in Kauf nehmen. Yuki meisterte sie zwar alle mit Bravour, doch wurde er Tag um Tag sichtlich müder und ausgelaugter. Die Anstiege machten ihm zu schaffen, manchmal sogar so sehr, dass ich abstieg und für ein paar Stunden neben ihm herlief.

Als wir jedoch endlich in Auenthal ankamen, vergönnte ich meinem kräftigen Zweibacher eine Pause von einer halben Woche. Während ich mich in einer Ordensunterkunft einquartierte, übergab ich ihn einem Hufschmied und anschließend einer engagiert wirkenden Stallmeisterin. Yuki bekam neue Beschläge mitsamt ausgiebiger Streichel- und Pflegeeinheiten. Ich nutzte die Zeit unterdessen, um mich in der Bibliothek der Stadt über die neuen Entwicklungen in den Unbekannten Landen sowie meiner Heimat einzulesen. Dank Auenthals überregionaler Bedeutung gab es ausreichend Bücher und Berichte, manche davon waren gar erst ein halbes Jahr alt.

Meine Ordensbrüder und -schwestern teilten mir zwar hin und wieder per Brief den Stand über den Kampf der Kolonien und die Lage auf Neu Corethon mit, doch passen in die wenigen Zeilen meist nur kurze Beschreibungen. Hier fand ich ausführliche Berichte und Erklärungen über die Geschehnisse, manchmal sogar mit Notizen und Anmerkungen über die politische Bedeutung und Relevanz einiger Taten.
Was mich allerdings deutlich mehr bewegte, als ich gedacht hatte, waren die Veränderungen an der La Jonquera. Bohemund de Corastella schien innerhalb des Ordens aufzuräumen und meine alte Heimat umzubauen. Seine Widersacher räumte er, wie immer schon, eiskalt aus dem Weg. Ich wusste, dass ich einerseits nicht mehr daran vorbeikam, ihm einen Besuch abzustatten. Andererseits wollte ich ohnehin noch einmal meine alte Heimat, die erste Stätte meines Wirkens, aufsuchen.
Ich wusste schließlich nie, wann es das letzte Mal sein würde.

Mit dem Hochmeister der patrischen Mikaelaner hatte ich zwar alles andere als ein Problem, vielmehr waren wir über die Jahre immer wieder aufeinandergetroffen und hatten einander ausgeholfen, es bereitete mir dennoch ein gewisses Kopfgrübeln. Brach er gar in einem verquerten Schuldbewusstsein auch mit alten Verbündeten?
Wenn ich mich denn überhaupt als eine solche bezeichnen konnte.
Egal welche Möglichkeiten sich mir offenbarten, am Ende blieb nur – wie immer – die reine Konfrontation. Ich würde zu ihm reisen müssen und sehen, wie er reagiert. Entweder er erinnert sich an die offenen Gefallen zwischen uns in guter Erinnerung oder im genauen Gegenteil.
Egal welche Richtung seine Antwort einschlagen würde, ich brauchte seine Hilfe. Nur mit dieser könnte ich bei den Sorridianern für ein wenig Nachsicht sorgen und um Unterstützung bitten. Nur mit Hilfe meiner alten Ordensbrüder könnte ich diesen verfluchten Buchhändler namens Buji Beg finden; wo auch immer er sich herumtreiben möge.

Nach unserer kurzweiligen Pause, die mich aufgrund des belebten Umfelds durchaus auch einige Kraft gekostet hatte, nahm ich mit Yuki die letzte Tagesreise zum Archivarium Planetarus auf. Entlang bewaldeter Wiesen und Abhänge führte uns eine enge Straße entlang mehrere Berge und teilweise sogar an einer kleinen Schlucht vorbei.
Am frühen Nachmittag kamen wir an jener Heiligen Stätte der Heiligen Domenica an, nachdem wir bereits in den frühen Morgenstunden aufgebrochen waren. Vor mir erstreckte sich der mittlerweile zu einer ganzen Lehrstätte angewachsene Forschungsturm mit seinem ausgefahrenen, gläsern-kupfern schimmernden Himmelsfernrohr. Links von mir lag die große Bibliothek aus fein verputztem Backstein, in denen die zweitgrößte Sammlung aller astrologischen Schriften des nördlichen Leändriens gelagert werden sollte. Rechts von mir befanden sich mehrere einstöckige Bauten voller Schlaf- und Lehrräume. Wie ein großes Stück Mauer lagen sie um den großen Holzturm mit seinem Himmelsrohr verteilt. Auf dessen Spitze wurde eine zum Teil aus Metall geformte Kuppel errichtet, in deren Inneres das Fernohr mit dem Blick in die Sterne aufgebaut wurde.

Dank zweier großer hölzerner Schiebetore konnte die Kuppel bei schlechten Witterungsbedingungen allzeit verschlossen werden. Und schlechtes Wetter gab es hier in den Ausläufern des Fahlgebirges ständig. Auch als ich ankam, begann sich gerade ein neuer Regenschauer über dem Gebirge zusammenzubrauen. Zum Glück; oder vielmehr dank meines rechtzeitigen Eintreffens; konnte ich Yuki gerade noch an einer Holzleiste anbinden und Schutz in einem der großen Lehrsäle suchen.
Krachend kündigten sich die Blitze an. Ein irrgewaltiger Donner schickte seine Rufe über die Hügel bis das helle Aufschreien von Sôlerbens Zorn in der Erde niederging. Ich verschloss schnell die Tür  hinter mir und suchte mir ein lauschiges Plätzchen inmitten des mit Tischen, Stühlen und Tafeln vollgestellten Saales. Außer mir befanden sich noch ein halbes Dutzend in wetterfeste Lederkleidung gehüllte Sternenkundler in dem Raum. Drei von ihnen debattierten über eine neu gefundene Konstellation. Zuerst konnten sie sich nicht über den genauen Zeitpunkt der Entdeckung einigen, dann stritten sie sich über den Namen und die Gewinnverteilung der Belohnung. Schlussendlich einigten sie sich auf den Namen der älteren Schwester eines der Wissenschaftler.

Die andere Hälfte saß stillschweigend vor Büchern oder zeichnete mit dem Kreidestift mehrere Kreise und anschließend unverständlich lange Zahlenreihen an die Tafel. Ich konnte nur in leisem Staunen durch den Saal schreiten; und ihn ebenso schnell wieder verlassen. An seiner Rückseite kam ich auf einen kleinen Flur, von dem aus weitere Lehrstätten und Aufenthaltsräume erreichbar waren. Draußen fuhren weitere Zornesrufe Sôlerbens in die Erde ein, während der Regen mit ungeahnter Stärke gegen die Scheiben prallte.

Ich klopfte vorsichtig an die erstbeste Tür zu meiner Rechten. Mit einem dumpfen Laut hallte es "Eh.. herein". Mit der linken Hand drückte ich die Türklinke hinab, zog die Tür nach außen auf und betrat den Raum. Im Inneren saß, eingebaut in einen Stapel aus Büchern, ein junger Herr im Schneidersitz auf dem Boden. Die Bücherstapel überragten ihn knapp. Vor seinen Beinen lagen mehrere mit kleinen Zetteln beklebte Werke offen da. Selbst in seinen Händen hielt er jeweils ein Buch. Tatsächlich schaffte er es trotz seiner gefüllten Hände irgendwie furios umzublättern, als hätte ich ihn gerade mitten in einer wichtigen Suche unterbrochen.

Ohne zu große Aufmerksamkeit erregen zu wollen, trat ich ein paar Schritte auf den jungen Mann zu. Die Buchrücken trugen allesamt Aufschriften zu astronomischen Abhandlungen, Sternenkonstellationen, Raumkörpern oder sonstigen Dingen, die in einem Planetarium sicher nützlich sein können und mir vollkommen fremd waren. In zwei der aufgeschlagenen Bücher erkannte ich die Zeichnungen der Planeten um Athalon herum, mit etwa der gleichen Präzision, wie sie auch im Forscherhaus meines Ordens aufgestellt waren.

Als ich mich vor dem Stapel niederkniete, blickte mich der darin lungernde Forscher plötzlich an. Aus der Nähe wurde deutlich, wie gerötet seine Augen und eingefallen seine Wangen waren. Trotzdem blitzte etwas in ihm auf, als er mich ansprach. Oder war es nur der Blitzschlag auf der anderen Seite der Glasscheibe?
"Sagt Mal, ihr kennt nicht zufällig die genaue Distanz zwischen Carviel und Schwarzwasser? Nicht in Tagesreisen natürlich, die exakte Distanz. Oh und der Schatten der Bastion des Westens würde mich auch interessieren. Vielleicht so ab 13 Uhr Mittag? Aber besser noch über den Tagesdurchschnitt. Könnt ihr mir das Buch dafür aus der Bibliothek holen?"

Ich öffnete während seiner Ausführungen einmal kurz den Mund. Eigentlich wollte ich ihn unterbrechen. Aus irgendeinem, mir rückblickend nicht ganz erschließenden, Grund ließ ich es aber sein. Er sprach seine mir völlig wirr vorkommenden, ihm aber sicherlich absolut logischen, Bedürfnisse aus. Und ich hörte zu.
Als er fertig war, schüttelte ich freundlich, aber bestimmt den Kopf.
"Ich bin nicht euer Dienstmädchen. Zu mal ich nicht einmal wüsste, wonach ich zu suchen hätte. Da ihr mir eure Fragen gestellt habt, kann ich euch sicher auch ein paar Fragen stellen." Ich lächelte vorsichtig.

Der junge Wissenschaftler sah mich absolut entrüstet an. In einer leichten Wut presste er die Kiefer aufeinander, schnaubte einmal leise aus und wiederholte meine eigenen Worte.
"Ich bin nicht euer Dienstmädchen!"
Danach wandte er den Blick von mir ab, schielte mit einem Auge aber weiterhin meine Richtung.

Ich griff das ganz oben auf dem linken Buchstapel liegende Buch, drehte es seitlich und schlug es ihm für diese Frechheit sachte gegen den Kopf. Dieses Mal wirkte er wirklich erschüttert. Sogar so sehr, dass er das Gleichgewicht in seiner Sitzhaltung verlor. Er wollte sich wehren. Das ging aber deutlich schief. Mit den Armen holte er nach dem rechten Buchstapel aus, rutschte dabei aber irgendwie ungeschickt zur Seite und räumte beide Büchertürmer ab, sodass sie ihn unter sich begraben. Ein dumpfes Geschwätz der Wut ertönte unter dem Berg aus Papier und Ledereinband, bis der junge Herr darunter wiederauftauchte.
"Wie könnt ihr es wagen! Wie könnt ihr es wagen, wagen, wagen! Wisst ihr überhaupt wer ich bin?"

Ich schüttelte sanft den Kopf.
"Ich habe nicht die geringste Ahnung, werter Herr. Aber ich bin mir sicher, dass ihr es mir sogleich mit stolz erhobener Brust mitteilen werdet."

"Und wie ich das werde! Ich lasse mich doch von einer Silvanerin nicht verhöhnen! Ganz bestimmt werde ich das nicht! Ich bin Alejo el Ortega! Ganz genau, der Sohn des Visconte el Ortega! Und in meinen Forschungsarbeiten unterbricht mich eine gewöhnliche Silvanerin! Identifiziert euch, aber auf der Stelle."
Mit einem leichten Schwung beförderte er den Großteil der Bücher von seinem Körper. Mühselig richtete er sich auf, blickte mich an und steckte seine Zunge heraus. Wie ein kleines, unerzogenes und beleidigtes Kind. Wenn ich recht darüber nachdenke, verhielt er sich auch genau so.

Der werte Sohn des Viconte el Ortega bot mir aber einen ungeheuren Vorteil. Selbst wenn er hier, wenn man es genau nimmt, keinerlei Sonderrechte oder Bevorzugungen genießen dürfte, sah die Realität anders aus. Natürlich wurde der Adel gegenseitig geachtet und respektiert. Ein gemachtes Bett im Austausch für ein gemachtes Bett, so einfach. Wer sich nicht an diese Regel hielt, über den konnte man sich beschweren. Die Strafen fielen stets drakonisch aus, damit sich niemand erst beschweren muss. Außer man konnte mit dem werten Sohn des Visconte el Ortega in seiner Muttersprache verkehren.
Ich wechselte daher, um seiner Hochwohlgeborenheit dienlich zu werden, ins Sorridianische. Eine Tat, die ihm merklich zusagte und unsere kleinere Streitigkeit schnell beendete.

"Verzeiht bitte, werter Visconte. Wie hätte eine bloße Ordenskriegerin, wie ich, denn nur ahnen können wem sie gegenübersteht?"
Ich hielt ihm meine Hand hin, stand selbst auf.

Überrascht von meinem plötzlichen Sprachumschwung schaute der junge Wissenschaftler deutlich entspannter drein, nahm sofort mein Angebot an und ließ sich aufhelfen. Mit beiden Händen klopfte er den Staub von seiner Kleidung.
"Ihr! Ihr sprecht, momentan, das ist doch auch ein .. natürlich ist es das. Ein patrischer Dialekt. Sagt etwa, kommt ihr auch aus meiner Heimat?"
Ich nickte knapp.
"Wenn das so ist, dann, dann .. sei euch verziehen. Ich verlange dennoch, dass ihr euch auf der Stelle identifiziert. Es erklärt sich schließlich nicht meine Person gegenüber euch. Am Ende tragt ihr immer noch Silvanische Kutte!"

Mit einer seichten Verneigung erklärte ich mich gegenüber dem Herren. Ebenso bot ich ihm an, dass wir gemeinsam seine Bücher aufheben können. Erst ein wenig zurückhaltend, dann aber einlenkend, nahm er an. Stück für Stück schlugen wir die geknickten Seiten halbwegs gerade und stapelten die Bücher auf einem Tisch inmitten des Raumes.

"Amélie da Broussard, was sucht ihr hier an diesem Himmelsfernrohr?" fragte er nach unserer kleinen Aufräumaktion.

"Lediglich den Biblius Otto-Karl Truntz. Ich habe eine Nachricht für ihn. Solange dieser Sturm aber wütet, werde ich ihn vermutlich nicht finden können." Ich deutete mit ausgestrecktem Finger auf den mittlerweile schlammverwüsteten Innenhof zwischen den Gebäuden. Der Regen prasselte weiterhin unablässig auf die Erde nieder. Blitz um Blitz traf auf den Boden, selbst wenn der Abstand zwischen den Donnerschlägen immer länger wurde.

"Dann setzt euch so lange mit mir. Wie ihr richtig ahnen könnt, ist der Biblius zumeist in der Bibliothek. Es kommt selten vor, dass ich nicht im Tasperin verkehren muss. Ihr seid mir daher eine willkommene Abwechslung, Amélie da Broussard. Bleibt solang und lasst mich erzählen. Zuhören tue ich ungern, und ein guter Erzähler bin ich allemal. Heute habt ihr sogar ausreichende Gelegenheit euch das Thema meines Wirkens selbst auszuwählen."
Der junge Adlige strahlte über beide Ohren, dazu lag dauerhaft ein Ausdruck einer gewissen Überlegenheit und Arroganz auf seinem Gesicht. Die herabblickende Art seiner Wortführung bedarf  vermutlich keiner besonderen Erwähnung mehr.

"Wäre eure Exzellenz so gut und mir würde mir von den letzten Geschehnissen in Patrien berichten?"

Mit einem schauderhaften Grinsen, das nun wirklich eine Mischung aus Wahnsinn und wahnwitziger Euphorie zeigte, schaute er zu mir herüber.
"Wie könnte ich euch diesen Wunsch verneinen, Silvanerin? Niemals könnte ich, nicht als Mann höchster Bildung. So höret mir genau zu, ich dulde keine Unterbrechung.
Nachdem unsere Truppen in Fallice eingefallen waren und dort das südlichste Herzogtum Validonia bis auf den letzten Staub niedergebrannt haben, kam es zu einigen taktischen Missgeschicken. Die entsandten Truppen wurden, so wahr es Deyns Wille ist, überrascht und abgeschnitten. Offenkundig kam es zu einigen blutigen Gemetzeln, in denen die Fallicer als endgültige Verlierer hervorgegangen sind."
Er knirschte etwas mit den Zähnen.
"Es wäre jedoch falsch uns als Sieger darzustellen. Manch ein völlig ahnungsloser Historiker oder Chronist meint, dass niemand etwas von diesem Kampf gewonnen hat. Sie stellen selbst uns als Verlierer dar. Narren sage ich! Narren! Wir haben unserem Feind gezeigt, dass wir nicht länger mit uns umspringen lassen. Wir haben diese fallicischen Rebellen aus ihren Gebirgen und Ziegendörfern getrieben. Wir haben ihnen gezeigt, dass man das friedfertige Patrien nicht ungehindert angreifen darf! Wir haben ihnen bewiesen, dass südlich von Validazgebirge und Almasee keine Aufstände geduldet werden, schon gar nicht aus dem Norden!"

Visconte el Ortega fasste sich theatralisch an die Brust. Er zog seinen Hut mit der anderen Hand für einen Augenblick ab, schluchzte hinein und stülpte ihn sich wieder auf den Hut. Ich sah mir seine Schauspielkunst nur schweigend an.
"Aber unabhängig davon wurde das Aquädukt südlich von Olapaso fertig gestellt. Ein meisterliches Bauwerk sage ich euch, als wäre es von mir selbst entworfen worden. Aber dank Deyns Wille kenne ich den obersten Architekten sogar entfernt. Die Einweihungsfeier war wirklich phänomenal. Nur geladene Gäste durften auf das Areal, fast ausschließlich gehobene Bürger und der Adel. Einige Priester der Sorridianischen Kirche weihten die unteren Steinsäulen mit Weihwasser und schlossen sich dann dem ausgiebigen Gelage an. Ein Fest, sage ich euch, ein Fest. Aber bei solcherlei werdet ihr nicht einmal als Wache auf der Gästeliste landen."
Er lachte kurz in seine Faust hinein, winkte dann direkt ab und schwallte weiter vor sich her.
"Hinter dem Festzelt sollen sie sogar einige der diebischen Arbeiter gehangen haben. Ich hätte zu gern bei ihrer Verbrennung zugesehen, aber offenbar hat man die Kadaver sorgsam außerhalb unserer Augen entsorgt. Nunja, ansonsten war es eine gute Ernte im Güldental und auch die Weine sollen hervorragend gereift sein. Ich habe mir ein Eichenfass gefüllt mit einem guten roten Tropfen hersenden lassen. Mein Herr Vater schrieb mir, dass es bald eintreffen sollte. Vielleicht lasse ich euch auch ein halbes Gläschen kosten, schließlich können nur echte Zungen aus dem Land der Sonne guten Geschmack erkennen."
Er holte tief Luft und musterte mich eine Weile. Ich nutzte diese Chance, schließlich wusste ich nicht, wann meine nächste kommen würde. Hatte er einmal seinen Redefluss erreicht, war es schwierig ihn zu bremsen. Unnötigen Ärger wegen eines patrischen Adligen wollte ich mir ebenfalls nicht noch weiter einhandeln. Zuletzt hätte ich deswegen wirklich mit ihm anstoßen müssen oder noch länger seinen ausufernden Erklärungen lauschen dürfen.
Seine Berichte waren nicht gänzlich uninteressant, doch in dieser Form nicht das, wonach ich suchte. Ganz im Gegenteil.

Ich sprang urplötzlich aus meinem Stuhl auf, schaute mich ein wenig aufgeschrocken um. Mit meinen Augen suchte ich keinen bestimmten Punkt. Mir war nur im Sinn irgendetwas fernab des Visconte zu fokussieren und dann "Habt ihr das auch gehört?" zu sagen.
Natürlich war außer dem niederplätschernden Regen und dem Krachen des Donners kein Geräusch zu vernehmen gewesen. Mein kleines Manöveur erzielte jedoch seine Wirkung. Fragend blickte er sich ebenfalls um, sah teilweise sogar ein wenig erschrocken aus.
"Was? Was soll ich gehört haben?"
Ich legte den Finger auf die Lippen. Mit langsamen und gewagten Schritten trat ich auf die Tür zu, legte beide Hände an den Türgriff und wagte einen Blick in den Gang.
Leise, unbedingt so leise, dass er es nicht hören konnte, murmelte ich letztlich die Antwort auf seine Frage. Dann verschwand ich zum Ende des Ganges.
"Den Regen."


Und genau dieser war mir mittlerweile egal geworden. Ich löste den Riemen an meinem Rundschild. Mit beiden Händen hob ich es über meinen Kopf, damit es mir wenigstens ein bisschen Schutz gewährte, während ich über den stellenweise völlig überfluteten Innenhof lief. Jeden Schritt versuchte ich doppelt so fest zu setzen, um nicht auszurutschen. Nebenher musste ich aufpassen, dass ich nicht doch in eine der tiefen Senken trat und ein nasses Bein riskierte.

Natürlich passierte es. Vielleicht der kleine Ausgleich für meine Flucht vor wenigen Augenblicken. Mit dem rechten Bein stampfte ich direkt an den Rand einer Senke, schlitterte diese mit dem Bein hinab und fand mich beinahe bis zum Knie in einer schlammigen Pampe wieder.
Angewidert zog ich mein Bein aus dem Wasserloch. Die Feuchtigkeit hatte bereits jegliche Stoffschichten und die Rüstung ohnehin durchdringen. Meine Kleidung klebte an der Haut, doch war es nun bereits geschehen. Ich zog mein Bein mit einem großen Schwung aus seinem feuchten Gefängnis. Dann kämpfte ich mich weiter, wenngleich deutlich langsamer und vorsichtiger, bis zur Bibliothek durch.

Als ich an der Tür des großen Backsteingemäuers ankam, wurde mir direkt die Tür geöffnet.
"Schnell, schnell, hinein mit euch. Hinein mit euch."
Eine Ordensschwester und zwei Bedienstete brachten mich in den von mehreren Ölfeuern erhellten Empfangsraum. Sein Boden war halbwegs trocken gewischt, an der Seite standen mehrere Stühle und mit braunem Wasser gefüllte Eimer herum. Ein weiterer Helfer kam mit einem Stapel Tücher hineingelaufen und begann sogleich hinter mir aufzuwischen. Währenddessen verhalfen mir die freundlichen Domenicaner aus meinen Beinplatten. Sie schienen nicht zum ersten Mal jemanden schlammige und rutschige Beinschellen abzuschnallen, zumindest hatten sie auch sogleich ein paar Tücher zum Trocknen parat. Ich nahm mir meine Zeit und wischte Schlamm und Regenwasser aus Körper und Haar. Dann, nachdem meine Hose und meine Stiefel wenigstens notdürftig am Ölfeuer getrocknet waren, bat ich um den Biblius Otto-Karl Truntz. Ihn erwartete schließlich ein Eilbrief aus Zandig, wegen dem ich extra durch dieses fürchterliche Regenwetter gelaufen war.

Mit einem tiefen Nicken bat mich die Ordensschwester ihr zu folgen. Meine Stiefel stellten sich nach wenigen Schritten als immer noch zu feucht heraus, sodass ich sie auszog und lieber barfuß durch die Hallen lief. Man sah mir diese kleine Unhöflichkeit aufgrund des wirklich beeindruckenden Unwetters vor der Tür zu meinem Vorteil ohne große Diskussion nach.
Entlang mehrerer langer und bis zum Anschlag gefüllter Bücherregale mit einigen Arbeitsplätzen und etwa zwei Handvoll Schreibtischen für die Transkription folgte ich der älteren Dame. Dann wies sie mir den Weg zwei Treppen hinauf. Die hölzernen Gebälke waren schon etwas in die Jahre gekommen und quietschten bei jedem meiner Schritte auf. Meine Hand ließ ich über das alte Holz streifen, auf dem sich bereits eine kleine Staubschicht angesetzt hatte.

Auf dem ersten Treppenabsatz blieb ich kurz stehen, um meinen Blick über das erste Stockwerk gleiten zu lassen. Mehrere kleine Balkone voller mit Schriftrollen gefüllter Regale grenzten hier die großen Zeichentische voneinander ab. An diesen saßen mehrere junge Dame, die allesamt mit metallenen Werkzeugen und eigens angefertigten Zeichenmaterialien Karten der Sterne anfertigten. Manch eine von ihnen war vielleicht gerade ein wenig älter, als Anna. Mit hauchfeinen Zeichenstiften setzten sie Punkt um Punkt auf den Sternenkarten, um dann mit Lineal, Zirkel und anderen Werkzeugen den nächsten Punkt auszumessen.

Ich setzte meinen Weg nach oben fort und kam im zweiten Stockwerk, kurz unter dem Dachboden. an. An der Westseite des Gebäudes lag ein langer Gang mit mehreren voneinander abgetrennten Arbeitszimmern, die vermutlich den Würdenträgern des Archivariums gehörten. An der Ostseite saßen wiederum zwei junge Damen vor einem Teeservice. Sie waren gerade in eine redselige Unterhaltung vertieft und dabei sich Tee nachzuschenken. Vorsichtig schauten sie zu mir herüber, besonders auf meine nackten Füße.
Entschuldigend schaute ich zurück.
"Werte Damen, wärt ihr so gnädig mir mitzuteilen, wo ich den Biblius finde?"

Zwei ausgestreckte Finger wiesen mir einen Weg, den sich jeder vermutlich denken konnte. Der Biblius saß in einem der geräumigeren Arbeitsräume auf einem großen Eichenstuhl ohne jeden Stoff- oder Lederbezug. Durch ein kleines Fenster an der Innenwand sah er mich bereits an, bevor ich anklopfte. Weit lächelnd sprang der grauhaarige, dünne Mann auf. Seine rauchige Stimme entstand vermutlich durch jahrelangen intensiven Konsum des Tabaks, der in der Luft des Raumes lag. Seine Augen wirkten ein wenig glasig, wenngleich ihr blauer Schein noch immer erhalten war. Was Biblius Otto-Karl Truntz aber wirklich auszeichnete war die große Tätowierung auf seiner Stirn: Ein siebeneckiger Stern mit kleinen Beschriftungen auf Alt-Sorridianisch.

Bevor ich ihn fragen konnte, oder er eine Vorstellung zuließ, kam er auf seine Gesichtsverzierung zu sprechen.
"Ich weiß, dass es mittlerweile zwölf Himmelskörper mitsamt der Sonne im Zentrum sind. Als ich dieses Bildnis als junger Knabe habe machen lassen, waren wir noch nicht so weit. Oder ich noch nicht."
Er grummelte ein wenig vor sich hin.

Mit einem Lächeln wollte ich ihm die schlechte Laune nehmen.
"Ehrenwerter Biblius, seid begrüßt. Ich bin Amélie da Broussard, vom Sôlaner Orden. Ich bringe Euch einen Brief aus Zandig."
Mit diesen Worten verneigte ich mich knapp und übergab ihm den mittlerweile einmal halb gefalteten Briefumschlag. Sein Siegel war dennoch ungebrochen geblieben. Auch der Umschlag war alles in allem noch unversehrt.

"Her damit" grummelte er zurück.
Biblius Truntz besah den Umschlag, rupfte ihn dann ohne jegliche Vorsicht an der Seite auf. Er zog das schneeweiße Papier heraus und legte es auf den Tisch.
"Oh, der ist von Vico!"
Seine Stimmung wandelte sich sogleich. Auf seinen Lippen erschien ein leichtes Lächeln, als er sich den Brief von "Vico" zu Gemüte führte.

Ich fragte vorsichtshalber doch nach, obwohl ich ihn eigentlich erst nicht stören wollte.
"Sagt, habt ihr Sir Saltzbrandt gerade Vico genannt?"

"Ja, natürlich. Vico und ich sind alte Kindheitsfreunde. Unsere Arbeiten haben eigentlich nichts mehr miteinander zu tun. Aber hin und wieder schicken wir uns doch Briefe, um in Kontakt zu bleiben."
Stolz hielt er mir den Brief entgegen. Dieser war so gar nicht das, was ich von einem persönlich zu übergebenden Brief aus der Londanor Tempelfeste erwartet hätte. "Vico" begrüßte "Öttchen" ausgiebig und erkundigte sich dann nach dem körperlichen Zustand seiner drei Fahlgebirgler Hunde. Er schrieb von gemeinsamen Kindheitstagen, in denen die beiden in der Kurmark umhersprangen und miteinander spielten. Mehrere Ausflüge an nahegelegene Bäche und Seen mit ihren Vätern und den verbliebenen Großeltern, besonders zum Angeln und Muschelsammeln, hatten die beiden offenbar als Kinder zusammengeschweißt. In ihrem kleinen Heimatdorf gab es nicht wirklich viel, womit man sich die Zeit vertreiben konnte Aber sie hatten einander. Es wirkte schon fast, wie ein rührende Geschichte auf mich. "Vico und Öttchen". Man darf hier nur nie vergessen, dass es sich um den Hochmeister der Sôlaner und einen Biblius des Bibliaris handelt. Wir alle tragen aber vielleicht noch einen kleinen Rest Kind in uns? Manchmal ist es wohl besser so.

Sir Saltzbrandt lud seinen Kindheitsfreund im kommenden Jahr nach Zandig ein. Er würde für alle Transporte und Unterkünften Sorge tragen. Eine Reitereinheit würde zurück nach Zandig reisen und ihn auf dem Weg mitnehmen. Otto-Karl hatte nur sein Reisegepäck rechtzeitig bereitzustellen und den nächsten Brief von Sir Saltzbrandt abzuwarten.
Erst sah ich den Sinn in einer persönlichen Zustellung nicht. Wohlmöglich wollte Victor Saltzbrandt nur sichergehen, dass der Brief auch wirklich ankam. Oder aber er wollte verhindern, dass er in falsche Hände geriete. Jemand, der ihm oder den Sôlanern böses wollte, würde sicher nicht vor einem seiner wenigen verbliebenen Freunde Halt machen. Gewissermaßen verstand ich ihn, selbst wenn es jetzt ohnehin zu spät war sich über diesen Umweg zu beschweren.

Nachdem ich den Brief auf Geheiß des Biblius auch gelesen hatte, strahlte mich dieser mit einem zufriedenen Lächeln an.
"Danke, dass ihr hergekommen seid. Es freut mich von Vico zu hören. Wir sind so weit voneinander entfernt, seitdem ich nicht mehr in der Kurmark bin. Hier aber kann ich die Sterne beobachten, wann immer ich will. Wären da nicht diese schrecklichen Stürme."

"Habt ihr hier öfter mit solchen Wetterlagen zu kämpfen?"

"Ja, natürlich, schaut nur heraus. Ständig ist der Hof wegen dem Regen überflutet und der Weg in die Stadt unpassierbar. Die Wassermassen stauen sich am Fahlgebirge und gehen dann hier über unseren Köpfen nieder. Dafür ist an anderen Tagen der Himmel so klar, wie anderswo nie. Auf unserem Berg können wir den Sternen beim Wandern und den Planeten beim Aufgehen zusehen. Ich würde euch, wie allen Besuchern, einen Blick durch das Himmelsrohr anbieten, aber aktuell mussten wir die Tore schließen.
In letzter Zeit regnet es fast jeden zweiten Tag, dafür verschwinden die Wolken kurz darauf völlig. Es ist vermutlich ein Geben und Nehmen in dieser Hinsicht."
Er zuckte mit den Schultern.
"Sagt, Schwester des Sôlerben, was ist euer Geburtsmonat? Ich erzähle euch etwas über euren Himmelskörper."

Ich lehnte mich ein wenig nach vorn, um seiner rauen Stimme besser lauschen zu können. Der Biblius zündete sich derweil seine Pfeife an, nachdem er ein wenig Tabak nachgekippt hatte.
"Ich bin ein Kind des Weidemonds, unter der Hand des Heiligen Revan geboren. Nichts, was zu meinem späteren Werdegang passt. Immerhin besitze ich wohl seine Standhaftigkeit." Ich lächelte vorsichtig zu Otto-Karl Truntz herüber.

"Der Weidemond? Ich verstehe, euch gehört damit der Caballus."
Der Biblius beugte sich vor, zeigte mir seine Stirn. Mit dem Zeigefinger deutete er auf den Pfeil nördlich der Sonne. Seine Tätowierung mag eigenartig sein, doch bot sie zumindest eine kleine Darstellung der ersten sieben Planeten.
"Caballus ist der erste Planet vor der Sonne, wenn ich hier das Heliozentrische Weltbild heranziehen darf. Doch auch in der alten Sichtweise ist der Caballus der Erste gewesen. Kaum ein Himmelskörper dreht sich so schnell, wie er. Mit dem bloßen Auge kann man ihn nicht sehen und selbst mit dem Himmelsrohr ist er schwer auszumachen. Gefühlt entwischt er einem sofort. Er sieht aus, als hätte man das Fegefeuer auf einem Planeten ausgekippt. Feuer und Glut beherrschen den Reiter, wie er auch genannt wird. Was euch vielleicht mehr interessiert ist die Bedeutung des Caballus, nicht?"

Ich nickte vorsichtig. Er hatte schließlich keine Ahnung, dass ich einst vor Caballus stand. Das uns die Himmelskuh einmal durch den Raum der Planeten getragen hat. Das ich sie alle mit eigenen Augen sah.
Ich habe die unausgesprochenen Schrecken selbst erlebt. Vor Jahren haben sie meinen Geist einst zerrissen. Mittlerweile wiegen sie als schwere Bürde nach, der ich nicht mehr entfliehen kann. Es ist ein Wissen, dass ich niemals preisgeben darf. Egal, was kommt. Egal, was passiert ist. Nur das Schweigen bewahrt. Und so bleiben die Risse erhalten. Risse, die niemals heilen werden und dürfen.

"Der Caballus lässt euch schließlich zu dem werden, was ihr seid. Intelligent, redselig, überzeugend, allen voran aber hoffnungsvoll. Er lässt euch die Hoffnung mitbringen, Schwester des Sôlerben. Lasst sie nur nicht fallen."
Truntz lächelte mir weit zu, nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.
"Ich lasse Elisabetha ein Zimmer für euch bereiten, dann könnt ihr die Nacht hier bleiben. Ich berichte nur über einen Himmelskörper am Tag, wenn ihr mehr hören wollt, kehrt Morgen zurück. Solange steht euch die Bibliothek natürlich zur Verfügung, ihr habt mir schließlich den Brief von Vico gebracht. Elisabetha sollte in der Empfangshalle sein, sprecht einfach mit ihr."

Ich bedankte mich höflich bei dem Domenicaner-Mönch und trat die schweren Stufen der Treppen wieder hinab in das Erdgeschoss.
Die Hoffnung also? Ob ich sie nicht schon längst fallengelassen hatte, das fragte ich mich. Woher sollte ich das nur wissen? Ich wusste an manchen Tagen nicht einmal mehr, warum ich immer weiter machte. Hoffnung nenne ich das jedenfalls nicht.

Mein Zimmer entpuppte ein spärlich ausgestattetes Schlafgemach im Keller der Bibliothek. Aneinandergereiht lagen hier mindestens zwanzig dieser Räumlichkeiten, eigentlich gedacht für all diejenigen, die zu lange in den oberen Stockwerken in Büchern stöbern, um dann noch durch die Dunkelheit zu laufen. Das mit frischem Stroh eingedeckte Bett war halbwegs gemütlich und bot mir ausreichend Ruhe für die Nacht. Vorher stellte ich natürlich sicher, dass auch Yuki einen verträglichen Stellplatz unter einem Vordach bekam. Auch er sollte nicht die ganze Nacht im Regen verbringen müssen.

Als ich das Licht der Kerze ausblies, ging ich auf beiden Knien nieder und faltete die Hände zum Gebet. Mit einem nachdenklichen Blick gen Decke sprach ich ein einfaches Abendgebet.


Deyn Cador,
du Allmächtiger Herr über die Ordnung
und Vertreiber des Chaos,

Bitte erhöre unsere Worte,
unsere Bitten und Wünsche,
die wir jeden Abend an unseren Betten,
Tischen und Türen an dich richten.

Wir flehen nicht nur um Schutz vor dem Chaos,
nein, auch um gefüllte Bäuche,
ruhige Nächte und einen sanften Aufstieg zu dir.

Dafür kommen wir regelmäßig zusammen.
Huldigen dir.
Kämpfen in deinem Namen.
Vetreibe das Chaos in unseren Herzen.

Und wir bitten dich – nimm auch diejenigen wieder in deine Reihen auf,
die das Licht aus den Augen verloren haben und sich der Dunkelheit zugewandt haben.
Wahre Reue soll wahre Güte und Erlösung erleben.

Halte mich auf deinem Pfad,
egal wie weit ich von ihm abkomme,
stets für dich streitend,
niemals für mein eigenes Dasein laufend.

Bringe dein ordnendes Licht wieder zu mir,
nachdem die Dunkelheit sich über,
mich und mein Leben gelegt hat,
nur um,
gerettet zu werden.

So wie du es uns stets zeigtest.
Deyn Cador, du Allmächtiger Herr,
halte deine Schützende Hand über uns und so werden wir deine Worte weitertragen,
hinaus, in alle Lande.

Amen.




Am nächsten Morgen rüstete ich mich wieder an, nahm einige Bissen eines getrockneten Stücks Hirsch aus meinem Proviantsack und trat vor die Bibliothek. Strahlender Sonnenschein schien auf die tiefen Pfützen des gestrigen Unwetters hinab. Die Sonnenstrahlen reflektierten in alle Richtungen, ließen den Gebäudekomplex hell erstrahlen. Ich atmete einige Male tief ein und aus. Ich genoss diesen Geruch des niedergefallenen Regens, der darauffolgenden Sonne und des naheliegenden Gebirges. Auch wenn sie mich an nichts besonderes erinnerte, fühlte sich die Frische in der Luft gut an.

Bevor ich meine Reise gen Süden fortsetzte, drehte ich noch eine Runde um den Lehrkomplex. Ich beobachte mehrere Gruppen von Sternenforschern in den Lehrsälen, sah einem Dozenten eine Weile bei den Ausführungen seiner neuesten Entdeckungen zu und schaute dem Treiben bei der Öffnung der Sternenwarte zu. Die großen Schiebetore mussten von jeweils fünf gewachsenen Männern mit langen, herabhängenden Seilen und großem Kraftaufwand aufgezogen werden. Nachdem sie das erste der beiden schwerfälligen Tore aufgestemmt hatten, ließen sich alle erschöpft ins Gras fallen. Erst nach wenigen Minuten konnten die strammen Männer weitermachen und das zweite Tor ebenso öffnen.
Der Dozent schrieb hingegen in einer Seelenruhe mit einem Kreidestift eine Theorie um den Magnolienstern an eine große Tafel. Zuerst malte er den Stern selbst, dann einige Striche und Verbindungen zu anderen Systemen. Ich konnte seinen Ausführungen zwar nicht zuhören, aber offenbar musste er neue Sternenformationen erkannt haben. Vielleicht hatte er auch einfach nur neue Sternenbilder im Namen der Silvanischen Kirche geformt. Mit genügend Vorstellungsvermögen konnte man schließlich allerlei Formen in und zwischen den vielen Himmelskörpern in der Nacht erkennen. Wer lag nicht als Kind auf einer feuchten Wiese und hat in die Sterne gestarrt? Jeder kennt vermutlich die Zeichen des Bogners, der edlen Dame oder auch des großen Wals. Irgendwo tauchen sie immer in den Sternen auf, selbst wenn wir es uns nur vorstellen.

Als ich genug gesehen hatte, zog ich die nächsten Briefe unter der Brustplatte hervor. Sie würde ich nur an vorbestimmten Stellen abgeben müssen. Ihre Empfänger benötigten keine persönliche Zustellung.
Nachdem ich auf Yuki aufgestiegen war, trieb ich ihn in einen Trab in Richtung Süden an. Mein Ziel war der Morgenstrom, über den ich auf die Prage gelangen wollte. Nach dem Abstecher in Auenthal wäre es ein langer Umweg durch Tasperin geworden, den ich nun mit einem einfachen Trick umging. Zugegeben, nicht jedem Sôlaner wäre diese Reise in dieser Form möglich gewesen. Vermutlich hätten es die wenigsten meiner Kameraden vermocht meinen Weg einzuschlagen, aber meine Herkunft und alte Ordenszugehörigkeit zahlen sich eben doch manchmal auf.
Anstelle einer Reise in den Westen Tasperins oder nach Silventrum würde ich Sorridias Norden durchqueren und dort ein Schiff nach Olapaso besteigen.

Alte Heimat, ich komme.




RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 26.02.2021


XXVIII – Auf in die Heimat

[Bild: W9a00Ha.jpg]

Klarschrift der Texte:

Briefe für:
- Thomas Lunasteer, Sternbruch
- Karolina zur Ringtsa, Rabenfels
- Otto-Karl Truntz, Archivarium Planetarus
- Walter Bastensturm, Stagfar
- Lothar Orville, Weitenfeld
- Renate Hohnifer, Grenzbastion Ostwyrz
- Bohemund de Corastella, La Jonquera

Es bleibt nur noch ein Brief. Vielleicht das wichtigste Schriftstück dieser Reise?

Nachdem ich die La Jonquera erreicht habe, können mir hoffentlich meine ehemaligen Brüder helfen Buji Beg zu finden. Es scheint mir aber so, als würde ich offenbar einen längeren Halt in Patrien einlegen. Schließlich stehen nicht nur die Unbekannten Lande vor allerlei Problemen...
- Amélie

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01.07.1352 - Morgenstrom erreicht; mit dem Schiff über die Prage.

06.07.1352 - Dank günstiger Winde bereits in Weitenfeld. Brief abgeliefert, Aufgabe erfüllt.

14.07.1352 - Hinter der sorridianischen Grenze in Padarak angekommen.

29.07.1352 - Entlang der Sonnenhöhe nach Matolés gelangt.

04.08.1352 - Von Matolés nach Fortifa übergesetzt.

12.08.1352 - Olapaso; wieder zurück in Patrien. Noch ein paar Wochen bis zur Jonquera.

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RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 10.03.2021


XXIX – Patrien

12.08.1352

Meine Vorfreude saß tief. Sogar so tief, dass ich schon mehrere Stunden vor meiner Ankunft in Olapaso am Bug des kleinen Schleppkahns stand und den Wellen bei ihrem regelmäßigen Schlag gegen die hölzernen Bordwände zusah. Die warme Luft der letzten Wochen tat mir spürbar gut. Meine Albträume wurden zwar nicht weniger, dafür aber viel erträglicher. Vielleicht gewöhnte ich mich auch einfach nur immer mehr sie. An diese unerwünschten Begleiter an meiner Seite. Die nächtlichen Schrecken kamen schließlich, wie sie gingen. Ohne Warnung und Ankündigung. Immer dann, wenn ich mich endlich niedergelegt hatte.
Selbst wenn sich in der warmen Mittagssonne alle um mich herum eine Auszeit genehmigten, blieb ich lieber wach. Die Hängematten auf dem Oberdeck des kleinen Schiffs waren unter der knallenden Hitze stets gefüllt, doch ich hielt krampfhaft meine Augen auf. An einigen Tagen bat man mich sogar das Steuer gerade zu halten. Warum hätte ich ablehnen sollen? Ich hätte doch ohnehin nur in meinen Gedanken gewühlt. So kam mir die rege Ablenkung gerade recht.

In den letzten Wochen und Monaten war ich quer durch Tasperin gereist. Ich habe die Grenze zu Sorridia überschritten und den über die Sonnenhöhen fliehenden Fallicern zugesehen. Ich bin auf die Isla de la Riqueza übergesetzt, um von dort aus auf dieses kleine Boot zu gelangen. Und hier war ich nun, kurz vor Olapaso. Einst bin ich von hier aus in die Neue Welt aufgebrochen. Die Unbekannten Lande waren mein Ziel, es muss bald zehn Jahre her gewesen sein. Oder gar noch länger?

Ich verdanke diesen lebhaften zehn Jahren die mitunter prägendsten aber auch grausamsten Eindrücke meines Lebens. Sie haben sich in meinen Kopf gebrannt, wie ein heißes Eisen in den Rücken nostrischer Sklaven. Ich werde sie nie wieder los. Egal was ich dafür tue. Egal wie sehr ich es mir jeden Abend wünsche. Es gibt kein Entkommen. Nie wieder.

Das Licht Sôlerbens brachte mich mehrfach an den Rand meines Verstands. Es führte mich in den hohen Norden Leändriens, wo sich alles für mich änderte. Und heute bringt es mich dahin, wo alles begann. Für viele ist die Heimat ein Ort des Rückzuges, der in sich gekehrten und sicheren Rückkehr. Für mich fühlt es sich eher, wie eine nostalgische Erinnerung an. Mich erwarten hier lediglich die neuen Aufgaben, die mein neues Leben mit sich brachte. Niemand hat all die Jahre auf mich gewartet. Kein behütetes Heim, keine liebende Familie und nicht einmal ein warmes Feuer warten im Zweifel auf mich.
Aber ist das Grund genug aufzuhören?
Nein, das darf es nicht sein. Ich habe geschworen weiterzumachen.
Dieses Buch ist Zeuge meines Willens. Wenn ich in den Abgrund springen muss, werde ich es wieder tun. Zuerst galt es jedoch in Olapaso anzukommen und von dort aus Bohemund de Corastella aufzusuchen.


Die Hauptstadt Patriens war trotz der hochstehenden Mittagshitze lebhaft gefüllt. Überall liefen die in das feurige patrische Rot gekleideten Damen umher. Die Kirchenglocken des Doms von Olapaso hallten im Zentrum der Stadt, während am Hafen Dockarbeiter um den nächsten Auftrag bangten. Waren wurden ausgetauscht und zugleich, nur wenige Meter weiter, neue Theaterstücke aufgeführt. Wenn mich eines an dieser Stadt schon immer gereizt hat, dann ihre Lebhaftigkeit. Das Feuer des Landes brannte hier besonders hell.
Egal ob es die wunderbaren Malereien an den Hauswänden, die ausufernden Blumensträuße in den eigens errichteten Parks oder die öffentlich präsentierten Werke der Dichter waren, für einen Augenblick gelang es mir meinen Sorgen und Nöten in den Gassen der Stadt zu entfliehen. Für wenige Stunden vermochte ich meinem Kopf die Ruhe vor dem Sturm zu vergönnen, die sich in den letzten Monaten wieder angestaut hatte. Es mag keine große Erleichterung gewesen sein, mit Sicherheit auch nicht die Rettung meines angeschlagenen Geistes, aber ein Moment des Aufatmens. Der Ruhe.
Ich flanierte über den Platz des Wohlstandes im Zentrum Olapasos, ging entlang der Kanäle und über weitläufige Brücken. Ich ruhte mich im Schatten großer Kirchenbauten aus und spazierte über die mit farbenfroh aufblühenden Büschen verzierten Alleen. Durchgehend konnte ich diesem lieblichen Dialekt des Sorridianischen lauschen, den ich über die Jahre vermissen gelernt hatte. Die Sprache meiner Kindheit und Jugend verlor sich in den Straßen und an den Häuserwänden, zeigte sich jedoch immer hörbar. Dieser lebhafte, aber gleichzeitig angespannte Ton in den Stimmen, er war allgegenwärtig. Für ein paar Stunden lag ein Lächeln auf meinen Lippen. Für ein paar Stunden konnte ich einfach nur genießen.

Bis sich das echte Leben in seiner vollen Härte wieder ankündigte. Mit einem krachenden Blitzschlag wurde ich aus meiner Ruhe gerissen. Die ersten Wolken zogen über den Kantabrilla-Felsen vor der Bucht Olapasos auf und würden sicher bald die Stadt eingeholt haben. Es war keine besonders schwierige Wahl, ob ich Warten oder vor dem Gewitter davoneilen würde. Yuki stand schließlich bereits gesattelt an meiner Seite.

Entlang der Ausläufer des Validazgebirges führte mich meine Reise über die ausufernden Wald- und Wiesenlandschaften, die ich ebenso lange Jahre nicht mehr zu Augen bekommen hatte. Einst war dies meine Heimat. Einst waren dies die Lande, in denen ich geglaubt habe alles Wichtige für das Leben gelernt zu haben. Hier zwischen den hohen Pappeln und Buchen trat ich in den Dienst des Heiligen Mikael. Ich war noch ein kleines Kind gewesen, aber offenbar war es der richtige Pfad für mich. Jahrelang kundschaftete ich vor hohen Reisen in diesen Wäldern Wege und Gefahren gleichermaßen aus. Nur ich und mein treues Ross, das galt schon damals, vor bald zwanzig Jahren.
Ich folgte hohen Würdenträgern oder brachte sie gleich selbst zu ihrem Ziel. Ich sorgte für Sicherheit und brachte Wohlstand. Das war zumindest der falsche Gedanke, den wir Ordenskrieger uns selbst auferlegt und eingeredet hatten. Damals und auch heute noch.
Doch heute weiß ich weitaus besser, was ich getan habe.
Warum.
Wofür.
Und vor allem für wen.

So sehr ich jedoch über diese alten Zeiten nachdenke, erinnere ich mich immer auch an glückliche Jahre. Je länger ich bleibe, desto mehr glaube ich selbst an meine Rückkehr und deyngewollte Anwesenheit hier, in Patrien. Es mögen nur meine eigenen Hirngespinste und Wünsche sein. Ich bin mir sogar sehr sicher, dass es so ist. Aber ich war froh wieder das saftig grüne Gras unter meinen Stiefeln zu spüren. Ich war froh wieder die alte Rinde der Bäume abzureißen, um mir damit ein Feuer zu entzünden. Verdammt, ich war froh alleine in diesen Wäldern meiner früheren Jahre  unterwegs zu sein. Und das ganz ohne Grund. Es fühlte sich einfach gut an. Beruhigend. Selbst, wenn es nicht im geringsten beruhigend war.

Auf der anderen Seite war ich auch die Schiffsreisen langsam Leid. Ich konnte diesen einfältigen Brei, den die Tasperiner Frühstück nennen, nicht länger sehen. Hier war ich aufgewachsen. Hier wurde mir gezeigt, was richtig und was falsch ist. Wie ich Höflichkeit und Respekt an den Tag lege, bis mich jemand herausfordert. Hier konnte ich stets Zeigen, was ich kann. Musste mich nicht hinter falschen Formulierungen und Verklausulierungen verstecken. Niemand interessierte sich dafür, ob ich nun eine Stunde mehr oder weniger an diesem lauwarmen See sitze oder nicht.
All das, was ich durchgemacht habe. All das Wissen und all die Erfahrungen, die ich sammeln musste, sie kamen nur wegen meiner eigenen Unfähigkeit zu Stande. Weil ich nicht erkennen konnte, wonach ich wirklich gesucht habe. Was mir wirklich wichtig war. Ich war sicher zu naiv. Zu abenteuerlustig und idealistisch.
All diese Ideale habe ich mittlerweile wieder ablegen müssen, gar verloren. Abenteuer suche ich mir schon lange nicht mehr aus, sie kommen ganz von selbst zu mir. Fordern mich heraus oder werden mir von oben auferlegt. Es gibt nur einen Weg – und der führt immer weiter nach unten. Ich könnte hier einfach Sitzen bleiben können. Ich hätte einfach Zusehen können, wie alles zusammenbricht und mich das Inferno meines Lebens einholt. In diesem Augenblick wollte ich. Ich war kurz davor, wirklich. Unter diesem sanften Rascheln der grünblühenden Büsche, mit beiden Füßen auf dem saftigen Boden, umgeben von aufgegangener Lukulie und Nachtiris. Unter dem Gezwitscher der Vögel, der Luft und Vertrautheit meiner Kindheit, dem Wohle meiner Muttersprache. Es wäre vermutlich nicht einmal unmöglich gewesen. Nicht einmal so abwegig, dass ich nur noch davonlaufe.

Aber am Ende konnte ich – mal wieder – nicht. Ich traute mich nicht. Ich habe meine Rolle, ich muss sie ausfüllen. Zu viele Erwartungen ruhen auf mir. Zu tief habe ich mich in dieses Geflecht aus Macht und Lügen begeben. Ich sehe es jedes Mal mit eigenen Augen. Ich spüre, wie ich nicht mehr davonlaufen kann, obwohl ich manchmal nichts lieber tun würde. Ich bin nicht mehr das junge Mädchen, welches sich ihrer Worte verweigert und stattdessen Taten sprechen lässt. Ich bin nicht mehr die feurige Verfechterin des Glaubens, die ich einst war. Stattdessen diene ich der Ordnung mit all ihren grausamen Facetten. Ich gebe mich ihr endgültig hin und folge blind, denn ohne sie bin ich einfach ein Nichts.


Drei Tage blieb ich im Sattel sitzen. Von Sonnenauf- bis zum Sonnenuntergang trug mich Yuki über die Ebenen südlich von Olapaso. Und irgendwann zu einer späten Nachmittagsstunde erhob sie sich in der Ferne – die La Jonquera. Dieser riesige Berg mit seiner ebenso großen Festung bot immer noch denselben spektakulären Anblick, den er seit Jahrhunderten auf alle Mikaelaner und ihre Besucher ausübt. Ich hatte schon am gestrigen Tage meinen alten, mittlerweile mehr als ausgefransten, Wappenrock des Mikael über Yukis Rücken gelegt. Ich war zwar keine seiner Dienerinnen mehr, aber ihm doch immer noch fest verbunden. Aus dem Löwenkopf wurde die Sonne Sôlerbens. Sie mag auf meiner Brust prangen, doch im Herzen konnte ich mich nie gänzlich von meiner Vergangenheit abwenden. Wer kann das schon?

Entlang mehrerer Wachpatrouillen gelangte ich bis zum vorliegenden Torhaus mit seinen beiden großen, überwältigenden Ecktürmen. Das zur Hälfte hinabgelassene Eisengatter durfte ich ohne jeden weiteren Kommentar der an beiden Mauern stehenden Wächter passieren. Ich vernahm zwar das Tuscheln der Wachen, konnte aber nicht hören, worüber sie sprachen. Im Vorhof stieg ich vorsichtig ab und brachte Yuki zum neben der Wachkaserne liegenden Stall. Seit meiner Abreise hatte sich hier offenkundig nur wenig verändert. Der ein oder andere Stein mag ausgetauscht worden sein, doch standen die Gebäude noch immer dort, wo sie einst errichtet wurden. Selbst die Tränken für die Pferde hatte man keinen Meter weit bewegt. Und meine Stiefel landeten in dem selben altbekannten Schlamm, den man schon oft aus diesem Hof entfernen wollte, jedoch stets nach dem nächsten Regenschauer wieder unter den Füßen hatte.

Aus dem offenstehenden Stalltor kam ein junger Bursche auf mich zugelaufen. Er muss keine zehn Jahre alt gewesen sein, doch mit seinem strubbeligem, tiefbraunen Haar und den grünblauen Augen lächelte er mir sogleich aufgeweckt zu. Er griff sich Yukis Zügel, erkundigte sich nach Name und Rasse und führte ihn in die Stallung hinein. Ich wandte mich dagegen zur anderen Seite des Gebäudes und klopfte höflich an die Tür der Wachkaserne. Die hölzerne Tür wurde daraufhin einen Spalt weit aufgezogen. Ein Paar müder brauner Augen schaute mich aus der Lücke zwischen Türrahmen und Tür direkt an.
Das Augenpaar blinzelte zwei Mal. Beim ersten Mal noch recht gelangweilt, beim zweiten Mal plötzlich aufgeweckt und hellwach. Mit einem lauten Knall wurde die Tür vor mir zugeworfen. Selbstverständlich war ich nach dieser eigenartigen Reaktion ein wenig verunsichert. Bevor ich jedoch noch ein zweites Mal meine Faust gegen die Tür erheben konnte, trat ein etwa 30 Jahre alter Ordensritter des Heiligen Mikael aus der Tür heraus.

"Seid Willkommen an der La Jonquera. Dürfte ich um euren Namen bitten?" Er musterte mich langsam. Blickte mich erst von Kopf bis Fuß, dann von Fuß bis Kopf, an. Seine Augen blieben einen Moment an meinem Wappenrock hängen, bevor er ein freundliches Lächeln aufsetzte.

"Amélie da Broussard. Ich habe hier .. " Ich pausierte meinen Satz kurz und griff mit der Hand unter meine Brustplatte. Da unterbrach mich jedoch der Ordensritter schon.

"Dann seid ihr es tatsächlich. Seid Willkommen, ihr werdet bereits erwartet. "Er lächelte mir durchaus freundlich zu, ergriff meine Hand und schüttelte sie mit ausgeprägtem Druck.

Nach einem bestätigenden Nicken meinerseits folgte ich meinem Empfang hinein in das steinerne Gemäuer der La Jonquera. Wir schritten über Steinstufen, die vor hunderten von Jahren in den Felsen gearbeitet wurden. Über Holzplanken, die man erst vor wenigen Wochen neu verlegt haben muss. Über Höfe, in denen sich die Hitze der hoch über Patrien stehenden Sonne staute. An seiner Seite lief ich in das große Treppenhaus gleich hinter dem ersten Wachposten und stieg mehrere Meter hinauf auf das Felsplateau. Am eigentlichen Tor der La Jonquera, mindestens doppelt so groß, wie das untere Eingangstor mit seinem danebenliegenden Stall, mussten wir kurz warten. Alle fünf Eisengatter waren nach oben gelassen worden, die Wachmannschaft spielte vergnügt an einem Tisch Karten darunter. Einer von ihnen wurde aufgefordert die Burg selbst zu betreten und den Hochmeister des Ordens zu unterrichten. Mit anderen Worten: Bohemund de Corastella sollte meine Ankunft mitgeteilt werden.

Wir verbrachten die Wartezeit in einer schattigen Ecke des Tores. Bisher beschränkte sich meine Begleitung auf wenig- bis nichtssagende Floskeln oder beschrieb mir die vorgenommenen Veränderungen an der La Jonquera, um das Gespräch aufrecht zu erhalten. Auf einmal stockte er jedoch, sah mich eine Weile und an und wechselte in ein ganz anderes Thema.
"Stimmt es, was man sagt? Das ihr .. einen echten Dämonen erblicken musstet und besiegt habt?"
Er wirkte aufgeregt, fast schon mit einer kindlichen Neugier gesegnet. Ich dachte einen Moment darüber nach etwas in die Richtung von "Nicht nur einen" zu antworten, aber solchen Zynismus können andere an den Tag legen. Damit hätte ich seine Fragerei sicher nur weiter befeuert. Daher beließ ich es bei einem einfachen "Ja, leider.", einem vielsagenden Nicken und kurzen Blick in den Himmel.

Nach einem entschuldigenden Gemurmel verstummte er wieder für kurze Zeit. Um die Stimmung offenkundig zu retten, setzte er seine Erklärungen über die baulichen Veränderungen an der inneren Burg fort. Hier hatte man einige Steine ausgetauscht, dort gleich eine ganze Mauer neu errichtet. Das Dach der Kathedrale wurde erst vor wenigen Jahren zu weiten Teilen erneuert worden, weil während einer Messe ein Messdiener von einem herabfallenden Dachziegel beinahe erschlagen worden sei. Jetzt arbeite der geistig versehrte Mann in der Küche mit und schäle den ganzen Tag lang Kartoffeln.

Ich nickte nur gelegentlich auf, eigentlich war ich sogar sehr froh, als wir endlich tiefer hineingebeten wurden. Über die linke der beiden Treppen stiegen wir in den Bereich hinauf, den man unter patrischen Ordensrittern als wahren Teil der La Jonquera bezeichnet. Jenen Ort, an dem Glaube und Ordnung zusammenkommen. Jenen Teil der Burg, an dem das Leben und die Huldigung Deyn Cadors zusammentreffen. Vor mir erstreckte sich der große Innenhof mit seinen vier massiven Ecktürmen, der schiefergedeckten Kathedrale und der aus dem Felsgestein der Jonquera errichteten Langhalle. Auch die kleinen Gebäude schienen sich nicht wirklich verändert zu haben, waren mir in diesem Moment aber gleich. Ich bat den Ordensritter um ein kurzes Gebet in der Kirche, bevor er mich zu de Corastella brachte.

Die großen Kirchenportale aus hellem Buchenholz standen einen Spalt weit offen. Mein Begleiter ließ mich allein eintreten und blieb vor der Tür zurück. Er steckte sich seine Pfeife an, signalisierte mir, dass ich mir Zeit lassen könnte. Nickend schritt ich in die einerseits farbenfroh verzierte, anderseits aus einheitlichem Grau errichtete Kirche. Besonders die Kirchenschiffe waren mit aufwändigen Stuckarbeiten und Wandmalereien gestaltet worden. Bildnisse des Heiligen Mikael waren an nahezu allen Wänden aufgebracht, selbst wenn deren Farbe schon lange vor meiner Abreise abzublättern begann. Die eher wenig künstlerisch begabten Ordensritter versuchten mehrfach diesem Verfall Einhalt zu bieten, gaben aber irgendwann entmutigt auf.
Im Zentrum der Kathedrale hing immer noch die riesige metallene Glocke mit ihrem eindrucksvollen Namen "La Esparantia" – die Hoffnung. Es braucht alleine drei gestandene Messdiener, um ihren gigantischen Klöppel gegen die Metallwand zu schwingen. Ihr eindrucksvoller Ton verhallt erst in den mehrere Meilen weit entfernten Dörfern Meridia und Ignó.

Gegenüber der Türen war die goldene Orgel hinter dem kleinen Holzaltar aufgebaut. Oftmals übten die Chorknaben hier für die nächste Messe mehrere Stunden am Tag, bis ihre Kehlen nur noch ein raues Krächszen hervorbrachten. Am Abend erhielten sie dafür einen aufgebrauten Ingwersud mit einer Kräutermischung, um am nächsten Morgen wieder mit goldener Stimme die Lobpreisungen Deyn Cadors singen zu können.
Heute jedoch war es ruhig in der Kirche. Keine Chorprobe und keine verzweifelten Malerarbeiten. Während meines Besuchs waren nur wenige Ordensritter und ich im Inneren des Gebäudes. Und so begab ich mich in die zweite Reihe, setzte mich auf der Holzbank nieder und faltete meine Hände um mein Holzkreuz.
Leise murmelnd suchte ich mir Rat und Hilfe an Deyns Seite. Sicher nicht zum letzten Mal.


Oh Deyn Cador,
du Herr über Ordnung und alles Wissen,
gib mir den Rat, den ich suche.
Gib mir die Hilfe, die ich brauche.
Lass deine Jünger nicht allein zurück,
denn sind wir blind und so naiv.

Ohne deine Führung,
finden wir niemals den Weg.
Und ohne Weg verlieren wir
den Anschluss an deine Herrlichkeit.

Oh Deyn Cador,
steh uns allzeit an der Seite.
Lasse dein güldenes Licht erleuchten,
damit wir auch aus dem tiefsten Dunkel
wieder in dein wärmendes Wohl gelangen.

Höre unser Flehen und unsere Bitten,
steh uns allzeit bei uns sorge für uns,
denn nur so werden wir an deine Seite kehren
und deiner Güte nahekommen.

Lass deine naiven Jünger nicht blind zurück,
so flehen wir auf Knien um deinen Beistand.
Wir sind dir dankbar für jede Führung und
jedes Stück Glückseligkeit, das du uns
offenbarst.
Und so unendlich dankbar für das Wohl,
dass du uns erst bereitest.
Ohne dich wären wir nur blinde Kinder in
einer gefährlichen Welt,
doch mit deiner Führung erfüllen wir unseren
Zweck.

Oh Deyn Cador,
du Herr über Ordnung und alles Wissen,
gib mir den Rat, den ich suche.
Gib mir die Hilfe, die ich brauche.
Lass deine Jünger nicht allein zurück,
denn sind wir blind und so naiv.
Amen.


Ich verschnaufte noch eine Weile, nachdem ich die Worte leise von meiner Zunge gleiten ließ. Für einen Augenblick fiel mein Blick über die alten Malereien, die Zeugnisse längst vergangener Zeit. Sie brachten Kunde über alte Geschichten unserer Welt, über unsere Entstehung und Verbreitung. Sie zeigten das, was einst gewesen war. Jedoch niemals das, was noch sein wird. Prophezeiungen waren noch nie die Stärke des Heiligen Mikael. Und doch unterhielten wir eine lebhafte Schriftkultur, in welchen genau diese entschlüsselt und gedeutet wurden. Ich erinnere mich an eine Prophezeiung aus meiner Kindheit, in welcher Deus Ex auf Athalon käme und sich jeden seiner Diener einzeln anschaute. Jede Seele, die er als unrein oder befleckt erachtete, schluckte er mit einem grölenden Biss hinab. Die Bedingungen waren, soweit ich mich entsinne, recht komplex. Jedenfalls würde sicher auch ich gefressen werden, ein beängstigender Gedanke.

Nach meiner Pause trat ich wieder vor die Türen der Kirche. Der Ordensbruder nahm einen letzten Zug aus seiner Pfeife. Den Geruch nahm ich als intensiv, aber irgendwie verbrannt war. Ihn schien jedoch nichts daran zu stören. Mit einer kurzen Schlagbewegung leerte er den glimmenden Tabak auf dem Boden aus und ging voran.

Über den saubergekehrten Innenhof liefen wir auf einem Weg aus breiten Holzbohlen direkt auf die Langhalle des Ordens zu. Ihr Bau mag von den Hofbauten aus dem hohen Norden Leändriens inspiriert sein, doch befand man vor langer Zeit, dass ein einziges Gebäude sinnvoller sei als viele kleine Arbeitsstätten. In der großen Halle wurde auf Bodenhöhe ein ausufernder Versammlungssaal errichtet, darüber lagen in mehreren Stockwerken Wohn- und Arbeitszimmer. Auch eine Waffenkammer, Forschungsstätten und Skriptorien waren alle unter einem Dach zusammengebracht worden. Bohemund de Corastella hatte seine Räumlichkeiten noch immer im vierten Stock, wie damals, als er mich auf diesen verhängnisvollen Auftrag schickte. Gewissermaßen der Anfang vom Ende.

Entlang mehrerer tuschelnder Gruppen von Ordensrittern, einigen von entliehenen Mönchen der Sorridianischen Kirche gehaltenen Unterrichtsstunden der Erweiterten Theologie sowie der kleinen Sattelwerkstatt brachte mich mein Begleiter direkt vor die Räumlichkeiten des Hochmeisters. Er bat noch einmal um ein wenig Nachsicht, man würde gleich zu mir kommen. Ich dürfte mich solange an dem bereitgestellten Obst und Wasser bedienen und den Ausblick auf die massiven und nicht einnehmbaren Außenmauern genießen.
Damit verabschiedete er sich.

Ich griff mir tatsächlich recht schnell eine der saftigen Birnen, nahm einen großen Bissen aus ihr und begutachtete die aufgehängten Ölgemälde an der Wand. Eines zeigte Bohemund de Corastella mit seinem Helm unter dem Arm vor der La Jonquera. Im Hintergrund wehten unzählbar viele Banner im Wind, die meisten mit der Flagge Patriens oder dem Wappen des Mikael. Gleich daneben war eine Landschaftsmalerei aufgehängt worden. Vor einem meeresblauen Hintergrund waren die Weißen Säulen im Süden Patriens von der Landseite gezeichnet worden. Eine ungewöhnliche Perspektive, sind diese Klippenfelsen doch gerade von ihrer Seeseite so beeindruckend und bezeichnend. Ich biss noch einmal in die Birne und drehte mich zu auf mich zukommenden Schritten im Gang um.

Begleitet von zwei Wächtern trat Bohemund de Corastella um die Ecke, direkt auf mich zu. Bohemund war ein hellhäutiger, blauäugiger Glatzkopf, der kein einzigiges Haar im Gesicht hatte. Seit jeher ist er im Orden des Heiligen Mikael zu Patrien zu Hause, Gerüchte besagen, dass er sogar im Feldlager eines Kreuzzuges aufgewachsen sein soll. Mit einem Handzeichen sandte er seine beiden Begleiter davon und nahm mich mit einem vorsichtigen Handschlag in Empfang.
"Amélie da Broussard, ich begrüße dich zurück, Schwester des Mikael. Es ist einige Jahre her ich weiß. Victor Saltzbrandt kündigte deinen Besuch an, ich freue mich sehr. Komm, gehen wir hinein."

Ich schüttelte verlegen die Hand des Hochmeisters, erwiderte ebenso meine Begrüßungen und bestätigte ihm alles, was er hören wollte. Hinter der nächsten Tür kamen wir in sein Arbeitszimmer. Vor einem eher kleinen und sauber organisierten Schreibtisch standen mehrere Stühle verteilt. An der linken Seite des Raumes erfüllten vollgestellte Bücherregale die Wände, an der rechten Seite waren mehrere Karten auf eine Korkwand gepinnt und mit kleinen Steckzeichen markiert worden. Bohemund trat jedoch sogleich um den Schreibtisch herum, an eine dahinterliegende Tür.

"Gehen wir auf den Balkon, dort ist es angenehmer. Gerade für solche Unterhaltungen."
Entlang eines kleinen Ganges, der sich hinter der zweiten Tür offenbarte, liefen wir an seinem Schlafzimmer und zwei weiteren kleinen Kammern vorbei. Dahinter eröffnete sich ein überdachter Balkon auf dem etwa fünf Personen Platz gefunden hätten. Zu zweit konnten wir uns um den mit Erfrischungen bestückten Tisch ausbreiten. Wir setzten uns gegenüber voneinander nieder, ich nahm einen letzten Bissen aus der Birne und blickte zu Bohemund de Corastella herüber.

"Sei Willkommen, Schwester. Bevor wir uns der Vergangenheit und dem Ausblick widmen, sei so gut und gib mir bitte den Brief. Du wirst ihn ja sicher trotz des langen Weges nicht zu sehr geknickt haben?"

Noch immer kauend griff ich unter meine Rüstungsplatte und zog den mittlerweile mehrfach gefalteten Umschlag hervor. In den Monaten meiner Reise versuchte ich ihn so gut zu erhalten, wie es mir eben möglich war. Das Siegel war noch immer unversehrt und auch der Umschlag noch nicht aufgerissen. Ich legte den Brief zwischen uns auf dem Tisch nieder.
Bohemund griff sich den leicht vergilbten Umschlag, warf einen kurzen Blick auf das Siegel der Sôlaner und öffnete den Brief anschließend mit seinem kleinen Finger. Erst riss er eine Ecke ab, dann zog er mit dem Finger einmal durch das feine Papier. Unsauber fiel der Umschlag auseinander. Davon jedoch völlig unbekümmert widmete er sich dem wesentlich bedeutenderen Inhalt.
Während ich auch das letzte Stück der Birne herunterschluckte und meinen Blick über den wuseligen Innenhof schweifen ließ, las er. Vor uns absolvierten unsere Brüder und Schwestern ihre Übungen, lieferten Waren aus und bereiteten sich auf das nächste Mahl vor. Große Körbe mit Zutaten wurden von einem Eselskarren in das Küchenhaus transportiert und dort von einigen Mägden sogleich begierig in Empfang genommen.

Ich lehnte mich ein wenig nach vorn, ließ das Geschehen auf mich einprasseln. Bohemund faltete den Brief nach wenigen Minuten des Lesens wieder zusammen, nickte knapp auf und schaute zu mir herüber.
"Ich verstehe, ich verstehe. Nun gut, berichte mir von deiner Reise. Du bist über die Nostrische See gekommen, Schwester?"

"Ja, in der Tat. Ich habe Tasperin im Osten des Landes durchquert, bin dann über die sorridianische Grenze und von Caldagro auf die Isla übergesetzt. Von Fortifa aus reiste ich auf direktem Weg nach Olapaso, von dort hierher. Sorridia und Tasperin bauen ihre Grenzanlagen aus. Die Länder sind angespannt. Und in Fallice sieht es aus nicht wesentlich hoffnungsvoller aus. Flüchtlinge und Kriegstreiber streiten sich um jeden Flecken verbliebenen Landes."

"Um unsere Nachbarländer steht es zunehmend schlechter, das mag wohl sein. Auch wir haben unsere eigenen Probleme, Schwester, Amélie. Sie mögen ganz anders gelagert sein, aber am Ende vereint uns unsere gemeinsame Not. Ich weiß, dass du diesen Mann namens Buji Beg suchst. Saltzbrandt hat mir davon berichtet. Wir werden ihn finden, sei dir unbesorgt. Aber lass uns zunächst in die Vergangenheit blicken."

"Die Vergangenheit?" Ich lehnte mich wieder ein Stück im Stuhl zurück, sah eher fragend zu ihm. Seine beruhigenden Worte direkt am Anfang gaben mir viel Hoffnung. Er war weder abgeneigt mir zu helfen noch Buji Beg mit Hilfe der Sorridianer suchen zu lassen. Das es kein einfaches Unterfangen werden würde, war uns beiden bewusst. So groß meine Hoffnungen gewesen sein mögen, so groß war auch meine Befürchtung. Er würde sicher nicht aus reiner Nächstenliebe Geld, Zeit und Ressourcen für mich investieren. Wie alles in diesem Leben hatte auch diese Vereinbarung ihren Haken.

"Die Vergangenheit, ja. Im letzten Kreuzzug haben du und deine Sôlaner mir einen großen Dienst erwiesen. Ihr habt nicht nur tapfer, an vorderster Front, in den Schlachten mitgekämpft sondern auch im Feldlager wie in den taktischen Kriegsplanungen brilliert. Gerade du, Schwester Amélie, bringst den notwendigen Verstand mit. Was davor passiert ist .. ist bitter gewesen, aber .."

Ich unterbrach ihn, merkte, wie alte Erlebnisse wieder aufkochten. Eine Mischung aus Trauer und Wut stieg in mir auf. Ich krallte mich an den Stuhllehnen fest. "Bitte. Nicht jetzt. Nicht .. darüber."

Bohemund nickte verstehend. "Ich hätte dich gerne wieder hier. Aber wir wissen beide, dass anderes für dich bestimmt ist. Jedenfalls will ich eine alte Schuld begleichen und dir wenigstens so weit helfen, wie es uns Dienern des Mikael eben möglich ist. Melde dich bei unsern Schneidern, dem Rüstungsschmied und auch unseren Waffenmeistern. Sie werden alles Weitere mit dir besprechen, Amélie."

"Seid bedankt, Großmeister. Mir wäre es jedoch lieber, wenn wir uns auf die Suche nach Buji Beg fokussieren. Er hat etwas, was ich brauche. Unter allen Umständen."

"Ich werde mein Wort halten und dir helfen, aber .. ", er zögerte für einen kurzen Augenblick, "ich brauche auch deine Hilfe. Ich kenne nicht jeden einzelnen Schrecken den du gesehen hast, ich weiß auch nicht, was du alles durchmachen musstest. Aber ich weiß, dass du deine Aufgaben ernst nimmst. Das du die Verbindungen zwischen Ordnung und Chaos spürst. Das du eigenständig die richtigen Entscheidungen treffen kannst. Patrien braucht dich, Amélie. Es gibt etwas, was du tun musst."

Ich ließ meine Arme hängen, löste meine krampfhafte Haltung im Stuhl. Patrien braucht mich? Ich kann nicht auch noch einem Land bei seinen Problemen helfen. Ich kann mich nicht noch mehr für Dinge verausgaben, die weit über meinem Kopf entstehen. Ich will nicht noch tiefer in den Abgrund springen.
Doch wer tut es sonst? Gibt es sonst niemanden, der sich für die Menschen opfert? Der sich in voller Hingabe seines eigenen Lebens beraubt, um das zu schützen, was ist? Denn all das was, was danach kommen mag, ist so viel schrecklicher. Ich will nicht noch mehr Schrecken erleben. Aber wer, wenn nicht ich? Das Feuer Sôlerbens brennt solange weiter, wie wir gegen das Chaos in den Ring treten. War das nicht der Eid, den ich geschworen habe? Alles zu verteidigen, sollte es auch mein Leben kosten? Einst habe ich mir alles zugetraut, mittlerweile jedoch...
Deyn, es ist zum Heulen. Für die wunderbaren Seiten dieser Welt. Für die großartigen Menschen auf Athalon. Für all diejenigen, die weiter ihr Leben in Ruhe und Frieden trotz meines Opfers leben können. Für sie. Für sie, deren Scheuklappen wir zu ihrem Schutze vor ihre Sinne legen, mache ich weiter.

Ich seufzte leise aus, blickte in Bohemunds klare blaue Augen. "Unter einer Bedingung – Sobald wir Buji Beg gefunden haben, kümmere ich mich um ihn."

"Selbstverständlich, Amélie. Selbstverständlich." Wir widmeten unsere Blicke den Menschen im Innenhof, sahen ihrem täglichen Dasein zu. "Sie wissen nichts von all dem. Oftmals ist es besser so. Nur wenige haben einen so starken Willen, wie du, Amélie. Nur so wenige können sich an der Ordnung festhalten und ihr überall hin folgen."
Bohemund griff eine Flasche feinsten Rotweins, nahm zwei Gläser hervor und schenkte uns beiden ein wenig ein.
"Wenn ich recht in Erinnerung habe, warst du dem Trinken nicht mehr vollständig abgeneigt? Das hier ist ein besonders guter Wein, Vino de Volantas. Ich hebe mir seine Flaschen immer für derartige Momente auf. Für die Konferenzen mit Bischöfen und anderen Geistlichen ist er zu schade, die abgestorbenen Zungen der alten Herren schmecken ohnehin keinen Unterschied mehr. Ich hoffe, du bist bereit zuzuhören und Glauben zu schenken. Denn das, was hier in Patrien vor sich geht, scheint sich bis in die höchsten Kreise zu ziehen."

Wir nahmen beide unsere Gläser in die Hand, stießen an und ließen den feinfruchtigen Wein für einen Augenblick in unseren Mündern entfalten. Danach berichtete mir Bohemund de Corastella ungefiltert all das, was er über die Geschehnisse hinter den patrischen Vorhängen der Macht wusste.  Er zeigte mir, was mich bald über zwei Jahre in Patrien festhalten würde.


28.07.1354

Ich habe Monate in den Riegen des patrischen Adels verbracht. Woche um Woche wandelte ich auf Maskenbällen, edlen Festen und Feiern. Ich ritt an der Seite großer Familien durch die Lande und suchte nach dem Kern des Unheils in meiner Heimat. Wer waren diese Menschen, die ganz frei von Moral oder Gewissen das Land unter ihren Nagel reißen wollten? Wer waren diese Wesen, die Tag und Nacht taten, was ihnen beliebte?

Ich musste oft mehr menschlichem als chaotischem Schrecken ins Auge sehen. Auch ich bin tiefer in den Fluss der Sünden gestiegen. Uns allen ist bewusst, dass viele Menschen ein falsches Spiel spielen. Das wir oftmals nicht das tun, was wir sagen. Das wir lügen und selbst unseren Freunden ein Messer in den Rücken, wenn nicht gar die Brust, rammen. Auch ich bin davon nicht befreit. Doch wer hätte gedacht, dass es auf dieser Welt noch so viel mehr dahinter gibt? Das man sich nicht einmal mehr sicher sein kann, ob das Gegenüber überhaupt noch ein Mensch und nicht längst etwas völlig anderes ist.

Ich habe getan, was ich tun konnte. Ich habe gegeben, was ich geben konnte und ausgelöscht, was ich auslöschen konnte. Lange Zeit wusste ich nicht einmal, was  Bohemund und mein gemeinsames Ziel war. Oftmals hoffte ich, dass ich doch am nächsten Morgen eine Benachrichtigung erhalten würde und endlich nach Buji Beg suchen könnte. Sie blieb bis vor wenigen Tagen aus. Er hatte es mir nicht gesagt. Er hatte gehofft, dass ich meinen "Dienst für Patrien" zuerst erfüllen werde. Sie wussten schon lange, wo er sich befindet. Sie wollten es mir nur nicht sagen, weil sie mich hier brauchten.

Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich besonders wütend sein soll. Ich konnte ihm keine Worte entgegensetzen, sondern schüttelte nur meinen Kopf. Ich glaube, dass er meine Enttäuschung verstanden hat. Und dennoch, ich verstehe ihn. Ich verstehe ihn wieder und wieder. Ich hätte es vermutlich nicht anders gemacht. Vielleicht bin ich deswegen auch nicht wütend, sondern nehme es einfach nur hin. Was hätte ich auch anderes tun soll? All der Hass, all die Wut hätten mir zuvor ohnehin nicht geholfen. So lange er geschwiegen hatte, wäre ich genau so ahnungs- und ratlos gewesen. Ich musste ihm all mein Vertrauen entgegenbringen und bereue es nicht einmal. Ich bin wirklich nur eine liebsame Marionette, die ihren Auftrag eisern erfüllt.

Die Welt jedoch wird irgendwann hiervon erfahren. Sie wird irgendwann von all den Geschehnissen in Patrien Kunde erhalten. Sie wird verstehen, was dieses Land wirklich bewegt hat. Eines Tages wird aufgedeckt werden, was vielleicht über Jahrhunderte im Verborgenen weiterwachsen konnte. Ich für meinen Teil habe wieder dazu gelernt. Vertrauen ist hart zu verdienen und umso schneller zu verlieren. Ich spürte es, ich erfuhr es und hinterging es selbst. Es ist nicht ausreichend Platz in dieser Reise, um alle Details zu nennen oder auf jede Begegnung einzugehen.

Ich bin mir jedoch sicher, dass die Grandes de Patria eines Tages um die Welt gehen. Dann wenn ich nicht mehr schweige über all das, was passiert ist. Dann wenn Leändrien von einer Gefahr weniger bedroht wird. Damit Kinder in Frieden aufwachsen können, damit Familien ohne Angst zu Bett gehen können, damit wir am Ende alle friedlich einschlafen und in Deyns Reiche eintreten können.

Dafür mache ich weiter. Dafür halte ich die Ordnung aufrecht. Dafür recke ich mein Schild entgegen des Feindes und schwinge meine Klinge in ihre Leiber. Für die Ordnung, die diese Welt zusammenhält. Sei sie noch so verkommen oder falsch. Ohne sie wären wir alle nichts. Ohne sie würde die Welt in Flammen stehen und nicht einmal Sôlerbens Licht könnte diese Feuer ersticken.


Ich weiß nun, wo er sich aufhält. Ich werde schon bald in den Westen Sorridias aufbrechen und dort mit einigen Paladinen der Sorridianischen Kirche in Richtung der nostrischen Grenze ziehen. Dort soll er irgendwo sein. Ich werde ihn finden und holen, was mir gehört.

Zuvor holte ich jedoch noch das ab, was mir Bohemund vor über zwei Jahren angeboten hatte. Ein Ausgleich für meine Dienste, schon für die damaligen. Hätte ich es nicht angenommen, hätte er sie mir nachsenden lassen. So konnte ich mich auch bei den Schmieden, den Schneidern und ihm selbst für meine neue Kleidung, eine gänzlich neue Rüstung und letztlich vollständig neuer Ausrüstung bedanken. Trotz seines Schweigens bedankte ich mich sogar. Deyn, Amélie, der Abgrund ist ein wirklich tiefes Loch. Und du stehst fest mit beiden Beinen darin.

All diese Geschenke, dieser Versuch der Wiedergutmachung, würden mir jedoch den Rest dieser Reise erleichtern; zumal sie selbst mich wirklich edel aussehen ließen. Und irgendwo war mir mittlerweile jedes Mittel recht. Es war mitnichten keine Rüstung des Sôlerben mehr, aber .. Flaggen und Namen sind Schall und Rauch. Wie unsere Zukunft, wenn wir nicht mehr für sie einstehen.




RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 20.03.2021


XXX – Sorridia

Spätsommer 1354

Er ließ es sich natürlich nicht nehmen mich persönlich zu verabschieden. Bohemund de Corastella schritt seiner üblichen Manier in die langsam vor sich hintrocknende Matschlandschaft des unteren Torhauses. Kahlrasiert, adrett gekleidet und mit eisern-festem Blick. In der linken Hand hielt er einen kleinen Umschlag mit rotem Wachssiegel, die rechte Hand ruhte angewinkelt an seinem Schwertgürtel.
Der Stalljunge übergab mir gerade Yukis Zügel, als er an mich herantrat. Sein Gesichtsausdruck deutete ein leichtes Lächeln an, selbst wenn dies bei Bohemund nichts heißen muss. Ich würde es eher als eine leichte Reue bei einer gleichzeitig tiefsitzenden Zufriedenheit einschätzen.

"Amélie, ich weiß, dass du; dass ihr wütend auf mich seid. Ich weiß, dass ich mich nicht an mein Wort gehalten habe. Ich bin nicht nur hier, um mich von euch zu verabschieden, sondern auch förmlich zu entschuldigen. Lange Zeit habe ich euch gebraucht. Ich wollte stets Gutes für dieses Land, aber ich brauchte jemanden, wie euch. Ich kann nur um Verzeihung bitten, selbst wenn ich weiß, dass ihr mir diese nicht gewähren werdet. Es wäre in jedem Fall der falsche Weg gewesen in Schweigen zu verharren."
Er hielt mir den Brief entgegen.
"Es ist nichts Bedeutendes, wirklich nicht. Aber ich hoffe, dass ihr es als Zeichen meiner Entschuldigung anerkennen könnt."

Ich seufzte tief aus. Wirklich tief. Yukis Zügel hielt ich mit beiden Händen in einem festen Griff, während ich in Bohemunds lächelndes und zugleich leicht gen Boden gesenktes Gesicht blickte. Wir hatten uns irgendwann im Verlaufe meiner Tätigkeit unter seiner Hand auf ein Gesprächsniveau auf Augenhöhe geeinigt. Er schien, sei es aus Reue oder Schuldbewusstsein, wieder der Höflichkeit zu folgen.

"Ihr irrt euch in einer Sache, Bohemund. So sehr ihr mich innerlich erzürnt oder verletzt haben mögt, so sehr kann ich auch eine wahrhafte Bitte annehmen. Die Güte von Deyns Ordnung beinhaltet auch selbst zurückstehen zu können, sofern sie gewahrt bleibt. Ihr hattet eure Gründe, so wie ich die meine. Niemand profitiert von einem Groll, niemand wünscht sich Niedertracht. Seid wenigstens so offen und sprecht nächstes Mal gleich die Wahrheit. Ich werde niemanden alleine lassen; ich werde diese Welt nicht ihrem chaotischen Schicksal überlassen."
Ich schüttelte entschieden den Kopf.
"Nein, das werde ich sicher nicht. Und selbst wenn ich dafür weiter das Ende Leändriens aufsuchen muss, halte ich sie zusammen."

"Möge eure Reise sicher sein und ihr euer Ziel erfüllen, Amélie. Möget ihr diesen Sorridianer finden und danach der Kunde von Victor Saltzbrandt folgen. Ich werde für euch beten."
Sein Blick kletterte langsam vom verschlammten Boden wieder zu mir herauf. Bestätigend lächelte er mir zu.
"Möge Mikael dich segnen; die La Jonquera steht immer für dich offen. Ich könnte nichts anderes verantworten. Und nun geh, in Olapaso warten sie bereits auf dich."

Ich nahm Bohemunds Brief entgegen, schob ihn in eine Seitentasche meines Streitrosses und schwang mich in den Sattel. Mit einem kräftigen Schlag in die Zügel verlies ich die La Jonquera, hob meine Hand ein letztes Mal verabschiedend in Richtung meiner alten Ordensbrüder und trat den Weg nach Olapaso an.

Diese üppigen Wiesen und Wälder, gefüllt mit ihren blühenden Pappeln und Eiben durchquerte ich vermutlich ein letztes Mal für lange Zeit. Ich wollte aber irgendwann wiederkommen. Irgendwann, wenn die Wahrheit über so viele Dinge an das Licht gekommen sein wird. Es muss eines Tages passieren, da bin ich mir sicher. Ich werde einer Entscheidung nicht im Weg stehen. Die Ordnung ist nicht das Unwissen, das Chaos ist nicht die Kenntnis. Viele Entscheidungen sind komplex und undurchsichtig. Für mich steht nur fest, dass ich diejenigen aufhalte, die dem Leben und unseren Jüngern schaden wollen. Noch immer, auch nach ganzen drei Jahren auf dieser Reise, verstehe ich nicht, was vor sich geht. Ich kann noch immer nicht durchdringen, welches Zeichen Franz uns geben will. Und trotzdem setze ich diese Reise fort; denn es gibt nur einen Weg. Vorwärts. Tiefer in den Abgrund.


Meine Reise in die Hauptstadt Patriens verlief unkompliziert und reibungslos. Mir gelang es schnell auf den ausgetretenen Pfaden der Händler und Reisenden voranzukommen. Entlang der großen Stadtwälle durchquerte ich eines der Tore, um am Hafen mein Schiff zu besteigen. Ich werde hier von ausführlichen Berichten zu dieser rauen Schiffsreise absehen. Die Stürme der Nostrischen See überfielen uns, so wie mich des nachts noch immer meine Träume aus dem Schlaf reißen. Das Meer schäumte, zeigte seine ungeahnten Kräften und warf uns, wie einen Spielball, umher. Wenn ich nicht Unterdeck mit Yuki ausharrte, lag ich seekrank über der Reling. Es waren keine schönen Tage. Doch war es umso erfreulicher, als meine patrischen Begleiter mich in einer kleinen Bucht südlich des Granhojas-Massivs abliefern konnten. Ich habe noch nie in meinem Leben schneller ein Schiff verlassen, soviel sei gewiss.

Am nächsten Morgen sollte mich eine Gesandtschaft der Sorridianischen Kirche abholen und begleiten. Was Bohemund versucht hatte als Unterstützung zu verkaufen, diente nun vor allem als Aufpasser. Selbst wenn sie sich als durchaus freundliche Aufpasser herausstellen würden.
In jedem Fall wollte ich ausreichend ausgeschlafen sein, denn uns würden noch einige Tagesritte und damit auch zahlreiche Stunden im Sattel bevorstehen. In der kleinen und halb auseinanderfallenden Taverne des Fischerortes suchte ich mir jenes Zimmer, das am stabilsten aussah. Es war spärlich eingerichtet, verfügte nicht einmal über ein Fenster und kam mit einem zerbrochenen Stuhl daher. Sein Preis durfte trotzdem sogleich vorab in Cervizas beglichen werden. Das Verlangen nach barer Münze war wohl in vielen Teilen dieser Welt gleich; in dieser Hinsicht vermisste ich die Kurmark tatsächlich ein wenig. Wäre da nur nicht diese Kälte.

Mein Schlaf kam schnell. Nachdem ich einen leichten Fischeintopf gegessen hatte, warf ich mich direkt in das schartige Stroh des Betts. Ich schloss die Augen und hoffte auf eine geruhsame Nacht. Es ist lange her, dass ich hier von meinen Träumen berichtet habe. Und obgleich ich mir geschworen hatte die Zeilen dieses Buches besser zu nutzen, als nur meine Leiden zu beschreiben, will ich diesen Traum nicht auslassen. Er ist Teil meiner Seele, Teil dieser Geschichte.

Mein geschundener und schmerzender Körper erwacht in Gestalt eines in Lumpen gekleideten Kindes. Ich stehe inmitten eines Feldlagers, einer Zeltstadt im Kreuzzug. Der sandige Boden schmerzt unter meinen Füßen, so wie ich auf ihm schreite. Aus den Baracken zu meiner Linken und Rechten kommen Schreie der Versehrten. Ihre Glieder sind angeschwollen, wenn sie denn überhaupt noch vorhanden sind. In machen ihrer Leiber stecken abgebrochene Klingen, manche sind übersäht von eitrigen Beulen. Blut ist überall. Es ist eingetrocknet auf dem Boden, füllt ganze Eimer oder klebt völlig verkrustet auf der Kleidung der Leidenden.

Selbst vor Kindern macht diese schmerzhafte Szenerie keinen Halt. Jeden Schritt, den ich weiter durch dieses Lager mache, führt mir mehr vor Augen, welche Schrecken diese Menschen ausgesetzt sind. Ihre Schreie dringen mir durch die Ohren. Sie schmerzen, als würden sie meine Trommelfelle zum Bersten bringen. Hungernde Kleinkinder krabbeln an mir vorbei, losgelöst von ihren verwesenden Müttern und zum Sterben verdammten Vätern. Selbst diejenigen, denen es noch gelingt zu Laufen, können nicht helfen. Überforderte Doktoren kämpfen ohne jegliches Material um die verbliebenen Lebenden; und sind doch unfähig zu Retten. Köche haben nur noch eine Möglichkeit etwas Essbares zu bereiten; und haben doch Angst davor dieses letzte Mittel zu ergreifen. Krieger können die Menschen von ihrem Leid erlösen; fürchten aber damit auch die letzte Chance auf Rettung zu nehmen.

Es ist ein Schlachtfeld. Ein menschengemachtes Massaker über das ich schreite. Ich schaue in ihre von Trauer und Wut erfüllten Augen. Oftmals sind sie zum Weinen zu schwach, zum Wegrennen zu verwundet oder gleich beides. Ich wünschte ich könnte ihnen eine Last abnehmen. Ihnen helfen. Irgendetwas tun. Doch stecke ich auch nur in abgemagerten Knochen, die sich über den sengenden Boden schleifen. Es gibt keinen Halt für mich. Ich muss vorankommen. In jeder Nacht muss ich den Abgrund finden und hineinblicken.

Um dann festzustellen, dass es auf der anderen Seite der Schlucht nichts mehr gibt. Die heiligen Hallen haben ihr Licht verloren. Das güldene Licht ist erloschen, der Regenbogen längst vergangen. Es gibt keine Erlösung mehr. Die einzige Wahl, die uns armen Seelen noch bleibt, ist der freiwillige Sprung in ewiges Leid. Die Verzweiflung ist groß. Die Hoffnung ausgelöscht. Und immer mehr wissen keinen Ausweg mehr. Sie wagen den Sprung der Verzweiflung, lassen sich mit letzter Kraft über die Klippe fallen. Ihre Körper stürzen leblos herab, denn der letzte Ausweg ist nicht mehr die Güte. Schon lange ist sie es nicht mehr, in diesem Traum aller Träume. Es ist die Verzweiflung des Fegefeuers, für uns alle. Denn es gibt keine Wahl mehr. Die Entscheidung wurde getroffen. Das Licht gelöscht. Die Ordnung verbannt. Das Chaos hat obsiegt und ich habe nur zugesehen.

Das hier ist meine Konsequenz. Das hier ist auch mein Tun. Und deswegen kann ich nicht aufhören. Deswegen kann ich sie nicht gewähren lassen.


Jedes Mal, wenn ich diesen Traum habe, wache ich zitternd auf. Keine Perle Schweiß erfüllt meinen Körper. Nur blanke, nackte Angst. Panik. Was wäre, wenn dieses Szenario – dieses grauenhafte Übel – tatsächlich Realität wird? Würde nicht alles, wofür wir stehen und weshalb wir leben, sinnlos werden? Würden wir unseren Kindern noch ein gehaltvolles Leben wünschen, nur damit sie irgendwann sterben und mit uns an der Schlucht dahinsiechen?
Ich fürchte mich. Ich fürchte mich wirklich vor diesem Traum. Oftmals kann ich eine ganze Stunden nach ihm kaum einen Finger rühren. Ich ziehe mich zusammen, lege meine Hände um meinen Körper und muss warten. Muss spüren, dass es wieder nur dieser Traum war. Noch habe ich Zeit es zu stoppen. Noch habe ich Zeit das Chaos aufzuhalten. Aber was ist, wenn ich versage? Wenn mir andere im Weg stehen? Wenn andere das Gegenteil wollen? Weil sie in ihrer Desillusion diese Welt befreien wollen und uns damit alle mit in den Abgrund ziehen?

Ich konnte mir nicht ausmalen, was passieren würde. Ich kleidete mich an, legte meine Rüstung an meinen Körper und wartete im Speisesaal der Spelunke. Einige Stunden nach Sonnenaufgang standen zehn sorridianische Paladine auf ihren Rössern vor der Tür. Gehüllt in die wunderbaren Uniformen und Rüstungen der Kirche, gewappnet mit dem Banner des Königshauses und der Kirche, nahmen sie mich in Empfang. Ihr Anführer war ein eher schmal gebauter Mann namens Tristano Nasvega, den ich wohl vor allem durch seinen kleinen Schnurbart beschreiben würde. Ansonsten schien er mir freundlich, tatsächlich gewillt zu helfen. Er bestand jedoch darauf nur wenig Zeit zu vertrödeln.

Schon bald fanden wir uns im Trablauf gen Osten wieder. Tristano Nasvega wollte zunächst bis zum Jorméz vorstoßen und diesem gen Süden folgen. Angeblich wurde ein Buchhändler, passend zur Beschreibung des Buji Beg, schon vor einigen Wochen in einem der umliegenden Dörfer in einer Gruppierung aus Händlern gesichtet. Seine genaue Position ging anschließend verloren. Als die Sorridianer jedoch die genaue Herkunft sowie seine Flucht aus dem Gefängnis selbst während des Kreuzzuges mitbekamen, offerierten sie zeitnah ihre Hilfe.

Sie waren schon immer froh, wenn sich auch jemand anderes ihrer unliebsamen Arbeit annahm. Zugleich gab es einen sinnvollen Anreiz Präsenz im übervölkerten Süden zu zeigen. In den letzten Jahren seien immer mal wieder Gruppierungen von nostrischen Sklaven entflohen und in den Süden Sorridias gewandert. Sie hatten sich hier, im nördlichen Teil der Isla de la Riqueza, niedergelassen.

Die Landstriche verkamen oftmals, schließlich wussten die ungebildeten Flüchtenden nicht mit dem lehmigen Boden umzugehen. Sie brauchten Nahrung und plünderten dafür Wälder und Höfe, selbst die örtlichen Wachen konnten den manchmal marodierenden Horden nichts entgegensetzen. Ich bin mir sicher, dass der Paladin an einigen Stellen maßlos übertrieb. Auch diese eigentlich rechtelosen Menschen suchten nur nach einem besseren Leben. Sie wollten nicht grundlos auf den Plantagen ihrer Herren sterben, wer mag ihnen das verübeln?

Der geruhsame Ritt auf Yukis Rücken durch den Süden des herrlichen Sorridias war offenkundig keine Erholung. Dennoch konnte ich neue Eindrücke sammeln und mich vorbereiten. Denn nachdem ich Buji Beg gefunden hatte, würde ich nur noche eine Person aufsuchen müssen. Und dann würde sich irgendwann alles vor mir offenbaren. Hoffentlich.

Wir kamen vorbei an dichten Wäldern aus Steineichen, sogar echte Ölbäume wehten hier im Wind umher. Die Luft war erfüllt von aromatisch duftenden Kräutern. Manch ein Wald mag gleich einer ganzen Kräuterküche gleichgekommen sein. Die Paladine wussten sich auch an trockenen Stellen Wasser zu beschaffen, indem sie Agaven und einzigartige Kakteen aufschnitten, ihre Flüssigkeit auspressten und filterten. Sie zeigten mir, wie sie Datteln von Palmen holten und Granatäpfel zu einer wahren Leckerei aufbereiteten. Wir ließen unser Ziel nicht aus den Augen, doch waren die Männer oftmals schnell hungrig. Die ein oder andere Pause unter der sengenden Hitze tat mitunter auch unseren Pferden gut.

In ihrer Autorität schritten die Ordensritter auf Höfe und Dörfer zu, kauften oder nahmen sich einfach, was sie benötigten. Manchmal beließen wir es bei einem warmen Mahl im Dorfzentrum, manchmal baten wir freundlich um einige Vorräte. Wenn die Dörfler diese nicht freiwillig herausrückten, reichte meist das abrupte Aufstehen eines der edlen Krieger. Gefürchtet wie geliebt waren sie. Hier wohl eher gefürchtet, aber doch im Kern der Ordnung verschrieben.

Wir schritten gerade langsam in den Sätteln unserer Pferde entlang einer kleinen Straße. Ich hatte just ein Stück getrockneten Hering in den Mund genommen und davon abgebissen, als wir auf einen umherspazierenden Wachmann stießen. Seine Bewaffnung bestand aus einem simplen Langspeer, seine Rüstung setzte sich nur aus einem Leinenhemd und einem schief sitzenden Strohhut zusammen. Er winkte den Kriegern der Kirche freundlich zu, sodass wir neben ihm Halt machten.

"Deyn zum Gruße, edle Krieger der Kirche! Bringt ihr Kunde aus der Hauptstadt oder Leanopol?" fragte der von der Sonne völlig verbrannte Wachmann am Wegesrand wartend.

Tristano Nasvega ritt an seine Seite heran, hob die Zügel an. Das Pferd stoppte in vorauseilendem Gehorsam, neigte den Kopf hinab und riss einige Grashalme vom Boden.
"Deyn zum Gruße, Wachmann. Kunde bringen wir nicht für euch. Der Gottkönig bedankt sich jedoch für eure harte Arbeit. Teilt diesen Dank mit den Arbeitern im Dorf und auch eurem Priester. Ohne euch würden wir nicht in der wunderbarsten Nation der Welt leben. Sagt, Wachmann, habt ihr in letzter Zeit einige Handelskarawanen gesehen? Mich interessieren vor allem jene mit einem Buchhändler in ihren Reihen."

"Eine Karawane mit einem Buchhändler? Nein, hier ist nichts entlanggekommen. Vielleicht kann euch aber der Dorfführer in Falidera etwas sagen. Dort handeln sie weitaus öfter mit Fremden, ich komme nur aus Erváz, wir sind Bauern und haben sogar einen Schreiner." Er schüttelte bekräftigend den Kopf.

"In welche Richtung müssen wir reiten, um in das Dorf Falidera zu kommen? Teile mir bitte den Namen des Dorfführers mit, Wachmann."

Mit einem ausgestreckten Arm deutete er nach Südwesten. "Dort entlang, ungefähr eine Reitstunde, wenn ihr euch Zeit lasst. Der Dorfführer heißt Lessio, wohnt direkt am Stadtplatz. Das rote Haus."

"Möge Deyn über dich wachen, Wachmann. Richte unseren Dank an dein Dorf aus."
Mit einem Tritt in den Hinterleib seines Pferdes setzte sich Tristano an die Front der Paladingruppe. Er folgte strikt der vorgegebenen Richtung des Wachmannes und so kam es, dass wir nach einer halben Stunde schnellen Galopps in einem kleinen Dörflein ankamen. Hinter einem mannhohen Holzzaun verbargen sich etwa zwei Dutzend Hütten. Am Marktplatz erblickten wir neben einer rotgestrichenen Hütte auch eine blau- und grüngestrichene Behausung. Während sich zwei der Paladine daran machten unsere Vorräte am Marktplatz aufzufüllen, trat ich mit Tristano auf die rote Hütte zu.

Ein entschlossenes Klopfen kündigte uns an. Tristano zeigte jedoch keinerlei Muße zu warten, sondern packte direkt den Türgriff. Er stieß die Tür auf und trat ein.
"Deyn zum Gruße. Paladin Nasvega der Sorridianischen Kirche sucht den Dorfführer Lessio. Ist er zugegen?"
Seine manchmal fiepsige Stimme hallte durch den Vorraum. In einem Seitenzimmer verstummte sogleich das Lachen zweier Kinder, dafür schaute aus dem Türrahmen der Kopf einer gealterten Frau heraus. Ihr graues Haar hatte sie hinter einem weißen Kopfschleier verborgen. Ihr faltiges Gesicht verriet dennoch ihren durchdringenden und wissenden Blick. Mit langsamen Schritten trat sie in den Vorraum.
"Lessio, hm? Er muss bestimmt gleich zurück sein. Er wollte nur nach den Kräutern sehen. Kommt doch in die Feuerstube, solange bis er da ist, ich bereite euch auch einen Tee. Solch hoher Besuch kündigt sich ja nur selten an."
Sie lächelte weise auf. Sie wusste offenkundig besser, dass man einen Paladin wie Tristano nicht aufgrund seiner Unhöflichkeit belehrte. Stattdessen führte sie uns mit ihren tapsigen Schritten in ein den kläglichen Versuch eines Kaminzimmers. Mit ausgestreckter Hand bot sie uns zwei Stühle an, auf denen wir uns niederließen. Für einen Augenblick trat sie wieder aus dem Zimmer heraus.

Ich warf Tristano in dieser Zeit einen abfälligen Blick zu. Seine scharfen Augen schienen schnell zu verstehen, dass ich solche Methoden eher missachtete. In einem genuschelten Ton versuchte er sein Verhalten zu rechtfertigen.
"So geht es doch schneller. Und so machen wir es eben."
Danach trat die alte Dame wieder in den Raum. Sie stellte insgesamt vier Tonbecher auf dem zerschundenen Holztisch in der Mitte ab und goss sie alle randvoll mit kochendem, aber wohlriechendem Tee aus aufgekochtem Rosmarin. Vorsichtig setzte sie sich selbst auf einen der beiden verbliebenen Stühle.
"Ich würde dem hohen Besuch gerne Zucker anbieten, aber solche Wohltaten können wir uns nicht leisten. Lessio kommt gerade wieder zurück, ich habe ihn schon durch das Fenster gesehen. Er muss  euch sicher erspäht haben. So lange gestattet ihr mir aber sicher eine Frage, sí?"

Ich nickte sanft. "Seid bedankt für eure Gastfreundschaft, trotz unseres plötzlichen Auftretens. Eure Frage könnt ihr gern stellen."

"Oho, ein patrischer Dialekt? Ihr seid durchaus fähig ihn zu verstecken, aber nicht vor einer alten Dame, wie mir. Wie kommt es, dass eine Frau mit einer Gruppe von Paladinen reitet? Normalerweise gilt doch das Recht des Mannes oder wurde es endlich aufgebrochen?"

Tristano schüttelte entschieden den Kopf, schnitt meinen begonnen Satz sofort ab.
"Sie gehört nicht zu uns. Sie ist nur ein Gast. Niemals würden wir das hohe Recht der Krieger Deyn Cadors aufgeben wollen. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass wir edlen Paladine nur aus den wahren Recken des Gottkönigs bestehen. Nur so sind wir in der Lage unbeirrt die Aufgaben und Ziele des Gottkönigs unter Deyn Cador zu erfüllen."
Der Paladin wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, wedelte bereits wild mit den Händen, als ein älterer Mann mit langem Krausbart in das Zimmer trat.

"Entschuldigt bitte, senioré und seniorá, Lessio ist schon für euch da."
Er lächelte freundlich, stützte sich mit der Hand auf der Stuhllehne ab und setzte sich ebenso nieder. Der alten Dame neben ihm gab er einen vorsichtigen Kuss auf die Wange, dann neigte er sich vor.
"Ich bin Lessio, was darf ich für euch tun?"

"Dorfführer Lession", begann Tristano, "wir sind auf der Suche nach einer Karawane."

"Oh, einer Karawane? Von der haben wir hier ständig welche, junger Mann. Manche bringen uns neue Werkzeuge, manche nehmen uns unsere bescheidenen Erzeugnisse ab. Oftmals sind des dieselben Händler. Aber seitdem dort unten in Nostrien so einiges vor sich geht, sind es mehr Wagenkolonnen geworden, sage ich euch. Es bringt dem Dorf aber eine Menge Geld und so will ich sie nicht verschmähen."

"Gab es in den letzten Wochen oder Monaten eine Karawane mit einem Buchhändler in ihren Reihen? Einem hellhäutigen Sorridianer, der vielleicht gar einen Turban trug?"

Lessio griff sich an das Kinn, begann es vorsichtig zu massieren. Das Knistern seines langen Bartes vernahm ich dabei sogar über die freundlichen Worte seiner Frau, die zwischendurch fielen. Er überlegte eine ganze Weile, setzte sich im Stuhl zurück. Dann nahm er einen Schluck des wirklich schmackhaften Rosmarintees, neigte sich wieder vor. Irgendwann hob er einen Finger.
"Ich erinnere mich. Es gab einmal einen Buchhändler unter ihnen. Giovanni hatte ihn dabei, auf einem eigenen Wagen. Sie sind nach Süden aufgebrochen. Tief in den Süden, wohin genau er allerdings wollte, kann ich euch nicht mehr sagen. Der Anführer ist jedenfalls ein geprägter und gezeichneter Mann mit langen Haaren und einem schmucken Bart, so will ich meinen."

Tristano stand daraufhin auf. Ohne auch nur ein Wort des Dankes an das Ehepaar zu richten, stampfte er aus der Hütte hinaus. Ich versuchte mich wenigstens für ihn zu entschuldigen und ein paar Münzen des Dankes dazulassen, die die Dörfler jedoch mit einer abweisenden Hand zurückgaben. Als ich auch endlich draußen ankam, war die gesamte Gruppe bereits wieder im Sattel.

So hatte auch ich keine Wahl und folgte ihnen geschwind. Mit einem einheitlichen Peitschen der Zügel wurden die Pferde in einen seichten Galopp versetzt und verließen das Dorf nach Süden. Wir trafen schon bald auf den gewaltigen Jorméz, folgten seinem Flussverlauf und durchquerten mehrere an seinem Ufer liegende Dörfer. In liebenswürdigen Ortschaften mit lyrischen Namen, wie Pastori, Ksarterio oder Masquera, trafen wir nicht auf die begehrte Karawane. Nach einigen Stunden im Sattel beschlossen die Paladine für diesen Tag zu rasten.

Am rauschenden Ufer des Jorméz wurden mehrere Feuer entzündet und Schlafsäcke ausgerollt. Die Pferde wurden an den abstehenden Ästen manchen Baumes festgebunden, blieben jedoch immer in Reichweite. Eine Nachtwache wurde eingeteilt, an der ich zum Glück nicht teilnehmen musste. Am knisternden Feuer vergingen unsere Gespräche über die Herkunft der Paladine und meinen Werdegang. Die meisten von ihnen stammten aus gut situierten Familien auf der Isla, einige wenige kamen aus den weniger vermögenden Regionen Caldagros. Sie alle hatten eine strikte Erziehung und einen noch strikteren Militärdienst genossen, nur um dann in den Rängen der Kirche zu landen. Sie schienen nicht unzufrieden zu sein, ihr Stand war angemessen und weitaus höher, als der vieler einfacher Arbeiter. Stand bedeutete in Sorridia so vieles, aber war eben nicht das Gleiche, wie Zufriedenheit.

Ich erzählte ihnen von meinen Reisen, meinen Erlebnissen. Und irgendwann drifteten wir ab. Obgleich ich sie erst seit wenigen Tagen kannte, teilte ich mit manchem dieser Männer all das, was ich bereue. Und sie mit mir, all das, was sie bereuen. Eine verlorene Liebe, den versäumten letzten Besuch an der Seite ihres Vaters oder einfach nur eine falsche Entscheidung. Sie nahmen einen Weg und konnten ihn nie mehr rückgängig machen.
Aber sie konnten eine Entscheidung treffen. Es war nicht sinnlos. Es war nicht vergebens. Sie lebten ihre Leben, leisteten ihren Beitrag und werden dafür irgendwann belohnt werden.

Diese Belohnung entfällt, wenn die Ordnung nicht mehr bestehen bleibt. Sie entfällt, wenn ich meine Rolle nicht erfülle. Denn dann wird auch jede Entscheidung sinnlos. Jede Konsequenz beinhaltet keine Abwägung mehr, denn am Ende erleiden wir alle dasselbe Schicksal. Und das kann nicht der Sinn des Lebens sein. Wir unterwerfen uns. Fügen uns. Bleiben innerhalb des von Deyn festgesetzten Rahmens der Ordnung. Wenn dieser Rahmen aber nicht einmal mehr besteht, was dann? Was, wenn jemand alles zerstört und die Konsequenzen untragbar sind? Wenn dieser Rahmen gerade ist, was uns Halt gibt? Lassen wir die Feuer an seinen Ecken auflodern. Denn nur dann bleibt die Ordnung bestehen.

In jener Nacht hatte ich wieder denselben Traum. Meine Begleiter erzählten mir, dass mir irgendwann die Augen zugefallen seien. Sie haben mir ein Stoffbündel unter den Kopf geschoben und eine Decke über den Leib gelegt. Ich hätte so tief und fest geschlafen, wie ein Neugeborenes. Aber in Wahrheit waren da wieder diese fürchterlichen Bilder. Mein schmerzender Körper und die sterbenden Seelen. Keine Güte und keine Heilung. Es machte mich fertig, ich zuckte, verkrampfte und wollte mich fast übergeben.


Und doch ging die Sonne von Neuem über der Isla de la Riqueza auf. Denn solange ich noch stehe, kann ich es noch verhindern. Wir können alle Stücke zusammenführen und uns vor die Wahl stellen. Und dann sehen, was eine echte Konsequenz ist.
Während des nächsten halben Tages bekam ich keinen wirklichen Bissen herunter. Ich nagte ein wenig an einem Apfel, versuchte dann ein Stück trockenes Brot zu vertilgen, nur um es doch einigen Enten im Jorméz zuzuwerfen. Mein Kopf hing zwischen den Wolken meiner Gedanken, auf der Suche nach einer Lösung auf solch unmenschliche Fragen.

Bis Tristano Nasvega einen leichten Ausruf ausstieß.
"Dort sind sie."
In der Ferne erhob sich ein eingezäuntes Dorf mit einigen heruntergekommenen Gebäuden. Mit einem einheitlichen Zügelschlag beschleunigten unsere Pferde in einen stürmischen Galopp. Wir durchquerten die Pforte zu einem Dorf, welches sich als Olianta herausstellen sollte. Mit einigen schnellen Fragen konnten die Paladine den Karawanenführer finden. Der nachdenklich wirkende Mann mit Namen Giovanni el Coccli deutete nur schweigend auf einen Wagen und die Taverne, als meine Begleiter den Namen Buji Begs erwähnten. Sein Karren mit seiner Habe wurde durchwühlt und in Besitz genommen, dann trat ich mich mehreren Ordenskriegern auf die Taverne zu. Die beiden an der Tür postierten Wachleute mit ihren Holzspeeren wichen beim Anblick der hochgerüsteten Paladine sogleich zur Seite. Sie wollten keinen Streit und wussten vermutlich, dass wir ohnehin als Sieger aus jedem Kampf hervorgehen würden.

Daraufhin schob ich die Tür auf, eine junge Dame konnte ihr gerade noch ausweichen, sonst hätte sie sie beinahe an den Schädel geschlagen bekommen. Der Schankraum war einfach ausgestattet, aber dank seiner Holzvertäfelung und Bebilderung durchaus ansehnlich. In der Mitte des Raumes saßen drei jüngere Söldner mit einer alten Damen um einen Tisch herum, im hinteren Bereich des Raumes war ein Schönling mit einer weiteren Frau in einem tiefen Gespräch versunken. Daneben jedoch, das wurde mir schnell bewusst, war er.
Buji Beg.
Dort saß er. Mit einem Humpen Bier vor der Nase, einer Schüssel Brei und drei alten Männern am Tisch.

Ich erkannte seinen rubinbesetzten Turban sogleich. Auch diesen gepflegten Bart, die großen braunen Augen. Nein, ich war mir meiner sicher. Buji Beg befand sich geradewegs vor mir. In eisernem Schritt bewegte ich mich direkt auf ihn zu. Ein Ordensritter verblieb an meiner Seite, beobachtete die anderen Gestalten in der zwielichtigen Kammer.

"Er ist hier. Wenn ihr so gütig wärt und seine Sachen draußen in Beschlag nehmt."
Ich ballte meine rechte Hand zu einer Faust und beförderte sie ihm ohne Vorwarnung in sein Gesicht. Mit wenigen Handgriffen hatte ich ihm den braunen Leinensack über den Schädel gezogen und ihn auf die Beine gehievt. Ich packte ihn gemeinsam mit meinem Begleiter an jeweils einem Arm und führte ihn nach draußen.

Dort wartete bereits Tristano zu Pferd auf mich. Der Wagen des Buji Beg wurde von einem der Paladine gefahren. Ein dritter Ordensritter hatte bereits mein Pferd und das des Wagenführers an seiner Seite. Mit einem Stoß beförderte ich Buji Beg auf seinen Wagen hinauf und gesellte mich an seine Seite.

Mit einem lauten Ruf setzten wir uns wieder in Bewegung. Im Eiltempo verließen wir Olianta auf demselben Weg, auf dem wir hineingekommen waren. Das einzige, was die Dörfler noch von uns sehen konnten, war die große Staubwolke, die wir im Dorfzentrum hinterließen.

Erst als wir Olianta hinter dem Schutz mehrerer Hügel nicht mehr sehen konnten, zog ich dem Buchhändler den Sack vom Kopf. Ich hatte seine Hände mittlerweile mit einem festen Strang an seinen Knöcheln festgebunden, sodass er gebückt vor mir saß. Ein unschuldiges Lächeln strahlte mich an.
"Ich nehme an, es handelt sich um eine unglückliche Verwechslung?" entgegnete mir Buji Beg, während er mühselig an seinen Fesseln zog.
In seinem Gesicht ruhte noch der rote Abdruck meines Faustschlags, Blut verlor er hingegen keins mehr. Im Inneren des Sacks zeigte sich jedoch ein kleiner rotbräunlicher Fleck.

Ich schüttelte nur sanft mein Haupt und fing an Buji Begs Habe zu durchsuchen. Sie bestand im Wesentlichen aus einer beachtlichen Sammlung aus Büchern, Schreibzeug aller Art sowie mehreren Schriftrollen und Notizbüchern. In den Jahren nach dem Kreuzzug schien er vor allem an Gedichtsammlungen, Ratgebern und allerlei Schundliteratur gelangt zu sein. Doch einige besondere Werke stießen sogleich auf mein Interesse. Das "Viskarium al' Pandamonia'" stellte sich als höchst okkultes Buch mit allerlei Abhandlungen über Dämonen und ihre Nachfahren heraus. Einige Teile wirkten beim schnellen Durchwühlen auf dem Karren in Kalifatisch verfasst, der Großteil war mir aufgrund seiner sorridianischen oder alt-sorridianischen Lettern jedoch lesbar.

Ich schob noch einige weitere Stapel beiseite, bevor ich mich dem mittlerweile zeternden Beg zuwandte. Nachdem er mit seinen anfänglichen Ausflüchten keinen Erfolg erzielte, ja nicht einmal mein Gehör gewann, ging er schnell zu den üblichen Anschuldigungen über.

"Was ihr hier treibt, ist verboten! Ihr handelt entgegen Deyn Cador, ganz genau! Ihr nehmt mir jegliche Rechte, die einem armen Buchhändler noch zustehen. Wie könnt ihr euch nur vor Deyn Cador rechtfertigen? Und erst vor dem Gottkönig, seiner aufrichtigen Majestät, der ich über alles diene! Großes Übel wird über diejenigen hereinbrechen, die falsch handeln! So hört mich an und lasst mich und meine Bücher ganz geschwinde frei."

Ich konnte nur ein wenig seufzen.
"Buji Beg, ich werde sicher nicht mit euch verhandeln. Meine freundlichen Begleiter waren nachdem sie von eurer Flucht hörten schon äußerst interessiert an euch. Und dann führt ihr noch solche Werke mit euch herum ..". Ich wedelte mit dem "Viskarium al' Pandamonia'" vor seiner Nase herum. Alleine dafür hängen sie euch und alle Begleiter, bevor sie euch vierteilen und verbrennen."

Begs Gesichtsausdruck machte einige angestrengte Verrenkungen, eher er seine Hände zusammenfaltete und einige Tränen vergoss.
"Versteht doch bitte, ich kann noch nicht von dieser Welt gehen! Ich muss sie noch einmal wiedersehen! Ich flehe euch an! Bitte lasst mich gehen; ihr könnt auch alles haben, was ich besitze. Ihr könnt doch sicherlich mit ihnen verhandeln. Nur einige Minuten und ich bin im nächsten Wald verschwunden, tauche nie wieder in diesem Land auf! Ich verspreche es, euch, schwöre es euch bei meinem guten Namen!"

"Ihr könnt so viel flehen und betteln, wie ihr wollt. Ihr habt nur noch einmalig die Gelegenheit euch zu rechtfertigen; und das ist sicher nicht vor mir oder diesen Paladinen. Hört mir lieber zu."
Ich packte den Buchhändler an den Schultern, zog ihn so hoch, wie er in seiner gefesselten Position nur kommen konnte. Meinen Kopf neigte ich ein wenig hinab, sodass ich ihm genau in die Augen sah.
"Wo ist der angeschmolzene Gegenstand? Wo ist das Objekt, das ihr eines Tages gefunden habt? Betet zu Deyn, dass es noch in eurem Besitz ist."

Beg biss sich auf die Unterlippe, schaute mich mit einem eher verwirrten Ausdruck an.
"Angeschmolzenes Objekt? Ich bin Buchhändler! Ich habe keine angeschmolzenen Gegenstände bei mir, woher sollte ich so etwas haben?"
Bevor er auch nur ein weiteres Wort aussprechen konnte, fuhr ich aus meiner sitzenden Position auf. Mit ausreichend Schwung verpasste ich ihm einen tiefen Schlag in den Magen. Er keuchte. Schnaufend stöhne er auf, hechelte nach Luft.
"Ich .. ich schwöre, ich weiß .. nicht..  wovon ihr sprecht."
Ich verpasste ihm noch einen Schlag. Und noch einen. Und noch einen. Dann lag er winselnd zwischen den beiden Sitzbänken, direkt auf der Ladefläche. Immer wieder wiederholte er diesen einen Satz.
"Ich will sie doch nur noch einmal sehen."

Wen auch immer er damit meinte, meiner Suche half er nicht weiter. Die Paladine verlangsamten unterdessen die Geschwindigkeit, als der Jorméz wieder in Sichtweite kam. Wir hatten einen größeren Umweg entlang einiger Hügel und Obstwiesen gemacht. Die Paladine hatten ein Nachtlager auserkoren, an dem sie auch den Besitz des Buchhändlers durchgehen wollten. Anschließend sollte das Urteil des Gottkönigs über die sterblichen Überreste Buji Begs gefällt werden. Solange hatte ich Zeit zu erfahren, wonach ich suchte.

Es war sicherlich nicht der taktisch wertvollste Ansatz ihn bereits jetzt mit Schlägen weich zu prügeln. Nichtsdestotrotz wiederholte er immer nur diesen einen Satz.
"Ich will sie doch nur einmal wiedersehen." Sein stark akzentbelastetes Sorridianisch aus dem Süden der Isla de la Riqueza verlieh dem ganzen sogar einen leicht nostalgischen Charme. Es erinnerte an weitaus bessere Zeiten, weitaus bessere Jahre.

Buji Beg zog seine ohnehin zusammengebundenen Arme enger zusammen. Er wusste mittlerweile wohl, dass es kein Entrinnen mehr gab.
Ich setzte mich neben ihm auf die Holzpritsche und ging weiter seine Habe durch. Es fand sich - außer seinen belanglosen Liebesbekundungen an seine Familie, einigen Reiseberichten und Büchern über Büchern – nichts darunter. Nichts von Interesse. Die Bücher konnte man durchaus als gut erhalten bezeichnen. Er musste sie gepflegt haben, teilweise waren die Lederstücke in Papiere eingewickelt oder mit Stoffhauben geschützt. Einige stapelten sich in Kisten, andere waren lose auf dem Karren abgestellt. Aber kein einziges zeigte die Spuren meiner Begierde. Kein einziges Buch, kein einziges Stück war angeschmolzen.

Ich biss meine Kiefer aufeinander, blickte auf den immer näherkommenden Jorméz. Ich war hier nur zu Gast. Die Sorridianer hatten mir ohnehin außergewöhnlich viele Freiheiten eingeräumt, ich wollte sie nicht überstrapazieren. Aber wenn Buji Beg einmal zu einem lebenden Stück Kohle gemacht war, wäre es um ihn geschehen. Ich hätte ihn nicht mehr fragen können, wo er sein Vermächtnis von Franz Gerber gelassen hat; sofern er denn überhaupt eines bekommen hat. Ich wühlte hier schließlich in der Vergangenheit eines Kameraden, eines Freundes. Ich vermutete nur, wer seine Vermächtnisse empfing. Lag ich falsch? Vergaß ich jemanden? Ich habe mir so viele Gedanken über alle Beteiligten gemacht, aber am Ende war ich schlichtweg ahnungslos.

Ich packte den imme rnoch wimmernden Buji Beg am Kragen. Mit einem kräftigen Zug hob ich ihn wieder auf die Sitzbank, wo er weiterhin zusammengekauert gegen seine Tränen ankämpfte.
"Ihr wollt sie noch einmal wiedersehen? Wen?"

Er fing an lautstark zu schniefen. Ich verstand zunächst kaum ein Wort in seiner akzentlastigen Stimme, doch irgendwann begriff ich.
"Meine Frau, meine kleine Tochter, nur noch einmal."
Seine Familie. Er wollte nur seine Familie noch einmal wiedersehen. Wenn ich recht in Erinnerung habe, starben sie bei einem der vielen Angriffe oder Scharmützel im letzten Südleändrischen Kreuzzug. Und der liebende Vater und Ehemann musste alles machtlos ansehen. Er bekam seine eigene Unfähigkeit sie zu beschützen vorgeführt. Und nun hatte er einen letzten menschlichen, allzu verständlichen, Wunsch.
In diesem Moment wollte ich wirklich nur ein Gebet sprechen. Deyn bewahre. Dieser Mann hat viel Unrecht getan. Er hatte sich offenkundig von der Ordnung abgewandt. Deswegen gab es, zum Schutze aller Unschuldigen und Rechtschaffenen, nur noch eine Strafe. Aber all das wegen solch menschlichen, solch unschuldigen, Zwecken?

Ich faltete meine Hände im stummen Beistand. Möge sein letztes Urteil gerecht sein. Möge er seine Familie wenigstens noch einmal wiedersehen. Nicht in diesem Leben, sondern im Reich der Ordnung Deyn Cadors.


Herr des letzten Urteils,
Herr über das Reich der Ordnung und des Lichts,
Deyn Cador,
erblicke die Güte dieser Welt.

Labe dich an unserer Unfähigkeit
den richtigen Weg zu erkennen.
Verleite uns nicht in die Fänge des Chaos,
sondern ergreife uns auch nach unserem
Fortschreiten mit deiner gütigen Wärme.

Lass uns trotz unserer Fehler nicht allein,
begleite uns zu unseren Lieben,
lasse uns trotz unserer Entscheidungen niemals allein,
steh uns allzeit besonnen bei.

Deyn Cador,
du Herr über das Reich der Ordnung,
kümmere dich mit deiner erhabenen Güte
um deine naiven Jünger,
lasse uns nicht in das Reich des Chaos fallen
und nimm besonders auch diejenigen entgegen,
die deine Güte nicht alleine erkennen konnten.

Herr Deyn Cador,
lasse das Licht wieder über unsere Welt hereinbrechen.
Umgarne uns mit deiner Güte,
und lehre uns allzeit deine Liebe.
Amen.


Gerade als ich wieder aufschaute, erreichten wir das Flussufer. Auf einer ausgetretenen Wiese standen einige kleine Holzlager bereit. Auch ein von Steinen umkreistes Lagerfeuer wartete förmlich nur darauf entzündet zu werden. Der Karren wurde kurz vor den ersten, aus einfachen Holzstämmen geschnitzten, Sitzbänken zum Stehen gebracht. Die Paladine machten zunächst keine Anstalten Buji Beg sogleich seinem Ende zuzuführen. Sie gaben uns offenbar noch einige Augenblicke.

Ich kam ein wenig näher an Buji Beg heran, setzte mich sogar neben ihn.
"Ihr wisst, dass ich sie nicht aufhalten kann."

"Ihr würdet es auch nicht." antwortete er resigniert.

"Nein, das würde ich nicht. Sie werden euch leiden lassen. Sie werden euren Körper schänden und euch vielleicht nicht einmal begraben."

"Ich will sie doch nur noch einmal sehen."

"Sagt mir, wo es ist. Sagt es mir und es wird immerhin schnell und schmerzlos. Ich bleibe so lange, bis eure Kohlen erloschen sind. Und wenn sie mich nicht aufhalten, vergrabe ich eure Gebeine. Alles andere liegt in eurer Hand. Alles andere ist das Zeugnis eures Lebens, eurer Rechtschaffenheit und der Güte Deyn Cadors."

"Schnell und schmerzlos?" Er hob seinen Kopf ein wenig. Buji Beg wirkte müde. Als hätte er schon mit sich abgeschlossen gehabt. Doch unnötig Leiden muss niemand. Wenigstens diese Güte sollten wir noch haben. Egal, wie sehr wir einander verachten. Nur Deyn Cador entscheidet als Letzter über unseren Verbleib. Nur er.
"Im Blute unserer Ahnen liegt verborgen, was ich einst fand. Im Blute unserer Ahnen fand ich einmal dieses angeschmorte Stück. Und seitdem habe ich es dort belassen. Ich .. hatte Hoffnung, dass ich sie noch einmal sehen kann."

"Möge euer letztes Urteil gerecht sein. Möge euer letztes Urteil gnädig sein. Möge euer letztes Urteil voll von der Güte Deyn Cadors sein."
Ich erhob mich von seiner Seite, gab den Sorridianern ein kurzes Handzeichen. Sogleich kamen zwei von ihnen auf mich und Buji Beg zu. Sie stiegen auf den Wagen, packten ihn und stießen ihn mit Schwung vom Wagen. Der Buchhändler knallte unsanft mit seinem Gesicht auf dem Boden auf. Eine kleine Blutpfütze bildete sich auf dem sandigen Untergrund.
"Macht es wenigstens kurz. Ihr könnt einer zarten Frau, wie mir, nicht seine endlosen Todesschreie zumuten."

Amüsiert lachend stimmten die Paladine sogleich zu. Während sie den Buchhändler, der alles und vor allem seine Familie, verloren hatte, zu einem hölzernen Hackblock führten, kehrte ich ihnen den Rücken zu. Ich ging auf beiden Knien nieder. Nach wenigen Handgriffen hatte ich das Buch von dem Buji Beg sprach, gefunden. Das "Blut unserer Ahnen", ein Geschichtsband über Sorridia. Ein Werk, welches dieses wundersame Land von seinen Beginnen im Mittländischen Reich über das Heilige Sorridianische Reich bis zum heutigen Königreich verständlich aufschlüsselte. Ich schlug das Buch auf, blätterte einmal über die Seiten hinweg und fand ihn schließlich – den angeschmolzenen Rosenkranz Franz Gerbers.


Buji Beg wurde kurz darauf mit einem sauberen Axtschlag enthauptet. Sein Leichnam wurde mitsamt Kopf auf seinen Wagen gelegt, der daraufhin mit einem brennenden Holzstück in Brand gesteckt wurde. Die Paladine verbrachten die Nacht am nahegelegenen Feuer, ich zog mich unter das Blätterdach eines dichten Baumes zurück. Ich bekam die Augen kaum mehr zu. Die Albträume hielten mich in ihrem festen Griff.

Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von den Ordenskriegern Sorridias. Es war eine durchaus freundliche Verabschiedung, wir verstanden uns schließlich grundsätzlich recht gut. Ich war diesen Männern schlichtweg immer noch näher verbunden, als vielen meiner Sôlaner aus den nördlicheren Nationen Leändriens. Während sie mit erhobenen Bannern wieder gen Norden eilten, sammelte ich die verkohlten Reste des Buchhändlers ein. Ich bin mir sicher, dass Tristano Nasvega genau wusste, was ich vorhatte. Wohlmöglich ist er deswegen in aller Frühe aufgebrochen, hat nicht ein Wort über die Überreste verloren.

Ich begrub Buji Beg an den Wurzeln einer alten Steineiche. Aus zwei verbliebenen Brettern seines Wagens zimmerte ich ein einfaches Kreuz zusammen. Seine Aufschrift lautet auch hoffentlich heute noch "Hier ruht ein liebender Vater und Ehemann".

Lassen wir Sôlerbens Licht über diese Welt strahlen. Lassen wir Deyns Güte über uns richten. Halten wir diese Welt durch die Ordnung zusammen. Aber vergessen wir nie unsere Menschlichkeit; nie unsere Schwächen.



RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 05.04.2021


XXXI – Jule

Es war ein windiger Herbsttag, etwa einige Wochen nachdem ich aus Sorridia nach Patrien zurückgekehrt war. Zuvor bin ich mit einem wenige Tage dauernden Umweg über die Jonquera nach Vadez gereist, von dort aus wiederum nach Roquetas. Im Süden des großen patrischen Güldentals saß ich nun am Rande einer langgezogenen Wiese, in einem kleinen, mit einer Mauer eingezäunten Gärtchen, nicht weit entfernt der großen Felder und Obstwiesen.
Mit ausgestreckten Beinen lehnte ich mich an dich an. Rücken an Rücken saßen wir hier im feuchtgrünen Gras des gerade aufklarenden Gewitters. Du hättest sicher nicht reingehen wollen; und so wollte ich es auch nicht. Außer dem Prasseln des Regens ließen wir Stille walten. Erst als das kurze Schauer vorübergezogen war, griff ich tief in meinen Rucksack und holte dieses Buch hervor.

Denn diese Zeilen sollen dir gelten, Jule Weber. Niemandem sonst. Ich habe genug von meinen Reisen berichtet, von all den Begegnungen dazwischen. Viele der Persönlichkeiten auf den zuvorigen Seiten werde ich vermutlich nie wieder sehen. Die meisten erhielten nur eine kurze Erwähnung und werden keinen tiefen Eindruck hinterlassen. An manch einen werde ich mich vielleicht eines Tages erinnern, vielleicht auch nicht. Du aber, Jule Weber, du hast mich viele Jahre meines Lebens begleitet.

Ich erinnere mich nicht mehr an unser erstes Treffen oder unser erstes Gespräch. Ich wünschte ich könnte nachvollziehen, worüber wir sprachen oder wie ich das erste Lächeln auf deinen Lippen erblickt habe. In all unserer gemeinsamen Zeit sind viele dieser wertvollen Erinnerungen irgendwann einfach verblasst. Es ist schmerzhaft und tragisch. Aber unabwendbar. Vielleicht kommen diese Gedanken eines Tages zurück. Ich hoffe es, hin und wieder bete ich gar dafür. Doch anstelle dessen bleiben mir einige andere Eindrücke von dir lebhaft im Kopf. Auf das ich sie nie vergessen möge. Selbst in der dunkelsten Stunde nicht.

Mit diesen Eindrücken meine ich natürlich nicht die schlaflosen Nächte und unaushaltbaren Tage, die du mir bereitet hast. Dein unendlich sturer Dickkopf ließ sich nur selten bezwingen, und ich fange besser gar nicht erst damit an, dir zu sagen, dass du dir noch nie Fehler eingestehen konntest. Niemanden musste ich öfter zum Latrinendienst einteilen, als dich, Jule. Ich hoffe sehnlichst, dass du mir es auch heute noch nachsiehst. Die wichtigste Aufgabe einer Protektorin ist leider nicht das Zufriedenstellen all ihrer Untergebenen, sondern die innere Moral und Ordnung. Stets widersprüchlich, aber immer gewissenhaft, bist du jedoch allem nachgekommen.

Vielleicht hat es auch lang gedauert, bis wir wirklich zusammengefunden haben. Sehr wahrscheinlich wird es sogar so gewesen sein, hätten wir schließlich unterschiedlicher kaum sein können. Als wir zuerst aufeinandertrafen war ich nicht mehr als eine verschlossene, verblendete und heuchlerische Kämpferin. Ich passte offenkundig nicht mit deinem naiven, träumenden und optimistischen Wesen zusammen. Und doch wuchsen wir irgendwie zusammen, schauten voneinander ab, lernten. Gemeinsam und zusammen.

Ich habe mir zumindest vorgenommen hoffnungsvoller zu sein. Dank dir. Den Tag mehr zu genießen und mich den wenigen Freuden, die unsere Leben uns bieten, hinzugeben. Ich wollte mehr von dir sehen und hören, mehr von deiner Familie erfahren. Eine Familie, wie ich sie nun einmal nie hatte. Etwas gänzlich Fremdes, aber so spielt das Leben auf dieser Welt nun einmal. Zum Glück hast du mir gezeigt, dass wir uns unsere Familie auch aussuchen können. Wir mögen alle spät zusammengefunden haben, aber waren wir doch vertraut, wie ein tiefes Blutband es sonst nur sein kann. Vielleicht ja sogar noch tiefer?

Immer dann, wenn ich heute über dich nachdenke, kommen mir besonders drei Erinnerungen wieder hoch. Es sind nicht die tragischen Momente unserer Leben. Es sind nicht diejenigen Momente, wo einer von uns kurz vor dem Übertritt an der Schlucht Dysmar stand. Es sind eben nicht diejenigen Momente, wo wir für immer hätten getrennt werden soll. Nein, diese grauenhaften Erinnerungen versuche ich immer dann, wenn mein Geist es zulässt, zu verbannen. Ich will nicht im Schlechten über dich denken, und so rufe ich mir stets diese drei Geschichten wieder in den Kopf. Ich muss dafür nur die Muschelkette in die Hand nehmen. Genau, die Kette, die du mir an einem Festtag geschenkt hast. Und auch hier betrübt mich sehr, dass alles drumherum verblasst ist. Ich kann mir dein zartsüßes Lächeln in diesem Moment immerhin noch vorstellen, immerhin das ist mir geblieben.


In meinen ersten Monaten auf Neu Corethon saßt du einst bei deinen Fischen, mit den Beinen tief im Wasser. Anstelle der schweren Rüstung hattest du nur ein luftiges Hemd und eine Leinenhose an. Schon von Weitem hast du mir zugewunken, deine Arme hoch in die Luft gestreckt und vor Freude gestrahlt.
Eigentlich war ich gekommen, um dir Vorwürfe zu machen. Ohne Rüstung und Waffen verließt du das Haus. Deine Aufgaben ließt du unerledigt. Unser Zimmer sah aus, wie eine Rümpelkammer. Ich wollte dir so vieles an den Kopf werfen.
Aber, .. aber, als ich diese Freude in deinen Augen sah, konnte ich nicht. Jeder Tölpel hätte erkennen können, dass dies kein Moment war, den man durch unnötige Vorwürfe zunichte macht. Stattdessen hast du mir geholfen meine Rüstungsplatten abzuschnallen, meine Ausrüstung unter einigen Palmenblättern vor Raphaels scharfen Augen zu verstecken und auf deinen hölzernen Konstrukten zu balancieren. Gemeinsam haben wir unsere sandigen Zehen in das lauwarme Wasser gesteckt und deinen Fischen beim Schwimmen zugesehen. Du hast mir von jedem einzelnen erzählt. Ihre Namen, ihr liebstes Futter und sogar ihren liebsten Platz. Du wusstest alles über sie.

Und ich wusste einfach nichts über dich. Nur die oberflächlichen Dinge, die man jedem dahergelaufenen Wanderer auch erzählt. Ich war angetan von den Worten, die du gesprochen hast. Ich war eingenommen von deinem gewellten roten Haar und diesen kleinen goldenen Flecken in deinen Augen. Und nicht zuletzt war ich überzeugt. Überzeugt davon, dass ich diese Möglichkeit nicht verpassen darf.
Du nahmst mich schließlich einfach so an. Ich kam gebrochen, zwar mit einem großen Eifer, aber gebrochen, auf diese Insel. Aber du hast dich um nichts geschert. Nicht um meine Herkunft, nicht um meine Taten, sondern hast mich einfach angenommen. Auch heute bin ich dafür noch immer dankbar.

Ebenso dankbar, wie für diesen Tag mit unseren Füßen im Wasser. Nachdem du ausführlich über deine Fische berichtest hast, ließt du eine kleinere Pause walten. Deine Augen waren in die Ferne gerichtet. Auf diesen riesigen, tiefblauen Ozean zu unseren Füßen. Was mich mit Angst versetzt hat, war für dich Quell' von Abenteuer und Hoffnung. Ich konnte kaum meinen Blick auf dem Horizont halten, schlussendlich bot mir das aber eine gute Aussicht auf, nunja, dich.
Wenn ich mir heute in einsamer Stunde Jule Marina Weber vorstelle, dann habe ich dieses Bild in meinen Kopf. Ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen, ein in die Ferne gerichteter, fester Blick und eine leichte Meeresbrise im Haar. Das warst und bist auch heute noch du für mich, Jule.


Aus meiner Erinnerung streiche ich dafür gern, wie du mich vom Holzsteg gezogen hast und wir gemeinsam tief in dieses unendlich blaue Wasser hinabtauchten. Ich war noch nie ein Kind des Meeres, so wie du es immer warst, aber deine einzigartige Freude beim Schwimmen war doch irgendwie ansteckend. Nach jeder Tauchrunde musste ich zwar prusten und um Luft hecheln, aber für den Ablick einer zufriedenen Jule Weber würde ich es jedes Zeit wieder tun. Vielleicht jetzt mehr, denn je zuvor.
Oh, und unvergessen bleibt natürlich auch deine Laufgeschwindigkeit, als sich der kleine Krebs im Sand an uns angeschlichen hat. Ich bezweifle, dass du jemals so schnell deine Füße voreinander gesetzt hast.


Meine zweite liebsame Erinnerung unserer gemeinsamen Zeit kommt aus den Tagen nachdem wir erstmalig im Kloster Melissengespenst eingekehrt sind. Diese Reise, gefüllt mit großen Schrecken und einem Desaster, das seinesgleichen sucht, endete mit einem Aufenthalt im Sommerdomizil Uriel Bonningtons. Nachdem er erfuhr, was mit Melissengespenst passiert war, lud er uns schließlich höchstpersönlich ein: Auf seinem in einem Ausläufer des Maunas-Gebirges liegenden Landgut konnten wir uns wirklich entspannen. Und wie wir das taten. Neben den Abenden in großer geselliger Runde blieb vor allem die Zweisamkeit zwischen uns das, was mich nicht nur meine körperlichen Wunden heilen ließ.

Unser großes Schlafzimmer war ein eigener Traum für sich. Selbst weibliche Ordensritter sind tief im Inneren auch Frauen, und welches Kind wollte nicht für einen Tag einmal Prinzessin sein? Hier konnten wir diesen langgehegten Traum wenigstens für ein paar Stunden des Tages nacherleben. Gekleidet in wundersam weiche Nachtgewänder aus Seide flanierten wir über die Gänge, legten uns am Abend in ein Bett gefüllt mit weichen Gänsefedern und speisten von echtem Tafelsilber. Und zwar jeden Abend.

Nachdem die Kerzen schon lange erloschen waren, lagen wir weiterhin wach im Bett. Wir sprachen, unsere Körper nah aneinandergelegt, über die schrecklichen und wunderbaren Dinge in unseren Leben. Manchmal gleichzeitig, manchmal hörte einer stundenlang nur zu. Wenn wir nicht weiterwussten und unsere eigene Emotionen uns zu erdrücken drohten, war der andere jeweils da. Die Wärme eines anderen Körpers, die Nähe und wenigstens eine umgarnende Hand fehlen im Leben eines Ordens zu häufig. Wie sollen wir auch erkennen, wieviel Kraft man aus Fürsorglichkeit und Zweisamkeit ziehen kann, wenn man sie niemals erfährt? In diesen Nächten habe ich viel gelernt. Viel über mich. Viel über uns. Viel über .. viele Dinge.

Oh, und diese eine Nacht, in der wir uns in das im Außenbereich liegende Bad hinausgeschlichen haben. Mithilfe einiger Diener haben wir den Holzofen noch einmal angeheizt und das Badewasser erwärmt. Wir hatten die mit Quellwasser gefüllten Becken nur für uns, in einer wunderschönen Mondnacht, nur begleitet vom leisen Knacken des Holzes. Das Licht des Mondes spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche wieder und wurde nur durch den langsam aufsteigenden Wasserdampf unterbrochen.
Wir beide lagen einfach stillschweigend nebeneinander, die Köpfe in den von Sternen erfüllten Himmel gerichtet. Über uns erstreckten sich diese in unendlicher Ferne funkelnden Lichter, wie ein Meer aus strahlendstem Schein. Irgendwann hast du einfach deine Hand ausgestreckt und die wildesten Sternzeichen erfunden. Warum auch die altbekannten Symbole des Himmels verwenden, wenn du selbst den Kerzenhalter, den strammen Herren oder die Melone finden konntest?

Wir habe in dieser Nacht viel gelacht, bis sich der Himmel über unseren Köpfen mit einem Mal verdunkelt hat. Wolken sind aufgezogen und nur dann und wann schien das Licht wieder zu uns durch. Doch selbst in diese Dunkelheit getaucht, als die ersten Regentropfen auf uns niedergingen, blieben wir im Wasser zurück.
Irgendwann hast du mich ernst angeschaut. Dieser betrübte, nein eher .. besorgte Blick, man sah ihn so selten auf deinem Gesicht. Aber er war ernst, und voller Mitgefühl für die anderen Mitgliedes des Ordens; unserer Familie. Du hast dir wirklich Sorgen gemacht. Wolltest ihnen helfen. Hast dir überlegt, was man für jeden einzelnen von ihnen tun kann. Und ich habe erst nur zugehört, dir zugestimmt und wieder nur zugehört. Was ich in dieser dunklen Nacht aber wirklich hätte erkennen sollen, nein gar müssen, habe ich erst viel zu spät festgestellt.
Eigentlich haben wir uns selbst viel mehr gebraucht. Eigentlich hätten wir noch mehr füreinander da sein sollen. Besonders nach all dem, was nach diesem ruhigseligen Besuch passiert ist. Aber irgendwann waren wir einfach zu beschäftigt, zu vertieft, zu besessen mit der Rettung anderer.
Doch was wir wirklich hätten retten sollen, waren wir. Nur uns, Jule, nur uns.


Zugegeben, solche Einfälle kommen mir natürlich immer erst dann, wenn es viel zu spät ist. Warum sollten sie auch zur rechten Zeit da sein? Nein, so läuft es auf dieser Welt nun einmal nicht. Das haben wir beide erfahren müssen. Wir hätten viele Dinge anders machen müssen, um nicht unsere Schicksale zu erleiden. Und doch sind wir unseren jeweiligen Weg gegangen. Wir haben unsere Entscheidungen getroffen und dafür die Konsequenzen erhalten. Gesündigt. Buße getan. Sind der Ordnung gefolgt. Haben mit ihr gebrochen. Und wieder zu ihr gefunden.
Auch wenn ich mir ein anderes Schicksal wünsche, hätte ich vermutlich nicht viel anders gemacht, selbst wenn ich erneut die Möglichkeit hätte mein Leben zu wiederholen.

Denn wenn ich all das Schlechte verhindern würde, würden auch all die guten Geschehnisse in meinem Leben verfallen. All das, worauf ich mit Stolz und großer Freude zurückblicke. Und so kommen wir zu meiner dritten und letzten liebsamen Erinnerung mit dir. Wir saßen irgendwo, nicht weit entfernt vom Odejo, an einem kleinen Weingut. Du warst erst wenige Wochen bei mir in Patrien und doch habe ich dir schon wieder so viel aufgebürdet. Ich war stolz, als ich gesehen habe, wie schnell du die Sprache meiner Heimat aufgenommen hast. Es schien dir wirklich leicht zu fallen, ein Teil dieser sonst eher steifen patrischen Kultur zu werden. Wir durchlebten viele Dinge, trafen auf unterschiedlichste Personen und kehrten irgendwann auf der kleinen Außenterasse ein. Hier saßen wir im Schatten der großen Pinie und ließen uns bewirten.

Es kommt selten vor, dass ich aus reiner Lust trinke, aber in diesem Moment vergönnten wir uns jeweils ein Glas des feinen Hausweins. Dazu kamen einige Stücken Fleisch mitsamt einer ganzen Platte großzügiger Beilagen. Es waren jedoch dein Gelächter, deine fröhliche Art und die Atmosphäre, die mir diese Erinnerung so fest im Herzen halten. Es war ein Zusammenspiel aus wunderbaren Umständen und bester Geselligkeit, die unsere mittlerweile gealterten Ichs wieder zusammenbrachte. Und gerade dieser kurze Moment der innigen Ruhe hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Ich kann dir nicht einmal mehr sagen, worüber wir sprachen. Auch dieses unwichtige Details habe ich einfach vergessen. Doch egal, was es auch immer gewesen sein mag, will ich diesen Augenblick nicht missen. Jule, es war einer dieser Tage in welcher wir einfach nur wir sein konnten. In welcher die Welt hätte über uns zerbersten können, wir wären nicht alleine gewesen. Eben einer dieser Tage, in welcher wir uns wirklich um uns gesorgt haben. Nur um uns.

Vielleicht erfüllt es mich deswegen mit so großer Trauer, dass unsere Tage fortan oftmals fern voneinander stattfanden. Ich hätte mit dir gerne die weiten Felder und Wiesenlandschaften unsicher gemacht oder dich mit an die Südküste genommen. Oh, ja, wie gerne hätte ich dir die Weißen Säulen und die wunderschöne Stadt Ilcoy gezeigt. Es hätte dir sicher gefallen. Wir hätten einfach unsere Rüstungen in irgendeiner Taverne gelassen, hätten uns eine ganz gewöhnliche, fast schon zu normale Kluft angelegt und uns treiben lassen. Wir hätten uns an den Ständen die frischen Früchte mit dem geschabten Zucker servieren lassen und hätten anschließend im großen Obstgarten unter den jahrhundertealten Bäumen gesessen.
Aber stattdessen hatte diese Welt anderes mit uns vor. Wir haben gegen etwas angekämpft, was wir selbst nicht kannten. Wir gaben und nahmen, nur damit die Welt unsere Namen niemals hören wird. Unsere Opfer waren so groß, dass ich mir selbst nicht verzeihen kann. Alles, was über uns hereingebrochen ist, konnte ich nicht aufhalten. So sehr ich es auch versuchte.

Ich war an diesen Tagen blind. Und deshalb habe ich dir dieses Gedicht geschrieben. Diese Worte, an die ich mich in dunkler Stunde seitdem erinnere, sie gelten dir. Nur dir, Jule. Nur dir, meiner engsten Vertrauten, meinem stützendem Rücken, meinem eigentlichen Herz.


Wenn die Wellen des Meeres,
krönend im Rauschen vereint,
gegen unsere Körper schlagen,
finden wir erst zur wahren Ruhe.

In trauter Zweisamkeit unter dem Sternenzelt,
zeigt sich das wahre Selbst,
von einem ferngeglaubten Lieben.

Erst wenn der Schmerz uns ergreift,
und wir den Verlust im Herzen spüren,
erkennen wir,
was wirklich wichtig war.
Was uns wirklich an einander gelegen hat.

Kein Wesen der Welt kann
uns jemals ersetzen,
denn so strittig wie wir sind,
so einzigartig waren wir.

Stets getrennt und doch vereint,
bis das Leben uns einholt.
Ein Ende kommt,
ein weiteres steht bevor.

So warte nur auf mich,
so habe ich dich verloren.
Aber in mir bleibt die Hoffnung,
auf ein Wiedersehen.

Ich bereue jede vergeudete Stunde,
jede Minute und gar jede Sekunde
ohne deine Anwesenheit,
hier,
an meiner Seite.

Denn ich weiß,
auch ich trage die Schuld.
Ich kann sie nicht abstreiten,
nur noch anerkennen,
und leise um Vergebung bitten.

Damit wir eines Tages wieder
in trauter Zweisamkeit,
mit den Füßen im schäumenden Meer
das leuchtende Sternenzelt
betrachten dürfen.
Und einander nie mehr,
nimmer mehr,
loslassen.

So warte nur,
denn auch ich
blicke in den tiefen Abgrund,
an dessen Boden,
nur du auf mich wartest.


Denn heute kann ich nur noch mit dem Rücken an deinem Grabstein lehnen. Ich kann nicht aufhören zu trauern, werde es wohlmöglich nie können. Nicht seit ich dich hier eigenhändig begraben musste. Ich werde nie wieder in deinem sanftrotem Haar spielen können, von deinem leichten Atem in den Schlaf gewogen werden oder mir deine aufgeregten Worte über das unflätige Verhalten unserer Brüder anhören dürfen.
Die Tränen laufen, wie ein nicht enden wollender Fluss an mir herab und selbst der Regen hat mich nicht abhalten können hier zu bleiben. Ich habe versagt. Ich habe so sehr versagt und wieder einmal nicht das beschützen können, was mir wichtig war.

Was bleibt? Nur noch die Zukunft abzuwarten und einen letzten Besuch zu machen. Ich will es nur noch hinter mich bringen. Mich interessiert nicht einmal mehr, wie diese furchtbare Reise ausgeht. Es soll nur noch zu Ende gehen. Und wenn die Welt dabei in Scherben zersplittert, so hebe ich nur noch die Nötigsten auf.




RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 17.04.2021


XXXII – Scherben

Werner Gerber. Nur er blieb noch. Franz verbliebener Bruder. Eine Familie, so geprägt von Tragödien, dass sie keinem einzelnen Lebewesen zuzumuten wären. Jeder von ihnen hat so unendlich viel verloren. Sie wurden ausgebeutet, ihrer Identität beraubt und fallengelassen. Nur noch eine lose Erinnerung in den Köpfen weniger Menschen verbleibt über diese vom Trübsal geprägte Familie, doch selbst dieses kleine Überbleibsel schwindet immer mehr.

Es war ausgerechnet Bohemund de Corastella, der mir bei meiner Rückkehr in die Jonquera den Aufenthaltsort von Werner Gerber mitteilte. Die Sôlaner hatten ihn nach langer Suche an einem Ort gefunden, an dem ich ihn hätte gleich vermuten müssen. Er war in seine Heimat zurückgekehrt.

Nachdem er seinen Dienst bei Uriel Bonnington quittiert hatte, suchte er jenen Ort wieder auf, an dem er einst mit Franz und Patrick Gerber aufwuchs: Silberlauf.
Ein kleines Örtchen in Kornfall, im Süden Tasperins. Ja, einst muss er hier behütet aufgewachsen sein. Bis die Katastrophen dieser Welt über den Ort und seine Bewohner hereingebrochen sind. Allen voran die Familie Gerber haben sie getroffen. Und dennoch; und dennoch ist Werner ausgerechnet hierhin zurückgekehrt.

Ich muss niemanden mehr vormachen, weshalb ich gekommen bin. Ich bin zu müde, zu ausgelaugt, um es noch weiter zu verheimlichen. Und trotzdem ließ ich mir noch einige Wochen Zeit bis ich mich wirklich aufmachte. Ich wusste schließlich, dass Werner sich nicht mehr aus Silberlauf wegbegeben würde. Auch er hatte schließlich etwas Kostbares, das es zu verteidigen galt. Und damit keinen Grund mehr zu fliehen.
Tage und Wochen verbrachte ich im kühlen Schatten von Jules Grabstein. Oft blieb ich stundenlang einfach sitzen, ließ die Insekten an mir hochkrabbeln und lauschte nur dem leisen Flüstern des Windes. In mancher später Stunde hoffte ich Jules Lachen in diesen Geräuschen zu erkennen. Natürlich wurde ich nur enttäuscht. Als wäre es jemals anders. Als würde ich nicht enttäuscht werden, als würde irgendwo eine goldene Zukunft warten. Ein so unerreichbares und unendlich fernes Schicksal, doch auch ich darf noch träumen. Oder.. darf ich nicht?

Als Yuki und ich wieder aufbrachen, die Passage nach Tasperin wagten und dort irgendwann ankamen, zögerte ich. Es waren nicht meine schrecklichen Albträume, die mich anhalten ließen. Es waren auch nicht die grausamen Erinnerungen und Erlebnisse, die dann und wann wieder hochkochten. Nein, ich zögerte weil ich mir unsicher war. Erst zog ich marodierend über die Welt, fegte wie ein lauter Sturm meinem eigenen Leben hinterher und kurz vor dem Ende kann ich mich doch nicht dazu durchringen es zu beenden? Ich weiß, es ist erbärmlich. Gerade jetzt sollte ich doch den Willen haben. Ich musste ihn haben. Und doch fehlte er.

Ich hätte mich selbst ohrfeigen können. Nur noch einige Meter stand ich, im Schatten eines Baumes, von Werner Gerbers Hütte entfernt und traue mich nicht anzuklopfen? Das ist eben Amélie da Broussard. Unentschlossen, zerrissen und ein Spielball auf dieser Welt. Victor Saltzbrandt hätte mich sicher in hohem Bogen vom Geländer der Londanor Tempelfeste befördert, hätte er erfahren, wie ich hier wartete.
Aber .. dann zeigte sich mir, nur durch mein Warten, auch der wahre Grund für Werner Gerbers Anwesenheit. Er hätte sich in jedem Ort der Welt niederlassen können, wir hätten ihn vielleicht nie gefunden. Aber ausgerechnet Silberlauf? Sein Heimatort? Warum nur?

Weil er hier seine Frau gefunden hat. Weil er sie hier geehelicht hat. Weil er hier seinen kleinen Sohn aufziehen wollte. Er musste ihn ausgerechnet Franz nennen. Als wäre es der einzige Name auf der Welt. Oh, wie er zufrieden gelächelt hat, als sie nach Hause kamen. Wäre da nicht diese innerliche Verbitterung in seinen Augen gewesen. Sie muss sich so tief in sein Herz eingenistet haben, wie die Liebe für seine Familie, seinen Bruder, ja gar seinen eigenen Sohn. Mir würde sie nicht entgehen, nicht wo mein Herz selbst so melancholisch verbittert ist, dass ich dem Blick in den Spiegel nicht mehr traue.

Für diesen Tag ließ ich ihm seine Ruhe, denn er wusste es. Mit einer kurzen Reaktion in seinem Augenwinkel war alles gesagt. Er wusste, dass ich gekommen war. Und der morgige Tag würde unser beider Schicksal ein großes Stück weiter in den Abgrund werfen. Wir würden fallen und mit einem lauten Echo am Boden zerschellen.


Die Nacht war erfüllt von einem schaurig heulenden Gewitter. Der Regen krachte in unachgebieger Lautstärke an das Fenster, nur der Donner unterbrach das monotone Geräusch des vom Dach laufenden Wassers. Ich tat mich erst schwer ein Auge zuzumachen und in den schon lange nicht mehr rettenden Schlaf abzudriften. Irgendwann gab mein Körper dann aber doch nach. Irgendwann, tief in dieser schrecklich dunklen Nacht, fielen sie mir doch zu.

Mich erwartete jedoch keine liebende Familie. Keine wunderschöne Ehefrau, die sich um meine Sorgen und Nöte kümmert. Kein aufgeweckter kleiner Junge, der mich bei jedem Anblick an meinen verstorbenen Bruder erinnert. Ich war allein. Und obgleich ich irgendwo in meiner Brust ein schmerzhaftes Brennen gegen Werner verspürte, ihm einen unterschwelligen Hass entgegenbringen wollte, konnte ich nicht. Denn er trug so wenig Schuld an unseren Leben, wie jeder andere auch. Ein schlechter Streich der Ordnung? Ein missgünstiger Blick Deyn Cadors? Es wäre schön, wenn es so wäre. Dann würden mich diese grauenhaften Träume nicht jede Nacht allein in den Abgrund ziehen.

In dieser Nacht kam er zum ersten und letzten Mal. Ein Traum, der eigentlich war wie jeder andere auch. Eine Vorstellung tief in meinem Kopf, die mir so viel weniger Grausamkeit und Schmerz offenbarte, als viele Nächte zuvor. Trotzdem konnte ich mich nicht losreißen. Eine tiefe Furcht durchzog meinen Körper, fuhr in jede Zelle meines Seins ein.
Eine umschließende Dunkelheit nahm mich ein. Ich konnte meine eigenen Hände vor Augen nicht sehen. Hoffnungslos verloren inmitten des ewigen Dunkels irrte ich umher. Nur ihre Stimmen verfolgten mich. Nur ihre Vorwürfe zeigten mir den Weg. Näherte ich mich einer Stimme, war sie im nächsten Moment wieder verflogen. Unablässig, unbarmherzig und unmenschlich zeigten sie mir die Übel meines Lebens; und alles, was ich noch verbrechen werde.

Aber nicht etwa durch schreckliche Bilder. Nein, die brennenden Felder meiner Heimat oder die glühenden Seelen meiner Lieben blieben mir verschont. Es waren einzig allein ihre Stimmen, die in meinen Kopf eindrangen. Vergeblich versuchte ich mir die Ohren zuzuhalten, als würde mir dieser hoffnungslose Versuch irgendeine Erleichterung bringen. Es klang gar so, als wären sie in meinem Kopf. Tief in mir drin. Diese verfluchten Stimmen meines Lebens.

Wäre ich nur nie geboren worden. Diese Worte habe ich in diesem Buch oft niedergeschrieben. In dieser Nacht habe ich mich wirklich gefragt, ob es nicht die bessere Alternative gewesen wäre. Hätten meine Eltern mich damals nicht an das Kloster gegeben, sondern im nächstbesten Bach ertränkt. Was wäre dann gewesen? Viel Leid wäre erspart geblieben, nur ein wenig Freude wäre vergangen. Mein Herz blutet, wenn ich nur darüber nachdenke. Bin ich wirklich so eine Ausgeburt des Fegefeuers? Habe ich es wirklich so sehr verdient? Ich will nicht mehr. Ich will wirklich nicht mehr.

Ich wünschte diese Tränen würden endlich aufhören meine Wangen hinabzulaufen. Aber letztlich bin ich diejenige, die die Verantwortung und Schuld für sie trägt. Ich bin der Auslöser. Entscheidungen und Konsequenzen; grausam und unverständlich. Ja, in dieser Nacht wurde mir gezeigt, was gewesen wäre, wenn ich nicht dagewesen wäre.
Wie sehr der Orden floriert hätte. Was für ein zufriedenes Leben in Sicherheit sie geführt hätten.
Wie Hugo Feuerstein ohne flammendes Inferno in seinem Leben ein hohes Alter erreicht hätte.
Wie Drevin Cray sich von den Fesseln der magischen Sklaverei gelöst hätte.
Wie Sir Ripel auch heute noch an der Spitze der Sôlaner stehen würde; neuen Wohlstand über das Land brächte.
Wie Martynas Litwer seinen Traum von einem Netzwerk aus Druckereien erfüllt.
Wie Buji Beg seine Familie ein letztes Mal in den Armen halten kann.
Wie Rupert Seelbach seine Ängste überwindet und wieder den Leändischen Ozean (un)sicher macht.
Wie Werner Gerber bis an sein Lebensende seinem Sohn und dessen Kindern beim Aufwachsen zusehen kann.

Aber nichts davon wird passieren. Nichts. Rein gar nichts. Wegen mir. Wegen meinen Taten. Wegen all dem Blut, das an meinen Händen klebt. Die Schuld ist erdrückend; unendlich belastend. Die Buße dafür trage ich seit Jahren alleine auf meiner Seele. Eines Tages werde ich an ihr zerbrechen, das weiß ich. Solange jedoch muss ich diesen Träumen trotzen. Auch wenn mich die Schatten der Vergangenheit weiter in fester Hand halten, an meiner Seele reißen und mir Stück für Stück nehmen, kann ich nicht mehr zurückweichen.

Was ist Wahrheit? Was bleibt übrig? Was werden wir alle hinterlassen?


Es ist schlichtweg zu spät. Wie könnte ich ausgerechnet jetzt auch derart wenig Rückgrat beweisen? Verflucht, verflucht, verflucht. Das hier ist noch nicht das Ende. Noch nicht mein Ende. Noch ist es nicht Zeit für mich abzutreten, Deyn würde mich hochkant wieder aus seinem Reiche werfen, wenn ich jetzt an seine heilige Türe klopfe. Ich muss und werde es zu Ende bringen. Wie auch immer der Ausgang sein wird, wie rot sich Himmel und Erde auch immer färben werden, die Zeit ist gekommen.


Und so klopfte ich an Werner Gerbers Haustür. Mit einem belasteten Lächeln öffnete er mir. Seine braunen Haare hingen ihm etwas im Gesicht herum, er hatte ein wenig Gewicht verloren, sah aber insgesamt .. glücklich aus. Er bat seine Frau und seinen Sohn in ein Hinterzimmer, damit wir in Ruhe sprechen konnte. Seine Gattin wirkte aus der Nähe noch einmal deutlich hübscher, als ich zuvor gedacht hatte. Ihre dunkelblonden, glatten Haare fügten sie wie ein goldener Rahmen um ihr makelloses Gesicht. Ihre blauen Augen und schmalen Lippen zogen jeden Blick auf sich; besonders, als sie mit ihrem ebenso ansehnlichen Sohn vor mir stand. Der kleine Franz Gerber war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, besaß nur die Haarfarbe seiner Mutter. Er schien ein lebhafter Bengel zu sein. Keine fünf Jahre konnte er alt gewesen sein, obgleich sein Blick durchdringend wirkte. Wissend. Fast schon zu wissend.

Werners Hütte war kein besonders hochwertiges Heim, bot jedoch ein solides Obdach für sich und seine Familie. In dem aus Holz errichteten Gebäude, direkt am Fluss, gab es alles, was eine kleine Familie zum Leben braucht. In dem makellos gefertigten Raum mit der Außentür bot er mir einen Stuhl an. Er selbst stellte eine kleine Obstschale sowie einen Krug mit Flusswasser auf den Tisch. Als beruhigende Geste nahm er selbst einen großen Schluck, bevor er mir überhaupt etwas einschenkte.

Er legte beide Hände übereinander und blickte mich mit einem fokussierenden, klaren Blick an. Seine Stimme wirkte freundlich, weitaus zu freundlich, jedes einzelne Wort war sorgsam abgewägt und ausgesprochen gezielt betont.
"Ich begrüße dich noch einmal, Amélie. Ich hoffe, dass deine Reise nicht zu umständlich war. Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Es muss doch an diesem schrecklichen Tag auf Neu Corethon gewesen sein, oder?"

Ich nickte leicht, merkte, wie mein Blick von ihm abglitt. Aus irgendeinem Grund blieb er auf der Tür hängen, hinter der seine Frau und sein Sohn sich aufhielten. Ja, versteckten.
"Wohl wahr, Werner. Genau dieser Tag."

"Viel ist seitdem passiert, Amélie. Ich habe Franz damals verloren. Damals ist er von mir gegangen. Ich vermisse ihn sehr, Amélie. Aber seitdem habe ich versucht weiterzumachen. Wie du siehst, habe ich eine Frau und einen kleinen Sohn. Ich habe ihn auch Franz genannt, als Erinnerung an meinen Bruder. Du wirst sicher auch viel erlebt haben?"

"So ist es, Werner." Ich seufzte auf. "Hör zu, deshalb bin ich nicht hier. Du weißt es doch bereits.."
Werner hob seine linke Hand ein wenig. Er deutete mir an, nicht weiterzusprechen.

"Das Haus unserer Eltern war hier in der Nähe. Nicht weit entfernt hat meine Mutter uns drei auf die Welt gebracht. Es mag zwar die andere Seite des Silberlaufs gewesen sein, aber das Leben war sehr ähnlich. Es wird nicht die einfachste aller Kindheiten gewesen sein, aber ich war froh, dass ich meine Brüder hatte. Franz, Patrick und ich. Viel ist damals passiert, oh und natürlich dieses Unglück.
Ich möchte nicht, dass mein kleiner Franz auch so aufwächst. Ich möchte ihm ein behütetes Heim bieten, in dem er groß werden kann. Wenn er dann eines Tages alt genug ist, darf er sich seinen Weg selbst aussuchen. Klingt das nicht .. beneidenswert?"

"Das ist es. Ausnahmslos beneidenswert, Werner."

"Ich wünschte, dass Franz meinen Sohn gesehen hätte. Er wäre bestimmt ein guter Onkel gewesen; vor allem sehr stolz. Wenn er noch hier wäre, würde er sich sicher gut um seinen kleinen Franz kümmern. Sie würden mit einem Korb voller Früchte hinausspazieren und am Abend erst wieder heimkehren. In der Zwischenzeit würden sie die Wälder unserer Kindheit erkunden, allerlei Insekten und Tiere fangen, am Wasser entlanglaufen und den ganzen Tag nur lachen. Wie herrlich es wäre, wenn er den ganzen Tag nur lachen könnte."

"Du hast dich verändert. Sehr verändert. Aber so haben wir uns vermutlich alle verändert. Wer hätte es auch verhindern wollen; oder können."

Werner lächelte mich freundlich an. Seine Augen schienen kurz auf, aber tief drin, tief in seinem innersten Kern war nichts von diesem Lächeln ehrlich. Es war so vorgespielt, wie dieses ganze Gespräch.
"Du hast dich auch verändert, Amélie. Genau so, wie es Raphael Bonnington getan hat. Die anderen hätten sich auch bestimmt noch mehr verändert, daran glaube ich fest. Ich weiß, lass uns zum Grund deiner wahrlich beschwerlichen Anreise kommen. Du bist wegen etwas hier."

"Du hast dieses etwas von Franz erhalten, oder Werner? Ich würde dich bitten es zu holen und mir zu geben. Und danach .. würde ich dich bitten mit mir mitzukommen."
Die Pause, die ich in meinen Worten ließ, dauerte gefühlt ewig. Es kostete mich einige Überwindung den letzten Teil meiner Bitte auszusprechen. Werner wusste ebenso gut, wie ich, dass es keine Bitte war. Und doch; konnte ich es nicht anders formulieren. Schließlich lauschten seine Frau und sein eigener Sohn hinter der nächsten Tür. Was hatte er ihnen gesagt? Was hatte er ihnen vorenthalten? Ich hoffte, nein ich betete in diesem Moment nur dafür, dass er sein Schweigen bewahrt hatte. Für sein und mein Wohl.

"Ich hole es gleich. Ich hole gleich Franz Armreif. Ein Erbstück unserer Mutter. Er bedeutet mir viel, aber du sollst ihn haben. Du brauchst ihn mehr als ich, so glaubst du zumindest. Vorher lass uns aber noch ein wenig sitzenbleiben. Ich würde dich gerne noch einige Dinge fragen. Wir haben uns schließlich so lange nicht mehr gesehen."

Ich nickte sanft. Diesen Wunsch würde ich ihm gewähren, es war das Mindeste. Und er sollte so viel erfahren, wie er wollte. Mittlerweile war es mir wirklich gleich in welchem Wissen wir diese Welt verlassen. Was würde es auch ändern? Ein mit Blut beflecktes Schwert ist am Ende ein mit Blut beflecktes Schwert. Eine schwarzgefärbte Seele ist am Ende eine schwarzgefärbte, unreine Seele, die nur ein Ziel finden wird.

"Wie geht es Uriel? Ich habe es leider versäumt ihm hin und wieder einen Brief zu schreiben. Und mittlerweile ist es wohl auch zu spät es nachzuholen."

"Ihm geht es gut, auch wenn du sicher an seiner Seite fehlst. Er wäre sicher beeindruckt, wenn du ihm sagen würdest, was aus dir geworden ist."

"Dafür ist es nicht mehr die rechte Zeit, oder Amélie? Sag, was macht Raphael? Ist er immer noch in den Unbekannten Landen?"

Ich nickte stumm. "Damals, wie heute. An selber Stelle."

"Ah, sehr gut. Mein tiefstes Beileid für den Verlust an Jule. Sie war stets eine frohmutige Person."

Und wem es an dieser Stelle noch nicht bewusst wird, er wusste es. Er wusste alles. Er wusste über jede einzelne Person und jedes einzelne Details Bescheid. Wie lange hatte er hier schon auf mich gewartet? Er hatte in dem tiefen Wissen eine Familie gegründet, dass ich irgendwann vor seiner Tür stehen würde und es zu Ende bringen wollte. Werner hatte so lang gewartet und es trotzdem riskiert. War es rücksichtslos von ihm? Trotz des bevorstehenden – letzten – Unglücks eine eigene Familie in diese so triste, so grausame und gleichzeitig so wunderbare Welt zu setzen? Ich hätte ihm gerne diesen Vorwurf gemacht; aber .. wozu? Hier waren wir schließlich. Nur wir beide. Und wir beide wussten genug.

Eigentlich wussten wir beide viel zu viel. Erst deswegen war ich schließlich hier. Wissen.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, konnte meine aufgestaute Wut nicht länger in mir halten. Ich versuchte immerhin noch einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren und meine Hände unter der Tischplatte zu verstecken, doch sah Werner schnell durch mein tiefes Schnaufen hindurch.

"Es gibt keinen Grund mehr für solche Wut gegen uns, Amélie. Warte hier. Ich hole dir Franz' Geschenk."
Mit diesen Worten erhob sich Werner und ging an dieselbe Tür, hinter der seine Frau und der kleine Franz warteten. Ich erhob mich bereits vom Tisch, wenngleich ich auf der Stelle stehenblieb. Mit einem sanften Stoß drückte Franz Bruder die Tür auf und trat hinein. Am Ende des Raumes stand ein großer, hölzerner Schreibtisch. Mehrere leere Tintengläser und einige abgebrochene Schreibfedern lagen nebeneinander auf der oberen Ablage. Auf der Schreibfläche darunter erblickte ich einen großen Stapel knallroter Briefumschläge, genau dahinter lag er bläulich schimmernd – Franz angeschmorter Armreif.


Ich habe Angst.
So unbeschreibliche Angst.
Ich weiß, dass das Unvermeidbare bevorsteht.
Endlich.

Es hat so lang gedauert.
Doch viel größer,
als der Preis der Zeit,
waren die Leben,
die Tragödien,
und meine Seele.

Was ist nur aus mir geworden?
Ich habe jeden Sprung gewagt.
Und jedes Mal,
fand ich mich nur weiter,
näher,
am Abgrund,
wieder.

Es gibt kein Entkommen,
und erst recht kein Entrinnen.
Und für alles,
was ich tat,
gibt es nur eine Konsequenz.

Wenn die Sonne nicht mehr aufgeht,
wenn die Blumen nicht mehr aufblühen,
und der Regen nicht mehr niedergeht,
erst dann,
erst dann,
werde ich verstehen
und wirklich begreifen,
wie naiv ich doch war.

Bald schon sind wir jenseits des Schicksals,
jenseits jeder Zivilisation,
bald schon sind wir endlich da.

Setzen die letzten Segel meiner Träume,
lassen den letzten Tag hereinbrechen
und fahren über die Nacht hinaus.
Nichts wird mehr einfach geschehen,
und niemand wird seine Arme mehr um mich legen,
und doch darf ich nicht aufgeben.

Entgegen aller Angst,
entgegen aller Panik,
denn meine letzte Stimme schreit
hoffentlich nicht vergebens.





RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 06.05.2021


XXXIII – Dunkelheit

Heiliger Sôlerben,
Bringer des Lichts,
Fürst des Himmels,
sei mein strahlendes Licht am Horizont,
sei meine Führung inmitten tiefster Dunkelheit.

Zeige mir den Weg,
der mir ohne dein Licht verborgen bleibt.
Strahle so hell,
dass die Nacht zum Tage wird.
Lass kein Übel ungeschoren,
und keine Seele allein.

Führe uns aus der Angst
in die ewige Wahrhaftigkeit.
Lasse deinen Phönix aufsteigen
und seine brennenden Schwingen
den Himmel in glutrotes Feuer tauchen.

Nur aus der Asche
steigen wir erneut auf
und erfahren deine gewonnene Herrlichkeit.

Richte diejenigen, die unsere Seelen verderben wollen,
bestrafe diejenigen, die deinem Wesen entgegenstehen,
verzeihe denjenigen, die dir naiv und taub begegnen,
wahre Güte, wo sonst Strenge regiert,
und lasse doch niemals dein Licht verklingen.

Heiliger Sôlerben,
Bringer des Lichts,
Fürst des Himmels,
sei mein strahlendes Licht am Horizont,
sei meine Führung inmitten tiefster Dunkelheit.

Lasse uns nicht länger allein,
lasse diese Welt auflodern,
bis die Sünden durch dein loderndes Feuer vergangen sind
und nur noch die Wahrhaftigkeit bleibt.


Werner warf mir den Armreif fast schon freundschaftlich zu. Als wären wir nur in ein kindliches Ballspiel verwickelt und würden uns eine kurze Auszeit nehmen. Aufgeregt, mit unruhiger Hand, fing ich diesen letzten Gegenstand meiner Reise auf. Ich sah dabei vermutlich ziemlich ungeschickt aus, aber .. was kümmert es mich überhaupt noch? Was habe ich denn noch zu verlieren? Einen Ruf?

Er war jedenfalls endlich mein. Endlich. Der leichte Schimmer des diamantenen Armreifs war trotz der Spuren von Ruß und Asche noch geblieben, unscharf reflektierte mein eigenes Antlitz auf der metallenen Oberfläche. Ich wendete meine Augen schnell ab, konnte dieses Gesicht nicht ertragen. Nicht eine Sekunde wollte ich mich länger sehen, bis es endlich vorbei ist. Bis meine Sünden reingewaschen sind und diese Welt gänzlich in Flammen steht.

Ich legte den Armreif auf der Kante des Tisches vor mir nieder. Erst dann setzte ich mich erneut, wartete bis Werner zurückkehrte und sich ebenso wieder auf seinen Platz begab. Die Tür zu seinem Sohn schloss er mit einem lauten Knall hinter sich. Als wollte er ihnen deutlich machen keinesfalls aus dem Zimmer zu kommen. Niemals. Schließlich wusste er, dass es mit dem Armreif noch längst nicht vorbei war. Nein, das war nicht der einzige Grund meiner Reise.

"Was wirst du nun tun, jetzt, wo du beinahe alle Gegenstände beisammen hast? Was wirst du nur tun, Amélie?" Werner legte seine Hände übereinander, sah mich mit beinahe gläsernem Blick an.

"Sie vereinen. Sie vereinen und es ein für alle Mal beenden."
Mein Blick glitt an ihm vorbei, obgleich sein Gesicht ohnehin völlig verschwommen war. Hinter Werner an der Wand stand seine alte Zwiebelrüstung. Sie war sauber geputzt und aufgetürmt, als müsste er nur noch hineinschlüpfen. Ein Andenken aus alten Zeiten? Auch Werner konnte seine Vergangenheit nicht einfach vergessen und abwerfen, auch wenn er es noch so sehr versuchte. Nichts würde die Zeit an der Seite von Uriel oder Michael Bonnington vergessen lassen, nichts würde seine Berufung als Riedländer auslöschen. Nicht einmal das Ende Riedlands hatte ihm sein Leben genommen, denn für Werner war ein eigenes, gänzlich anderes, Ende bestimmt worden.

Es tat trotz allem oder gerade deswegen so elendig weh hier zu sein, diese Farce von Gespräch zu führen und gleich das Unvermeidliche tun zu müssen. Und danach wartete nur noch ein weiterer , noch steilerer Abstieg, tief hinunter in das Tal des Abgrunds. Erst am Boden würde ich wieder aufstehen können oder für immer gefesselt bleiben. Ehrlich gesagt habe ich mir schon lange gedacht, dass es dann kein Zurück mehr gibt. Es wäre zu einfach, wenn wir unsere Sünden einfach rückgängig machen könnten. Aber nur theoretisch, nur vollkommen theoretisch – wäre es nicht eine traumhafte Welt, wenn wir unsere Fehler einfach ungeschehen machen könnten? Als wären sie nie passiert? Wenn Deyn Cador uns immer einen neuen Versuch geben könnte, damit wir es einfach nochmal probieren? Bis alle zufrieden sind.

Ich muss niemandem mehr vormachen, dass diese Welt nicht das Ergebnis dieser grauenhaften Reise sein wird. Ich kenne den Ausgang selbst noch nicht; werde ihn vielleicht auch nie erfahren, aber solch ein glückliches Ende bleibt uns allzeit verwehrt. Im Grunde flüchten wir doch nur mehr vor immer mehr Leid, Grausamkeit und Feindseligkeit. Und wenn wir dieses Leben halbwegs gemeistert haben, erwartet uns die Glückseligkeit.
Ein gerechter Tausch?

Mit meiner verkrampften rechten Hand griff ich unter meinen Plattenpanzer und zog einen kleinen, mittlerweile völlig geschundenen, Stapel Briefe hervor. Raphaels Worte, die ich einst bei seinem Bruder Uriel Bonnington für Werner mitgenommen hatte. Mit einem angewiderten Blick schaute Werner zu mir herüber, als ich ihm den Stapel unsauber zuschob. Mit beiden Händen nahm er den obersten Brief vor sich, lies seinen darauf stehenden Namen vor.
"Werner Gerber."
Er drehte den Brief mehrfach, bevor er ihn direkt in der Mitte zerriss.
"Meinst du tatsächlich, dass ich Raphael Bonningtons dreckige Worte noch lesen will? Ich habe die Beschwichtigungen dieses alten Mannes satt. Nichts gönnt er ihm, nichts. Seine Worte sind das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben hat. Jeder Tropfen Tinte ist eine Vergeudung von Zeit und Wert, nein, Amélie. Ich bin dir zwar dankbar, dass du sie all den Weg für mich mitgenommen hast, aber diese Arbeit hättest du dir tatsächlich sparen können."

Ich seufzte leise aus, bevor ich meine eigene Stimme wieder erhob.
"Was glaubst du, wollte uns Franz damit sagen? Er war schließlich dein Bruder, vielleicht .. weißt du, was seine Botschaft sein könnte."

Werner lächelte ein wenig auf. "Ich bin froh, dass du mir diese Frage stellst. Ich glaube fest daran, dass Franz dieselben Gedanken hat, wie ich. Er will nicht vergessen werden. Er will nicht, dass sein grenzenloses Opfer einfach mit den Gedanken der Toten verschwindet. So, wie du es willst und vorangetrieben hast, Amélie."

Ich biss mir zaghaft auf die Unterlippe, merkte schnell, wie sich mein eigenes Blut an den Kanten meiner Zähnen sammelte. Ein leichter, eiserner Geschmack umgarnte meine Zunge.
"Ich .. ich habe nicht..."
Meine Stimme versagte schlichtweg. Ich bekam kaum mehr ein Wort heraus.

"Doch, du hast. Ich verstehe, dass du es verdrängen wolltest. Ich würde es an deiner Stelle vermutlich nicht anders wollen, aber fest steht, dass du hast. Deine Hand hat sie alle auf dem Gewissen, Amélie. Könntest du ihnen ins Gesicht blicken und ihnen sagen, dass du es nicht warst? Das es eigentlich nicht deine Schuld ist? Meinst du ich war all die Jahre untätig und habe dich nicht beobachtet? Ich weiß es doch ganz genau, Amélie."

Ich schüttelte nur mehr den Kopf. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, hatte er Recht. Jedes einzelne Wort war gezielt, zutreffend stechend und traf tief in mein Herz. Er hatte sie sich vermutlich schon vor Wochen zurechtgelegt, seitdem er wusste, dass ich irgendwann hier bei ihm eintreffen würde. Ich konnte mich auch nicht gegen seine Worte wehren. Vielleicht wollte ich auch nicht. Schließlich führte er mir so vor Augen, was ich so lange versuchte vor mir selbst und allen anderen geheim zu halten. Und dennoch log ich eigentlich nur die ganze Zeit eine Person an – mich selbst.

"Wie würde Jule reagieren, wenn du ihr sagen würdest, dass du sie in den Tod geschickt hast? Zugegeben, an Jules Ableben trägst du vermutlich noch die geringste Schuld. Aber sicherlich hättest du sie niemals alleine gehen lassen, wenn du nicht hättest ahnen können, worauf es alles hinausgelaufen ist. Oder Amélie? Wäre es nicht so gewesen?

Du hättest sie fest in deinem Griff gehalten, denn du wolltest sie nicht verlieren. Dabei wusstest du, dass es so kommen musste. Trotz deiner narrenhaft großen Sympathien für Jule konntest du es nicht abwenden . Und dann kam es dir sehr gelegen, dass andere deine blutige Schmutzarbeit übernommen haben."

"Ich .. ich .. "
Ich stammelte eine Weile vor mich hin. Einige Tränen sammelten sich in meinen Augen, während sich einige unbändige Wut in mir aufstaute. Ich wusste, dass ich es durchhalten musste. Er würde es nicht bei Jule belassen. Er konnte nicht bei ihr aufhören.
Ich ... war ihm gewissermaßen sogar dankbar dafür. Er deckte auf, was ich blockierte und aus meinen Gedanken aussperrte. Vergeblich, ja. Aber ich habe diese Welt zu einem immer blutigeren Schlachtfeld gemacht. Ich habe umgesetzt, wozu mich andere gedrängt haben. Ich mich selbst gedrängt habe.
Wozu? Tja, wozu?
"Ich hätte .. es selbst nicht geschafft. Nicht Jule. Nein, nicht Jule. Jeder Tag mit diesem Wissen ist grausamer, als der Vorangegangene. Sie fehlt, sie ist weg. Für immer weg. Verflucht."

"Sie ist für immer ewig, ja. So wie es all die anderen sind. Lassen wir an dieser Stelle Buji Beg aus, sein Schicksal hast du nur mit Peitschenhieben vorangetrieben. Mit seinen Zielen und Idealen hätte er vermutlich nur noch ein paar Jahre zu Leben gehabt. Aber trotzdem hast du ihm mit deiner selbsterdachten Reue auch die letzte verbliebene Hoffnung genommen."

"Hoffnung? Hoffnung worauf?"
Meine Zähne bohrten sich tiefer in meine Lippe hinein.
"Es gibt keine Hoffnung mehr; es gibt sie schon lange nicht mehr. Wer sich mit den falschen Mächten einlässt, hat keine Hoffnung mehr verdient. Schau mich nur selbst an. Worauf soll ich noch warten? Worauf wartest du noch?"

Werner setzte sich gerade in seinem Stuhl auf, lächelte mich weiter mit einem sanften Gesichtsausdruck an.
"An dieser Stelle gebe ich dir ausnahmsweise vollends recht. Wir haben nichts mehr, worauf wir warten können oder dürfen. Es ist alles vergangen. Aber er? Nunja, Deyn wird sich sicher gewissenhaft um ihn kümmern.

So sehr, wie du dich auch um Drevin Cray gekümmert hast, nicht wahr? Was soll ich sagen, Amélie? Ihr habt dem armen Herrn das Leben umgedreht. Natürlich, ihr habt es ihm auch zurückgegeben. Aber ihm eine Fluchtroute aufzeigen und ihn dann heldenhaft einfangen und erledigen? Hin und wieder gesteht man dir ja eine gewisse Einfältigkeit zu, aber wenn ich deine Pläne recht überdenke, bist du tatsächlich Saltzbrandts gewieftes mordendes Händchen. Wie hat es sich angefühlt ihn so zu "hintergehen"?

"Verflucht, Werner. Sei einfach still. Sei einfach nur still. Du kennst die Antwort doch, du weißt wie unglaublich hart es ist einen wehrlosen Jungen abzustechen. Keine Klinge gleitet härter, als die der Sünde. Du weißt es doch am besten, du .."
Ich schüttelte nur noch den Kopf. Meine Lippe mag mittlerweile ein einziges Blutbad gewesen sein, doch machte Werner keine einzige Anmerkung über meinen Zustand. Er sprach einfach ruhig weiter.

"Nein, noch nicht. Noch ist die Zeit nicht gekommen. Martynas Litwers Zeit hast du hingegen kommen lassen."
Sichtlich zufrieden mit seinem Wortspiel ließ er eine kurze Pause vollkommener Stille verstreichen. Keine Stille, die mir besonders gut tat. In meinem Magen verknotete sich alles. Ich spürte die Wut weiter in mir ansteigen, konnte mich aber noch zurückhalten. Ich war selbst erstaunt, wie ich meine Emotionen so lange in mir halten konnte. Eigentlich hätte ich nur meine Klinge ziehen müssen und es beenden können, aber .. ich wollte ihm wenigstens diesen Sieg zugestehen.
Um ehrlich zu sein, wollte ich mir eher diese Niederlage eingestehen.

"Ein paar angesägte Balken in einem baufälligen Haus und der alte Mann siecht dahin. Gut, du hättest nicht ahnen können, dass es so schnell geht, aber .. so konntest du ein weiteres Ziel erfüllen. Damit war auch dieser alte Mann dahingeschieden, es reichte schließlich, dass er einmal dabei half deine Welt zu drehen. Die Heilige Schrift zu übersetzen und zu publizieren, was für ein wahnsinniges Unterfangen. Natürlich musste man ihn dafür "belohnen", indem man ihn mit einem riesigen Berg aus Schutt begräbt. Immerhin hast du ihm seine letzten Tage versüßt, du großzügige Schlächterin."

Ich ließ meine rechte Hand unter den Tisch gleiten, hielt sie aber ruhend an meinem Gürtel. Krampfhaft umgriff ich ihn, bevor ich das Schwert auch nur anpacken konnte. Deyn tat es weh. Deyn war es grausam. Ich hätte niemals gedacht, dass ..
Ich weiß nicht einmal mehr, was ich gedacht oder erwartet habe. Nichts war mehr, wie es war. Nichts war, wie es sein sollte. Das Feuer Sôlerbens brennt noch. Und solange muss ich weitermachen. Dieses Wissen brachte mich in diesem Moment wieder auf den richtigen Pfad. Mit der freien Hand wischte ich mir die Tränen aus den Augen, strich mir mit dem Handrücken über die Lippe.

Mit einem festen Blick schaute ich Werner an. Mein verheultes, blutiges Antlitz ließ mich endgültig lächerlich erscheinen, aber wie sollte ich mich in dieser Situation noch zusammenreißen? Auch ich bin nur ein Mensch. Ein kleiner, erbärmlicher Mensch.

"Wie war es Rupert Seelbach den letzten Anstoß zu geben? Hast du überhaupt versucht ihn wieder aufzubauen oder ihm gleich mitgeteilt, dass alles keinen Sinn mehr hat? In einer der erbärmlichsten Barracken von ganz Asmaeth war unser alter Seebär gestrandet. Und dann erhängt er sich vor deinen wachsamen Augen. Was hätte er sich mehr wünschen können, Amélie? Was hätte er sich nur mehr wünschen können?

Letztlich hast du bekommen, was du haben wolltest. Du hast ihnen Franz' Gegenstände abgenommen und sie alle hierhergebracht. Lass mich raten, die zusätzliche Rüstung an deinem Pferd ist die Brustplatte von Franz? Du hast sie sicherlich bei Jule gefunden, nicht wahr? Damit solltest du nun alles gesammelt und deine grausame Suche beendet haben. Meinen Glückwunsch. Nicht nur hast du all deine verbliebenen Freunde und Kameraden ermordet, sondern gleich noch ein paar Morde für die Sôlaner miterledigt. Oh, und wie die Welt eure blutigen Kreuzzüge akzeptiert. Ein notwendiges Übel, magst du denken?"

Ich schüttelte nur noch den Kopf. Meine Hand legte sich um den Schwertgriff, das kleine Lederband hatte ich mit einem Fingerstreich bereits aus der Schlaufe gezogen. Nunmehr wartete ich nur noch. Ich wartete darauf, dass er endlich fertig war und wir hinausgehen konnten. Hinausgehen, um auch Werner Gerber zu seinem Ende zu bringen.

"Ah, darüber bist du hinaus. Immerhin. Auch ich habe lange Zeit geglaubt, dass Franz ein notwendiges Übel für uns auf sich genommen hat. Eine noble Bürde, der er nun ewig erlegen ist. Aber dem ist nicht so, Amélie. Wir vergessen Franz einfach nur, lassen ihn schmoren. Aber so darf es nicht kommen. Diese Welt, diese verfluchte vermaledeite Welt, sie darf nicht vergessen, was mein Bruder für sie getan hat.
Ich habe nicht all diese Jahre Menschenleben auf den Kopf gestellt und so tief gegraben, wie niemand anderes. Nicht einmal meinen Sohn konnte ich beim Aufwachsen beobachten, weil ich immer an eurer Verse bleiben musste. Und was macht ihr? Leugnen, Verbergen, Totschweigen. Und dann du, ja du, Amélie. Marodierend und mordend ziehst du durch die Lande!
Dabei will ich doch nur eins:
Jeder einzelne Mensch, jedes einzelne Tier und Insekt, soll wissen, was Franz auf sich genommen hat. Sie sollen seinen Namen kennen. Sie sollen wissen, wonach er gestrebt hat. Sie sollen ihn verehren, wie sie es mit Jakobus machen. Nichts anderes hat Franz verdient. Es ist das, was wir ihm schuldig sind. Was jeder einzelne ihm schuldig ist. Steh ihm nicht im Weg. Lass meinen Bruder nicht in Vergessenheit geraten."

Mir entglitt nur ein leichtes Nicken. Vermächtnis und Verehrung, hm? War es das, was Franz wirklich wollte? War das sein Grund für uns hinter den Schleier zu treten? Ich bezweifle es. Aber Werner, er glaubte so innig daran, wie an meine Schuld. Vielleicht hat er recht, vielleicht habe ich recht. Einen Unterschied wird es nicht machen. Wer erinnert sich schließlich an die noblen Helden dieser Welt? Wir geraten doch alle nur in Vergessenheit. Sterben elendig am Strick in der Gosse, werden von den Resten unseres Lebens zerquetscht oder von Schwertern durchbohrt. Wir sehen unsere Lieben vor unseren eigenen Augen sterben und den Rest unserer Zukunft zu Scherben zerfallen.


Werner stand nach einer kleinen Pause auf. Wortlos ging er zur Fronttür, öffnete sie und deutete mir den Weg voran. Ich trat mit einer Hand am Schwertknauf an ihm vorbei, ließ beide Augen jedoch wachsam auf ihm ruhen. Er war unbewaffnet, trug nur ein halbwegs gut verdecktes Kettenhemd unter dem dicken Hemd. Nachdem ich vor die Türschwelle getreten war, schloss er die Tür hinter sich und ging einige Meter mit mir.
"Ich darf mit hoffentlich einen Platz aussuchen, oder? Wenn, dann am Silberlauf. Dort, wo alles begann."

Während wir um das Haus herum an dem kleinen Bach entlangliefen, verdunkelte sich mit einem Mal der Himmel über uns. Ein dichtes Wolkenmeer zog auf. Als wir endlich angekommen waren und Werner mit mit einer leicht erhobenen Hand den Ort wies, setzte ein leichter Regen ein. Werners Blick glitt immer wieder über das kleine, ruhig daliegende Städtchen. Nur noch ein paar Baugründe und -gerüste waren verblieben, der Großteil der Stadt war nach dem Angriff der Glühenden Klingen wiederaufgebaut worden. Aus Werners Blick konnte ich leicht ablesen, dass er einen großen Teil bei der Wiederherstellung seiner alten Heimat beigetragen hatte, nachdem ihm dieser Ort auch den letzten Rest seiner Familie genommen hatte. Dennoch war er zurückgekehrt, dennoch hat er nicht von Silberlauf abgelassen. Unnachgiebig hat er sich festgebissen und nicht aufgegeben.

Umgeben von dem leise auf das Flusswasser plätschernden Regen, zog ich meine Ordensklinge aus ihrer ledernen Scheide. Werner nahm beide Hände vor den Bauch und sah mich mit einem abschließenden, zufriedenen Lächeln an.
"An dieser Stelle habe ich damals Patrick verloren. Vor vielen, vielen Jahren, als ihn unser Dorfpriester in den Fluss gestoßen hat. Ich habe lange nicht verstanden, was einen Menschen Deyn Cadors zu solch einer grotesken Tat treiben konnte. Ehrlich gesagt verstehe ich es immer noch nicht, Amélie. Er hat es nicht einmal zugegeben. Ein Unfall, ja, sicherlich musste es ein Unfall gewesen sein. Wir haben es auch alle geglaubt, denn wer misstraut schon Deyn Cador und seinen Dienern?"
Auch nach seinen Worten blieb das Lächeln auf seinen Lippen. Fast schon süffisant schaute er zu mir herüber.
"Und dann stehst du hier. Natürlich stehst du hier. Eine Dienerin des Herren Deyn Cador. Und sicherlich wird es kein Unfall sein; als ob sich die Geschichte wiederholen würde. Ich würde mir wünschen, dass du immerhin dazu stehen würdest, Amélie."
Werner nickte. Er nickte mit einem so überaus selbstzufriedenen Lächeln, dass ich einfach nicht anders konnte.

Ich schloss für einen Moment die Augen, ehe ich das Schwert in die Höhe hob. Hunderte, wenn nicht tausende Dinge gingen mir durch den Kopf. War es überhaupt noch richtig, was ich hier tat? War es jemals richtig? Gibt es wirklich kein Zurück mehr?
Ich presste meine Lippen aufeinander, strich über die nur noch mehr leichten Bisswunden auf meiner Unterlippe. Ich spürte den Regen auf meinem Gesicht, leicht und kühl. Wie ein begleitendes Orchester taten der rauschende Bach und das Wasser des Himmels ihr Übriges.

Und dann ließ ich meine Klinge endlich hinabfahren.

Eigentlich hätte es so schnell gehen müssen. Eigentlich ging es auch sehr schnell. Mein Schwert krachte auf Werner herunter, der plötzlich seinen linken Arm hochriss. Das Metall meiner Klinge traf klirrend auf das verborgene Plattenstück an seinem Arm.
Werner machte einen schnellen Sprung auf mich zu. Ich realisierte noch längst nicht, was vor sich ging. Mein Schwert glitt mir aus der Hand, als er sich mit seinem gesamten Gewicht gegen meine Panzerplatten drückte. Mit beiden Armen versuchte ich die schmerzverursachenden Stellen im Gesicht zu packen; und doch gelang es mir nicht seinen unbändigen Willen zu brechen. Werner presste sich mit seinem überraschend geübten und muskulösen Körper gegen mich. Sein wuchtiges Gewicht ließ mich zurückweichen.
Ich bemerkte, wie wir gemeinsam den leichten Abhang zum Silberlauf hinabfielen, wir stolperten.
Die einzigen Geräusche, die ich inmitten des Regens noch vernahm, waren die Worte Werner Gerbers:
"Für meinen Bruder, für Franz, denn ich breche diesen Fluch! Du bist der Fluch! Du allein!"
Mein gesamter Körper wurde unter Wasser gezogen. Ein Bad aus aufsteigenden Blasen umringte mich und Werner. Keuchend sank mein Kopf unter Wasser, wo ich ein letztes Mal in die Augen Werner Gerbers blickte.
Und dann, ja dann wurde alles schwarz. Die Scherben vergingen und einzig die Dunkelheit blieb.

... die Dunkelheit blieb und ich bekam endlich das, was ich verdient habe. Ich werde auf euch warten, hier am Lager des Todes vor der Schlucht Dysmar. Sôlerbens Licht ist vergangen, längst vergangen und erloschen.


Sôlerbens Licht so strahlend schön,
so entfernt wie nah herdran.
Werden wir es jemals wiedersehen?
Wird es uns eines Tages wieder umschließen?
Der einzige Weg führt mit festem Schritt,
entgegen dieses Lichts.

Denn wenn nichts mehr bleibt,
haben wir auch nichts mehr zu verlieren.
Nur mehr unsere Leben,
entscheiden über all das,
was wir waren,
was wir sind,
was wir werden.
Konsequenzen und Sünden vergehen,
nur mehr die Taten bleiben.
Vielleicht war doch nicht alles umsonst.
Wer weiß das schon?


Ich bedanke mich bei allen Lesern von Sôlerbens Licht für das Verfolgen dieses hoffentlich halbwegs spannenden und interessanten Abenteuers. Ich konnte jedenfalls viel für mich mitnehmen, insbesondere was das Schreiben angeht. Für jedwede Kritik und Anmerkung bin ich - wie immer - äußerst dankbar.