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[Tagebuch] Sôlerbens Licht - Druckversion

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RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 27.05.2020


VII – Weidtland

28.12.1351

Schon nach wenigen hunderten Metern, die ich Asmaeth verlassen hatte, fühlte ich eine Last von meinen Schultern gleiten. Als ob unsichtbare Hände mir wenigstens etwas von dem Schmerz nehmen wollten. Warst du es, Deyn Cador? Oder bedeutete mir Rupert Seelbach einfach nur so wenig, dass ich mich nach nicht einmal einer Stunde mehr schuldig fühlte? Was passierte hier nur mit mir? In mir?

Seitdem ich das Schiff vor Neu Corethon bestiegen und mich auf die Suche nach Antworten gemacht habe, zerpflückt es mich. Erst begann es mit den Albträumen, dann mit der Zweiflerei und nun hörte es für den Augenblick mit meinen bohrenden Schuldgefühlen auf. Ich bin mir sicher, dass es damit noch lange nicht vorbei sein wird. Was ist nur anders? Fehlt mir der Halt meiner werten Kameraden? Die Zusammengehörigkeit und Kameradschaft innerhalb des Glaubens? Die Nähe und Vertrautheit? All diese Fragen kann ich sicher bejahen und doch nur so wenig dagegen tun. Immerhin habe ich Yuki.

Ich lehnte mich nach vorne, streichelte vorsichtig seinen Kopf während sein langsamer Trab uns die weiten und ausgelaufenen Wanderpfade entlang von Asmaeth wegführte. An unserer linken Seite lief die Lage ruhig plätschernd in entgegengesetzter Richtung in den hinter uns liegenden Ozean ein. Die großen Lastenkähne trieben mit all den Waren vom Inland des Königreichs ebenso sanft schaukelnd den weiten Fluss hinab. Das allumgebende Grün der Wälder und Wiesen an meiner rechten Seite hatte fast einen beruhigenden Einfluss auf mein angekratztes Gemüt. Hin und wieder mag das Gerufe von Waldarbeitern oder Jägern die natürliche Stille unterbrochen haben, aber nur selten durfte ich während meines Ritts tatsächlich Menschen erblicken.

Die Wandersleute und Händler auf ihren Eselskarren waren dabei wenig gesprächig, vermochten aber stets einen freundlichen Gruß zu überlassen. Sie suchten sogleich weiter ihren Weg in die weidtländische Haupstadt. Der Süden Albions war wahrlich ein beschauliches Land, eines das noch nicht vom Krieg zerissen wurde. Wobei dieser nach den letzten Äußerungen der kaledonischen Klans durchaus noch drohen konnte. Fast ein wenig schade, um all diese schönen Landschaften und einfachen Leben. Sie haben es nicht verdient durch die Machtspiele ihrer Herrscher aus dem Leben gerissen zu werden. Für ein wenig mehr Land und Macht? Für ein wenig mehr Gold in den Schatzkammern der Reichen? Diese Weltordnung ist schon ein wenig absurd, aber sie ist doch letztlich das, was wir Menschen daraus gemacht haben. Deyn hat uns alle Möglichkeiten in die Wiege gelegt, doch die Egoisten fanden ihren Weg nach oben. Wie gütig muss und soll der Einzelne sein? Diese Entscheidung sollten wir alle selbst treffen, denn irgendwann stehen wir vor der Wahl. Einer unausweichlichen und unschönen Wahl. Möge Deyn sich unserer aller Seelen annehmen.

Ich schlieg in Yukis Zügel und ließ ihn ein wenig schneller über die weitläufigen Ländereien traben. Die Lage sollte uns noch einige weitere Tage begleiten, bis wir endlich ein wenig Abstand vom steten Rauschen des Flusses gewinnen konnten. Unser Weg führte uns allmählich durch mehrere kleine Dörfer und Siedlungen, entlang von Schafszuchten und kleineren Bergen südlich der Kleinstadt Dornbach. Wir würden sie noch passieren müssen, bevor wir die Anfänge des Maunas hinaufsteigen könnten, um dann das Kloster Melissengespenst zu erreichen.

Als ein kleiner See in unserer näheren Umgebung auftauchte, beschloss ich unsere Reise für diesen Tag zu unterbrechen. Nach dem kleinen Umweg zum Ufer des Sees machte ich Yuki mit ausreichend Leine an einem Baum fest und ließ ihn freudig die Gräser und Wiesen abnagen. Ich selbst richtete mir meine Hängematte zwischen zwei Bäumen ein und sammelte Äste und Zweige für ein kleines Feuer.

Manchmal vergesse ich auf solchen Reisen, wie anstrengend Reiten sein kann. Völlig durchgeschwitzt und hungrig machte ich mich daran eine Tagesration zu verzehren, es gab sogar ein wenig getrockneten Fisch von der Marktdame, die mir vorher am Tage auf dem Weg begegnet war.

Durchschnaufend legte ich meine Rüstung und Bewaffnung in das Gras, entkleidete mich bis auf mein Leinenhemd und wagte mich erst nur mit den Zehenspitzen in das ruhig daliegende Wasser des Sees. Eine eisige Kälte durchfuhr meinen Körper, nichts hier war zu vergleichen mit den sonnigen und aufgewärmten Gewässern Patriens. Eine nette Erinnerung aus meinem vorherigen Leben, wenn ich es denn überhaupt so nennen darf.

Ich biss die Zähne zusammen und ließ meinen ganzen Körper in das kühle Nass fallen. Die Kälte umgarnte mich, zog in jede Pore meines Körpers ein und ließ alle Müdigkeit und Erschöpfung von mir fallen. Ich stand nur noch schlotternd da, als mein Kopf wieder über die Wasseroberfläche drang. Weidtländer sind vermutlich noch schlimmere Temperaturen gewohnt, aber für mich? Deyn hab Gnade, ich komme aus dem sonnigen Süden. Die Wärme ist doch das, was mein Körper begehrt, und nicht etwa die Kälte! Ich wusch mich. Sehr schnell, um sofort wieder im Laufschritt aus dem Wasser zu treten und mich abzutrocknen. Nachdem ich mir eilig neue Kleider über den Körper geworfen hatte, entzündete ich das Feuer und wärmte mich schon an den ersten Funken auf.

Der Abend war noch jung und bot mir somit einige Gelegenheit zum Nachdenken.

Rupert Seelbach war tot. Er nahm sich in tiefster Angst vor mir, vor meinem Orden und meiner so angesehenen Weltordnung das Leben. Ich kann nicht nachvollziehen weshalb, noch werde ich vermutlich jemals verstehen, wie er zu dem Entschluss kam, dass sein Selbstmord der einzige Ausweg ist. Es ist die schlechteste und abscheulichste Möglichkeit all seinen Problemen zu entfliehen. Jede Hoffnung auf Besserung wird im Sog der Verzweiflung davongeworfen. Er starb nicht so, wie er es verdient hatte. Nicht so, wie ich es ihm gewünscht habe.

Was soll ich sagen, Rupert? Ich bin verschreckt und verstört. Bin ich wirklich solch eine schreckliche Person? Hast du mich immer nur als eine kalte, mordlüsterne Sklavin Deyn Cadors angesehen? Ich dachte immer, dass wir wenigstens dieselben Werte und vielleicht auch Ziele teilen. Lange war ich im Glauben, dass ich immer recht gehandelt habe. Stets in der Annahme für die Allgemeinheit und diese Welt zu streiten, schritt ich Tag meines Lebens umher. So fällte ich meine Entscheidungen und suchte Mittel und Lösung.

Aber anscheinend lag ich falsch. Das war nur mein Weg und Ziel. Du hattest andere Wünsche für dein Leben und das gilt es nicht zu verteufeln, denn auch du warst stets ein Befürworter der Ordnung. Warum also hast du dich für diesen zweifelhaften und erbärmlichen Ausweg entschieden? Sprecht doch mit mir, ihr Menschen auf dieser Welt. Seht mich als grauenhaftes Monster und entstelltes Wesen an, aber sprecht mit mir. Antwortet mir.

Ich werde sühnen, Rupert Seelbach. Ich werde Buße für meine Unachtsamkeit und Naivität dir gegenüber tun. Ich werde Buße für den Wunsch nach deinem Begräbnis tun. Denn nur die Sühne wiegt die Sünde auf.

Und nun? Ich kann auf der einen Seite nicht einmal mehr in klare Worte fassen, was ich von mir, von allem, halte. Aber dann bin ich mir doch so sicher über mein Leben und meine Ziele. Waren all die Taten und Handlungen in meinem Leben für nichts? Missfällt euch etwa, was ich getan habe? Bin ich ein schlechter Mensch, nur weil ich unser .. mein Ziel der Ordnung durchsetzen will?

Es kann nicht sein. Deyn Cador ist unser aller Herr und Hirte, seid nicht blind und taub und hört auf seinem Pfad zu entweichen. Seine Zeichen und Gebote stehen über all unserem Handeln. Wie können wir unser Leben in gemeinsamer Zusammenarbeit verbringen, wenn wir nicht durch ihn geführt werden? Können wir überhaupt ohne ihn leben?

Natürlich nicht. Es darf nicht sein. Führungs- und orientierungslos, wie Vögel in der Dunkelheit oder Schäfchen in einer verschlossenen Höhle. So soll der Mensch nicht sein, so will ich nicht leben  und so soll die Welt nicht belassen werden. So werde ich die Welt nicht sein lassen.


Wie kann ich die Flamme Sôlerbens sein, wenn mein Leben vor mir zerbricht und all die menschlichen Schicksale in Tragödien enden? Deyn, irgendwann musst du mir verzeihen, wenn ich all das nicht mehr kann. Wenn mein kleiner Geist und Verstand an diesen Tragödien und Erlebnissen endgültig zerbricht. Du hast so viel für mich getan und ich opfere mich immer weiter für dich auf. Niemals lasse ich mein Streben nach deiner Ordnung enden. Solange ich einen Schritt setzen kann, werde ich ihn gehen. Hilf mir nach einem Sturz auf, damit ich wieder auf deinen Weg zurückfinde.

Denn alles und jeden werde ich für dich und deine Herrlichkeit aufgeben und zurücklassen. Ich bin um die Welt für dich gezogen und habe dein Antlitz beschützt. Nun brauche ich dich. Gib mir Kraft.


Gib mir all die Kraft,
die ich brauche, wenn sie mein kleines Leben übersteigt,
sodass ich dir all die geliehene Macht mehren und
in ewiger Güte zurückgeben kann.

Hinter mir folgen die Jünger deiner Güte,
gehört und gesehen von deinen Heiligen.
Nachdem wir die ewigen Pfade der Welt
für dich beschritten und gezähmt haben,
um dein Sein zu beschützen.

Für den Schutz deiner Ordnung und entgegen all des Chaos,
verleih mir all die Kraft,
die ich brauche, wenn sie mein kleines Leben übersteigt,
sodass ich das Chaos spalten und die Dunkelheit
vertreiben kann.

Hinter mir bleibt ein Pfad aus meiner Sünde,
meinem Blute und meinem Schweiß,
zurück,
in sühniger Rache deines Seins.

Alles gebe ich für dich,
so hilf mir nur,
dass ich diesen Weg auch antreten kann.

Amen.


Ich sprach mein Gebet und stocherte danach noch ein wenig im Feuer herum. Die Dämmerung war gerade über mir und Yuki hereingebrochen und an Schlaf war ohnehin noch nicht zu denken. Ich weiß, dass ich mir weiterhin Vorwürfe machen werde. Aber irgendwo glaube ich nicht daran, dass nur ich Schuld sein kann. Er hatte so viele Möglichkeiten und entscheid sich letztlich doch für den Alkohol und den feigen Ausweg. Ich war nur ein Stein auf dem Weg dorthin, habe es vielleicht nur beschleunigt oder bestärkt.

Oder doch nicht? Wer kann das schon sagen, nicht wahr? Auf dieser Insel auf der anderen Seite des Leändischen Ozeans leben sie ihre Leben doch auch gedankenlos weiter. Was interessiert sie schon der Morgen, wenn sie den heutigen Tag mit ihren Gelüsten und ihrem Egoismus verbringen können? Was bringt ihnen die Güte Deyn Cadors, wenn der schnelle Erfolg in den ketzerischen Kräften und fernab des Glaubens liegt?

Und wenn sie dann in größter Not Hilfe brauchen, dann fragen sie wieder nach dir, Deyn Cador. So wie es immer und stets ist. Ich bewundere dich, meinen ewigen Herrn, für solche Milde und Wohltätigkeit. Stets kehrst du zu deinen Jüngern zurück, selbst wenn sie dir den Rücken gekehrt haben und nur in der Not nach dir fragen. Ich könnte das nicht. Nein, ich kann das nicht. Seit Jahrzehnten helfe ich deinen Jüngern und Schäfchen und verfolge und bestrafe diejenigen, die gegen deine Interessen agieren. Und ich habe nicht vor von diesem Plan abzuweichen.

Aber dann sind da diese Zweifel, wenn ich ihre verstörten und hasserfüllten Gesichter sehe. Ihre mit Tränen überlaufenen Köpfe oder angespannt geballten Fäuste. All diese Emotionen, die nur hervorkommen, weil ich deiner Ordnung diene. Und damit doch letztlich auch jedem einzelnen, rechtschaffenen Menschen.

Und die Belohnung dafür? Missgunst, Hass, Angst und Furcht. Und immer auch der stets anwesende Tod. Rupert Seelbach, warum tust du mir das an? Warum tust du dir solche ein Ende an? Ruhe in Frieden, Ruhe in Renbolds wiegenden Armen und in Deyn ewiger Herrlichkeit. Nichts anderes wünsche ich dir.

Und mir.


Unruhig kuschelte ich mich in meine Hängematte und zog die Decke über meinen Körper. Yuki hatte sich zuvor schon oft als zuverlässiger Wächter bewiesen und legte sich neben meiner Hängematte ins Gras. Er würde seine Kraft Morgen wieder brauchen, denn wir hatten noch eine Reise von mehreren Tagen vor uns. Im Kloster Melissengespenst würde uns hoffentlich Abt Hugo Feuerstein begrüßen. Auch bei ihm erhoffe ich mir einen Hinweis auf Franziskus Maximilian Gerber. Und damit auf den Grund meiner Prüfung.

Nachdem die Sonne vollends vom Himmel verschwunden und durch den Mond ausgetauscht war, verfiel auch ich wieder in meine Träume. In den vergangenen Tagen hatte ich keine einzige ruhige Nacht, immer wieder kehrten meine Albträume und mit ihnen die schrecklichen Anblicke und Erinnerungen zurück.

Auch in dieser Nacht sollte ich nicht unbehelligt ruhen können, doch immerhin drehte ich mich nicht wieder unsicher in meiner Hängematte umher. Vielleicht ist das meine Sühne bevor ich endlich wirklich meine Buße tun kann?

Mein ganz persönlicher und unvorstellbarer Horror sollte dieses Mal daraus bestehen, dass ich dem gehängten – aber wachen und lebenden – Körper Rupert Seelbachs gegenübergestellt wurde. Sein aschfahler und langsam vor sich hinverwesender Körper raubte mir für einige Augenblicke die Luft, schnürte mir gar den Hals ab. Panisch sah ich mich um, doch fand ich nichts außer gespenstischer Leere um mich herum. Minuten-, wenn nicht sogar stundenlang wich ich dem Anblick Seelbachs aus. Er gab keinen Ton von sich und ich bekam kein Wort aus meinem Mund gedrückt. Egal, wie stark ich es auch versuchte, ich konnte dem jüngsten Schrecken meiner Vergangenheit nicht ins Gesicht sehen. Ihm nicht sagen, was ich empfinde und bedaure. Ich war schlicht und ergreifend zu schwach.

Ich wund mich, wie ein um sein Leben fürchtender Wurm aus meiner eigenen Verantwortung. Aus meiner Gegenüberstellung mit meinen Taten.

Die zerstörten Stimmbänder Rupert Seelbachs erhoben sich unerwartet kratzend und pressten die einzigen Worte dieser Nacht aus ihm heraus. Dies sollte das letzte Mal sein, dass ich seine vertraute Stimme hören durfte:

"Schau mich an, Amélie. Hab keine Angst. Du wolltest immer das brennende Feuer sein. Sei es. Nicht alles, ist deine Bürde. Wer eine Entscheidung trifft, entscheidet sich auch immer für die Konsequenz. Deine Entscheidung ist Deyn Cadors Entscheidung."

Die Worte wogen schwer in meinem Kopf. Sie schellten, wie elendig klingende Glocken mit ihrem unablässigen ringenden Ton. Ich brachte es nicht über das Herz, konnte mich nicht überwinden mich umzudrehen. Ich wagte es nicht ihn anzuschauen. Die Angst meiner Missetaten lag mir so tief in den Knochen, dass ich es mich einfach nicht traute.

Dabei bin ich doch eigentlich so stark – oder vielleicht doch nicht? Wenn ich nur endlich verstehen könnte, was mit mir los ist. Egal, wie lange ich darüber philosophiere oder nachdenke, ich finde einfach keinen Grund oder Anlass für meine Selbstzweifel. So konnte ich ihn doch nicht fortgehen lassen, ich musste diese Chance nutzen. Deyn gab mir endlich die Möglichkeit meinen Schrecken ins Gesicht zu schauen und ich drehe mich weg? Amélie, das bist nicht du. Das ist nicht, wer ich je war und gewesen bin. Das ist nicht, wer ich je sein wollte und geworden bin. Schau ihn an. Blicke ihm in die Augen. Oder du bereust es auf ewig!

Ich nahm all meinen Mut zusammen, ballte meine Hände angespannt zu verschlossenen Fäusten und drehte mich langsam im Traume um. Mit einem tiefen Atemzug zog ich so viel Luft, wie nur irgendmöglich ein und schlug endlich meine Augen auf.

Doch da war kein Rupert Seelbach. Keine vor sich hin rottende Leiche. Keine allumgebende Dunkelheit. Keine Vergangenheit mehr.

Sondern Yukis Kopf und der dahinterstrahlende blaue Himmel Weidtlands. Die Sonne muss wieder aufgegangen sein, während ich in meinen Träumen gefangen war. Das ruhige Schnauben meines Streitrosses bestätigte mir endgültig, dass ich wieder in der normalen Welt angekommen war und meine Träume verlassen hatte. Deyn, habe ich dich gerade etwa wiedermal enttäuscht und versagt? Endlich gibst du mir die Möglichkeit und ich nutze sie nicht. Ich bin so naiv und schwach. Jemanden wie mich hast du all deine Prüfungen absolvieren, gar in das Innerste deines Daseins blicken lassen?

Oder aber .. willst du mir damit etwa mitteilen, dass ich den richtigen Weg gehe? Das ich nicht immer zurückblicken muss, um die Zukunft zu sehen? Ich weiß, dass meine Handlungen diese Welt verändern. Im Kleinen, wie im Großen. Alles ist eine Prüfung des Glaubens und des Schicksals. Aber immerhin lässt du uns die Wahl selbst treffen.

Wer seine Entscheidung trifft, entscheidet sich auch immer für die Konsequenz, hm?

Bedeutende Worte, eine prägende Zeile und tiefgreifende Aussage. Alles, was ich bisher getan und entschieden habe, hatte unausweichliche und unweigerliche Konsequenzen. Mitunter die schlimmsten nur erdenkbaren Konsequenzen, die sich eine einzelne Person wünschen konnte. Die größtmögliche Tragödie in unserem Sôlaner Orden ist auch meine Schuld, aber auch meine Pflicht.

Aber was wäre nur passiert, wenn ich diese Entscheidung nicht getroffen hätte? Das Licht auf der Welt wäre erloschen. Und auch das kann nicht die richtige Entscheidung sein. Niemals könnte sie es.

Danke, Rupert Seelbach. Ruhe in Frieden. Ich bete inständig dafür, dass du deinen Weg in das Himmelsreich gefunden hat.

Danke Deyn Cador, für deine Erleuchtung, deinen Segen und deine Güte. Danke, dass du an mich glaubst, wenn ich nicht mich selbst glaube. Meine Angst und Unsicherheit magst du mir nicht ganz genommen haben, das weißt du besser, als ich selbst. Aber nie habe ich mehr als Hoffnung und Zuversicht gebraucht. Denn selbst auf wackligen Knien werde ich mein Schild und meine Klinge gegen das Chaos emporstrecken.

Lass mich entscheiden, denn dafür trage ich die Konsequenzen. Wie all die Mahnmale vergangener Entscheidungen an meinem Körper und in meiner Seele.


Ich rüstete mich an, baute mein kleines Lager ab und stieg wieder auf Yukis Rücken. Im Trab schritten wir durch die großen Laubwälder im Herzen Weidtlands auf das beeindruckende Maunas-Gebirge zu. Das ewige Klimpern meiner alten, zerkratzten Rüstung übertönte das Schlagen von Yukis Hufeisen auf den steinigen Wegen bereits seit einer ganzen Weile. Ich hoffe sie hält noch eine Weile durch, zumindest bis wir uns in Richtung Süden aufmachen. Vielleicht lege ich einen zusätzlichen Halt bei meinem alten Kriegsherrn ein, La Jonquera bietet bekanntlich allen Mikaelanern eine offene Tür.

Meine Reise führte mich durch die besinnliche Kleinstadt Dornbach mit ihrem durch die Ortschaft herabrauschenden Bergbach und der kleinen Ladenstraße, an der ich meine Vorräte wieder aufstocken konnte. Die durchaus freundlichen Bewohner schienen fast ein wenig fasziniert, als ich durch die Straßen schritt. Nachdem ich aus dem Krämersladen kam, fand ich aber sogleich den wahren Grund für den kleinen Aufruhr – Yuki. Eine Gruppe unterschiedlichsten Alters hatte sich um mein durchaus hochgewachsenes und kräftiges Streitross versammelt. Sie stellten einige Fragen und wollten ihn mir gar als Zuchthengst abkaufen, doch musste ich beschwichtigend ablehnen. Er mag zwar ein geeignetes Ross für derartige Zwecke sein, aber im Kern ist er eben noch ein stolzes Zweibacher Schlachtross. Und allen voran mein treuer Begleiter.

Aber selbst für ihn war es nur schwerlich möglich die letzten bergähnlichen Schlaufen in die Vorhügel des Maunas ohne lauteres Schnauben hinaufzuklettern. Als wir den ersten Felsvorsprung endlich erreicht hatten, bot sich uns ein dafür ein belohnendes, beeindruckendes Bild:
Auf dem leicht niedrigeren Felsvorsprung vor uns lag das Kloster Melissengespenst in neu erstrahlter Pracht nach seinem jahrelangen Wiederaufbau umgeben von einem farbenfroh aufblühenden Garten sowie einem herrlichen Obstgarten.

Ich konnte mir ein zufriedenes Lächeln über die wiedergefundene Heimat unserer weidtländischen Freunde und Kameraden nicht verkneifen, sattelte wieder auf und durchschritt schon kurze Zeit später den großen Torbogen in den Innenhof des Klosters Melissengespenst.

Es ward erneut Zeit der Vergangenheit ins Gesicht zu sehen. Hoffentlich mit neuer Entschlossenheit. Ich danke dir, Deyn Cador. Für dein Vertrauen in mich.




RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 07.06.2020


VIII – Kloster Melissengespenst

29.12.1351

Es war ein schönes, fast schon wohliges Gefühl, das ich verspürte, als ich die leichte Anhöhe hinauftrat. Das Kloster Melissengespenst war ein Ort, der seinerzeit eigentlich nicht das Ziel unserer Reise war. Dennoch verhinderten wir damals ein großes Unheil, als die dunklen Klauen Skrettjahs einmal mehr nach dieser Welt trachteten. Dem korrumpierten und falschen Ansichten verfallenen Abt Gottfried Heidenreich konnten wir, gemeinsam mit seinem Nachfolger Hugo Feuerstein, erfolgreich das Handwerk legen und so Schlimmeres verhindern. Dabei mutet der Name des neuen Abtes fast schon ironisch an, denn er war es schlussendlich, der mit seiner verwunschenen Mischung des Sorridianischen Feuers das gesamte Kloster in endlose Flammen hüllte. Trotz unserer Bemühungen konnten wir nicht alle Klösterbrüder retten, manche von ihnen wurden von den beflügelten und in pechfarbenes Schwarz gehüllten Dienern Skrettjahs bei lebendigem Leibe in der Luft zerissen. Hilflos mussten wir all dem schrecklichen Tod zusehen, bis wir verstanden hatten, was hier einst vor sich ging. Es galt ein altes Ritual abzuhalten, um damit ein anderes aufzuhalten. Gemeinsam erreichten wir unser Ziel. Nach einem harten, der Verzweiflung nahem Kampfe, schlossen wir dieses Einfallstor des Chaos in unsere geliebte Welt ein für alle Mal.

Obgleich all des emporgekrochenen Schadens und Leids, hier in Melissengespenst, habe ich vor all den Jahren die richtigen Entscheidungen getroffen. Ich bin ausnahmsweise sogar einmal fest davon überzeugt.

Wären wir nicht eingeschritten, wären sie ohne Ausnahme alle dem Chaos verfallen oder dahingerafft worden. Nur durch unser Tun konnten noch schlimmere Taten der Dämonenschar verhindert werden. Das Kloster nun wieder aufgebaut zu erleben und den einmaligen Geruch von Klosterfrau Melissengespenst in meiner Nase zu vernehmen, bestätigte mich. Zufrieden sattelte ich von Yuki ab und lies meinen Blick über den weitläufigen Hof schweifen.

Vor mir lag der Eingang mit dem linksseitig liegenden eckförmigen Hauptgebäude, gesäumt von einem großen Innenhof in der Mitte. Selbst den Glockenturm hatte Abt Feuerstein anscheinend wiederaufbauen lassen, er stand damals im Zentrum des Schwarmes an Chaos und Zerstörung. Ihn erklommen wir trotz der berstenden Flammen unter unseren Füßen, denn dies sollte die einzige Möglichkeit sein das Kloster und all die unschuldigen Seelen zu retten. Und letztlich auch uns zu retten.

An meiner rechten Seite befanden sich die Wohnquartiere, der Stall und der kleine Turm am weitläufigen und zweckmäßigen Klosterhofe. Selbst hier hatten die Baumeister allerhand Arbeit geleistet und den alten Glanz vollständig wiederhergestellt. Ich merkte es erst später, aber ich muss froh gewesen sein. Wir handelten richtig. Und erhielten all die Leben und diesen wunderbaren Ort, den die Klosterbrüder ihre Heimat nannten.

Eine Heimat ist wichtig. Sie gibt uns Verbundenheit und bietet Geborgenheit. Wohin sonst ziehen wir uns in Zeiten der Angst und Not zurück? Wo können wir sonst immer auf Rückhalt und Verständnis hoffen? An welchem Platz auf der Welt werden wir sonst stets mit offenen Armen empfangen?


Meine Anwesenheit in Melissengespenst sollte jedoch nicht lange unbemerkt und unbeachtet bleiben. Schon bald schritt ein, in seine braune Kutte gehüllter, munter grinsender Mönch auf mich zu. Mit seinem kugelrunden Bauch, der herausstechenden Knollnase und einer schimmernden Halbglatze erinnerte er mich an den Herbergsmeister, den wir damals schon kennenlernen durften. Hatte er gar überlebt und wieder seinen Platz inmitten der Mönche eingenommen? Selbst nachdem seine tiefe Stimme erklungen war, vermochte ich leider nicht zu sagen, ob er es tatsächlich war. Und um ehrlich zu sein, ich traute mich auch nicht nachzufragen und so alte Wunden wieder aufzureißen. Mit offenen Armen empfing er mich und bot an, Yuki in den Stall zu führen.

Dankend nahm ich sein Angebot an, während er die Hintergründe meiner Anwesenheit erfragte. Hugo hätte seinen Mönchen nicht die Wahrheit gesagt. Insbesondere, wenn er tatsächlich etwas gefunden oder erhalten hatte. Vermutlich hätte er es auch nicht einmal verstanden, wie könnte er auch? Ich verstehe ja selbst nicht, was ich hier suche oder welchem Ursprung ich hier nachgehe. Ich hoffe die Stücke dieses Puzzles setzen sich am Ende alle zusammen, Franz.

"Sagt, werter Mönch, dürfte ich um ein Gespräch mit eurem Abt bitten? Ich habe eine weite Reise hinter mir und habe ihn vor einigen Jahren kennenlernen dürfen. Es geht um eine eher private Angelegenheit. Verzeiht mir bitte, wenn ich euch nicht mehr berichten darf."

Der Mönch hob die Augenbrauen in die Höhe und rieb sich mit seiner Hand an der knolligen Nase herum, bevor er mir zunickte.

"Na, wenn ihr Abt Philipp sogar kennen wollt, dann kann ich euch euer Gespräch kaum verwehren, nicht? Kommt mit, ich bringe euch erstmal in die Speisehalle."

Ich blieb auf der Stelle stehen, nachdem er den Namen des Abtes genannt hatte. Abt Philipp? Wer sollte das sein? Hugo Feuerstein ist der Abt in diesem Kloster und niemand anderes. Oder komme ich auch etwa hier zu spät? Es scheint, als ziehe ich eine Schneise aus Tod und Leid hinter mir her. Und eben diese Schneise eröffnet sich nun auch vor mir, nimmt mir all die Möglichkeiten und Hilfen vorweg.
Seine Seele konnte diese Welt doch nicht schon verlassen haben, nein, sie durfte sie noch lange nicht verlassen haben!

Der Mönch bemerkte mein abruptes Stehenbleiben natürlich, wendete sich zu mir um und stemmte die Hände an die Hüften.

"So eine Reaktion habe ich nicht erwartet. Ihr meintet ihr wart vor ein paar Jahren schon einmal hier, nicht? Dann sprecht ihr wohl von Abt Feuerstein. Deyn habe seiner seelig, aber er verschied vor einer handvoll Jahren ruhig im Schlaf. Er ruht nun unter Deyns Dienern, ich bin mir sicher es gefällt ihm dort."

Mit einem zuverlässigen Lächeln blickte mich der Mönch beschwichtigend an. Verstorben, hm? Ruhig im Schlaf eingeschlafen? Solch ein Ende erreilt meine Wegbegleiter sonst eigentlich nie. Vielleicht ist es besser so, dass er seine letzte Jahre in ruhiger Zufriedenheit verbringen konnte. Ungestört von wütenden Dämonen, die hohen Gelübe brechenden Brüdern oder all der Zwietracht dieser Welt. Es ist aber ein weiterer Rückschlag für mich. Und für meine Aufgabe.

Ich musste nun versuchen mit dem neuen Prior des Klosters zu sprechen, vielleicht hat Feuerstein ihm ja etwas hinterlassen? Eine Nachricht mit versteckter Bedeutung oder dergleichen. Vermutlich mache ich mir nur zu viel vergeudete Hoffnungen für derart unwahrscheinliche Schicksale, aber nun war ich ohnehin schon hier. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, hm?

Ich klärte den Mönch über meine Verwirrung auf, erklärte ihm meine Bekanntschaft zu Hugo Feuerstein und meinen Wunsch mit dem neuen Abt über seinen Vorgänger zu sprechen. Wieder wohlig lächelnd sagte er mir zu, mich zu Philipp zu bringen. Wir schritten gemeinsam über den lebhaften Hof und traten in das große Klosterhaus ein. Während unseres Ganges erzählte er mir ein wenig vom schwierigen Wiederaufbau und dem grauenhaften Anblick nach dem großen Brand Melissengespensts. Dennoch war ich mir weiterhin nicht sicher, ob er den Angriff selbst miterlebt und gar überlebt hatte.

Vorbei am nun in das Erdgeschoss verlagerte Skriptorium führte uns der Weg in die angesprochene Speisekammer, in der ich zunächst warten sollte. Ich gab dem Mönch meinen Namen mit auf den Weg und er versprach mir einen Augenblick im geschäftigen Tagesablauf des Abtes zu beschaffen.

Ich setzte mich auf einer der Holzbänke nieder und wurde sogleich von einigen Mönchen umringt. Es erinnerte mich fast ein wenig an meine eigene Kindheit, wo wir auch jeden Neuankömmling und Reisenden wissbegierig ausfragten. Die Welt außerhalb des Klosters muss noch größer scheinen, wenn man sie gar nicht erst kennt. Manchmal überwiegt die Schönheit, manchmal die Grausamkeit, aber oft genug verschwimmen die Unterschiede und lassen nur ein undurchsichtiges Dickicht vor den eigenen Augen stehen. Hier im Inneren hatten sie Sicherheit, Geborgenheit und einen gefüllten Magen. Aber allem voran eine Zukunft.

War es nicht auch einst Karl, der sich hier mit seinen Ordensbrüdern um uns gesellte? Eine ganze Gruppe Sôlaner fiel in ein bescheidenes Kloster ein, was für eine Attraktion im tristen Alltag des Klosters das sein musste. Egal bei welcher Arbeit sie damals waren, sie ließen alles stehen und liegen, nur um einen Blick zu erhaschen. Und heute war es nicht anders, ganz im Gegenteil. Ich saß auf dem Präsentierteller mit ausreichend Zeit für ihre Fragen und Wünsche.

"Woher kommt ihr?" "Was macht ihr hier?" "Ist das euer Pferd?" "Bleibt ihr lange bei uns?" "Könnt ihr mir etwas mit dem Schwert beibringen?" "Wer seid ihr?" "Können Frauen überhaupt Sôlaner sein?" "Warum wollt ihr zu unserem Abt?"

Sie hatten wahrlich viele Fragen, aber nicht alle würde ich beantworten können. Meine Geschichte ist lang und voller Höhen und Tiefen, gespickt mit Splittern der schimmernden Hoffnung und trostlosen Verzweiflung. Wie ich es mir aber ohnehin dachte, musste ich kaum etwas Relevantes erzählen, denn bereits bei einer Erzählung über die Unbekannten Lande, saßen sie gespannt lauschend um mich herum. Die weidtländischen Mönche hatten noch nie die ausgedehnten goldgelben Sandstrände mit den darauf wachsenden Kokospalmen oder umherkrabbelnden Krabben gesehen. Nicht einmal der Anblick eines echten Urwaldes mit seinem Dickicht aus satten grünen Ranken, massiven Bäumen und dem Schrei unbekannten Getiers war ihnen bekannt. Geschweige denn die jedesmal waghalsige Überfahrt über den Leändischen Ozean, vorbei am Montrigo-Dreieck, mit den hölzernen Gefährten, die wir Schiffe nennen.

Ich bin auf eine ganz eigene, einzigartige Art gesegnet worden. Ich durfte die Pracht dieser Welt mit eigenen Augen, fern von aller Erzählung und Malerei, erleben und erblicken. Damit habe ich Eindrücke gewonnen, die mir niemals wieder jemand nehmen kann und wird. Es sind Dinge, die mich prägen und ausmachen. Die mein Verständnis dieser Welt mittragen. Entscheidungen, die hier getroffen werden, lösen ganz anderswo auf der Welt Konsequenzen aus. Ich schätze, dass wir alle uns diesen Glückes mehr bewusst werden sollten.

Natürlich habe ich dafür allerlei Schrecken sehen und in unzählige Abgründe blicken müssen. Aber macht es das alles wertlos? Keinesfalls, das darf es auch nicht. Deyns schützende Hand stand über mir, sonst wäre ich nicht wieder hier. Was wäre nur passiert, wenn ich mich damals gegen das Weglaufen aus Patrien entschieden hätte? Wenn ich mir meine Schuld direkt eingestanden hätte? Du kümmerst dich um uns, wie Eltern um ein kleines Kind, nicht wahr, Deyn? Du lässt uns fallen und Schäden erleiden, das Unausweichliche sehen und bekämpfen, damit wir am Ende gestärkt und triumphierend wieder aufstehen. Diese Welt wäre ohne dich nicht dieselbe, offenkundig nicht. Diejenigen Frevler, die sich dem Chaos anschließen oder von dir abwenden, werden am Boden liegenbleiben.

Ich versuchte den Mönchen meine Erzählung mit einer gewissen Moral verständlich zu machen. Wir sollten dankbar für das sein, was wir haben. Aber niemals vergessen, dass die Ordnung nach mehr strebt. Nach der Sicherheit der gesamten Welt, denn auch wir sind die Verbreiter des Wortes Deyn Cadors.

Ich glaube jedoch nicht, dass sie alles so verstanden, wie ich es mir gewünscht hätte. Zu sehr waren sie von den Erzählungen über abenteuerliche Schiffsfahrten mit brennenden Küchen oder die Inselkette am anderen Ende des Leändischen Ozeans eingenommen. Sie wollten mehr, doch wurde unsere illustre Unterhaltung von einem jungen und recht schmächtigen Bruder unterbrochen.

Er hob seine ebenfalls eher dünne Hand an und winkte mich zu sich heran. Klimpernd erhob ich mich von der Bank, um dann mich durch die umstehenden Traube aus Klosterbrüdern zu drücken. Vor ihm angekommen, streckte er seine rechte Hand aus und hielt sie mir entgegen.

"Abt Philipp Bonnington, Protektorin da Broussard. Sehr erfreut, sehr erfreut. Ich hörte, dass ihr unter meinem Onkel dient?"

Bevor ich meinen Handschuh ausziehen und seine faltenlose mit meiner vernarbten Hand schütteln konnte, ratterte mein Kopf, wie ein Uhrwerk. Bonnington? Ein echter Bonnington? Und Raphael soll sein Onkel sein? Damit .. konnte er doch nur ein Sohn Uriel Bonningtons sein! Ein wenig verdaddert begleitete ich ihn in sein Schriftenzimmer. Wir setzten uns nieder und der blutjunge, fast mit einem Milchbuben-Gesicht ausgestattete, Philipp blickte mich ernst an.

"Mich freut es natürlich, dass ihr den weiten Weg auf euch genommen habt. Aber warum seid ihr hier? Mein Vater hielt mir stets vor, dass ich bei den Bekannten meines Onkels aufpassen möge. Und nun seid ihr tatsächlich hier, direkt vor mir. In meinem Kloster. Meinem Melissengespenst."

Uns eilt sogar in der angesehenen Familie der Bonningtons ein Ruf voraus? Wie könnte es auch nicht, nach all den Erlebnissen, von denen Raphael aus Neu Corethon berichtet. Von seinen wahnwitzigen Erkenntnissen über die Lage der Sterne bis zum Dasein der Dämonenschar und Deyn Cadors selbst. Ganz zu schweigen von dem tragischen Verschwinden Michael Bonningtons, welches bis heute auf dem Festland nicht aufgeklärt werden konnte.

Nun saß ich vor einem Sohn des Uriel, der den Rang des Abtes in Melissengespenst eingenommen hatte. Wenn ich mich recht entsinne, erzählte mir Raphael einst, dass es eine Art Tradition in der Familie gäbe. In regelmäßigen Abständen werde einer der Bonningtons Abt in Melissengespenst, um den Glanz des Klosters zu bewahren und den besten Klosterfrau Melissengespenst herzustellen.
Weshalb eigentlich Klosterfrau? Das hier war doch seit jeher ein Männerkloster.

Philipp Bonnington nahm sich einige Zeit für mich und ließ mich erzählen. Ich berichtete ihm erst von meiner Verfolgungsjagd mit dem Verbrecher Berthold Lichtblatt und seinem Schicksal, anschließend von meinen Plänen nach Zandig zu reisen und auf diesem Weg all meine alten Wegbegleiter zu besuchen. Er bemerkte sichtlich, dass ich einige Teile in dieser Geschichte wegließ. Ein echter Bonnington, hm? Wenngleich er noch nicht mit seinem immerwährenden Gesichtsausdruck verbergen konnte, dass er etwas gedeutet hatte. Aus dem leichten Lächeln entfuhr mitten in meiner Erzählung ein belustigtes Schmunzeln, ein leichtes Zucken im Gesicht.

Damit ward ich wohl ein wenig durchschaut. Zu meinem Vorteil schienen ihn die Beweggründe meiner Reise nicht wirklich zu interessieren. Vielmehr wollte er wissen, weshalb ich Hugo Feuerstein aufsuchte. Was ich von diesem alten, leicht wahnsinnigen Feuerkünstler wollte.

Es hatte vermutlich keinen großen Sinn um den heißen Brei herumzureden. Auch Philipp Bonnington wollte mir nichts verschweigen, wenn es um seinen verschiedenen Vorgänger ging. Ich bat um Durchsicht seines Nachlasses, wollte mir all die Dinge anschauen, die Hugo Feuerstein zugeordnet worden sind. Im Kern sind wir alle besitzlos, aber wer will schon in den alten Tagebüchern seiner Brüder herumschnüffeln oder gar deren alte Kleidung tragen? Nein, so sind wir nicht. Nach einigen Jahren gingen die verwertbaren Sachen oft in eine Spende, aber hier in der Abgeschiedenheit Weidtlands wurden die Dinge zu meinem Glück ein wenig länger aufbewahrt.

Philipp Bonnington stimmte zu, lud mich aber erst zu einem Besuch des Grabes von Hugo Feuerstein ein. Wir wollten gemeinsam ein Gebet zu seinen Ehren sprechen. Auf dem Weg berichtete er mir von den letzten einfachen und sehr wirren Jahren des Abtes. Man hatte ihm den wesentlichen Teil seiner Aufgaben abgenommen und ihn ein zufriedenes Leben führen lassen. Am Morgen spielte er mit den jüngsten Brüdern, am Mittag durfte er seinen Hirsebrei mit seiner geliebten Pfirsichsoße schlemmen und am Abend wurde auch ihm an der Bettkante vorgelesen. Er hatte sich seinen ruhigen Abschied von dieser Welt wahrlich verdient, lange Jahre hatte er ausschließlich Deyn Cador und seinen Jüngern gedient. Wir müssen nicht alle im Kampf fallen, gezeichnet von unseren pausenlosen Strapazen. Manchmal läuft unsere weltliche Uhr einfach ab und wir fahren gütig in die offenen Armen Deyn Cadors ein.

Angekommen an dem breiten steinernen Grabstein mit der Innschrift des Hugo Feuerstein, knieten wir uns auf den kiesernen Boden nieder. Philipp faltete die Hände, während ich mein Holzkreuz mit meinen zerkratzten Händen umschloss.


Deyn Cador, Du bist für uns wie Vater und Mutter.
Wir beten hier vor deinem Antlitz für unseren Verstorbenen
Sein weltliches Leben mag verschieden sein,
doch glauben wir zutiefst in unseren Herzen,
dass er in deinem Himmelsreiche lebt
Bei Dir findet er Erbarmen.
Denn dein Himmelsreich ist die Güte,
vollumgeben von der ewigen Herrlichkeit.

Deyn Cador, unser Vater, wir bitten dich.
Kümmere dich um unseren Verstorbenen.
Für ihn ist die Zeit des Daseins zu Ende.
Befreie ihn von allem Bösen,
dass er heimkehre in deinen ewigen Frieden.
Öffne ihm die Pforte zum Himmelsreich,
wo es keine Trauer mehr gibt,
keine Klage und keinen Schmerz,
sondern Friede und Freude.

Gütiger Deyn Cador, in deinen samtenen Schutz geben wir usneren Verstorbenen.
Wir danken dir für alles Gute, mit dem du ihn in seinem irdischen Leben
beschenkt hast und für das Gute, das wir durch ihn erfahren durften.
Du hast ihn aufgenommen und Wohnung und Heimat bei dir gegeben.
Uns aber, die zurückbleiben,
gib die Kraft einander zu trösten
bis wir alle vereint sind bei dir.
Amen.


Wir einigten uns zuvor nicht auf ein Gebet, fanden aber sogleich denselben Anfang. Zufrieden nickend blickte mich Philipp Bonnington nach dem Geleitwunsch für Hugo an.

"Mein Onkel scheint ganze Arbeit geleistet zu haben, wenn ihr sogar ohne große Überlegungen unsere weidtländischen Gebete sprechen könnt. Selbst, wenn ihr euren Akzent mittlerweile gut verstecken könnt, entgeht er mir nicht ganz, Protektorin da Broussard. Seid ihr so gut und lasst mir als kleine Gegenleistung ein Totengebet aus eurer Heimat da? Mich würde es wirklich reizen zu hören, wie in südlicheren Gefilden den Verstorbenen gedacht wird."

Ich kommentierte seine Bemerkung nur mit einem sanften Lächeln und Nicken. Er würde sein Gebet natürlich erhalten, denn niemals dürfen wir vergessen, dass es den Glauben allzeit und immer zu verbreiten gilt. Und für den Nachlass des Hugo Feuerstein müsste und wollte ich mich zugleich zumindest ein wenig revanchieren.

Wir begaben uns in eine kleine Kammer zwischen den Wohngebäuden, in denen einige Truhen in großen, massiven Holzregalen gelagert wurden. Der Abt bat einen seiner Mönche mit in den Raum, suchte rumpelnd im Schein einer Öllaterne umher und stellte mir schließlich eine hölzerne Kiste vor die Füße.

In einem kleinen, durch Metallhalterungen befestigten, Einschub stand in geschwungener Schrift "Abt Feuerstein" geschrieben. In dieser Truhe musste sich somit der verwahrte Nachlass des Hugo Feuerstein befinden. Vorsichtig schob ich den Deckel der Truhe in die Höhe und nahm die einzelnen Gegenstände heraus. Vor mir breiteten sich Schriften, alte Kleidungsstücke und einige,wenige Habseligkeiten des verstorbenen Abtes aus. Abt Philipp schaute mir interessiert über die Schulter, erkannte aber ziemlich schnell, weshalb ich hier war. Als ich die angeschmolzenen Eisengamaschen in der Hand hielt, wusste auch er, dass ich fündig geworden war. Ich bat ihn darum die Gamaschen an mich nehmen zu dürfen.

Etwas zögerlich, wenn gar nicht misstrauisch, gestattete er es mir schließlich. Er selbst wusste bei der Nachlasssortierung von Hugo Feuerstein nicht wirklich, woher dieses Stück stammte noch welchem Zweck es diente. Wir legten den Nachlass vorsichtig wieder in die Kiste und stellten sie zurück in den Lagerraum. Auf dem Weg zu dem Schlafgemach, dass mir in dieser Nacht bereitgestellt werden sollte, bat mich Abt Bonnington nur noch um eines:
Falls ich irgendwann einmal über die Herkunft oder den Sinn dieser angeschmolzenen Gamaschen sprechen könnte, würde es ihn sehr interessieren, die Hintergründe zu erfahren.

Natürlich konnte ich diese Bitte nicht ablehnen. Wenngleich ich auch im Moment selbst nicht den blassesten Schimmer habe, was ich hier eigentlich tue.

Ruhe in Frieden, Hugo Feuerstein. Deyn möge deiner seelig werden.


Der Abt entließ mich zunächst und bat einen seiner Ordensbrüder mich in mein Schlafgemach zu begleiten. Die einfache Kammer mag zwar nur mit einem strohgedeckten Bett, einem massiven Eichentisch und einem simplen Hocker ausgestattet gewesen sein, aber das sollte mir vollends genügen. Ich hatte noch nie große Ansprüche und das würde vermutlich auch bis zu meinem Ableben so bleiben. Solange es anderen Menschen auf dieser Welt deutlich schlechter geht, sollten wir als Hüter dieser Ordnung und Bewahrer des Glaubens nicht im endlosen Luxus schwelgen. Vielleicht sollten wir sogar die Letzten sein, die im Überfluss leben?

Ich sortierte mich, legte einige Teile meiner Ausrüstung im Zimmer ab und begab mich dann, nach einem kurzen Spaziergang auf dem Innenhof, wieder in die Speisekammer. Die Klosterbrüder bereiteten gerade das Abendessen vor und natürlich konnte ich es mir nicht nehmen lassen ihnen ein wenig über die Schulter zu schauen. Unter Umständen endete es vielleicht sogar damit, dass ich ihren Koch für diesen Abend aus der Küche verbannt habe und mich selbst um die Verpflegung gekümmert habe.

Wichtig blieb an dieser Stelle nur das Ergebnis: Es hatte allen gemundet. Eine andere Küche, ein anderer Geschmack kann eine recht belebende Erfahrung sein, wie sich zeigt. Kurz darauf zog ich mich in den mir zur Verfügung gestellten Raum zurück, verriegelte die Tür und legte mich ins Bett. Bereits am frühen Morgen wollte ich mir noch ein wenig Proviant zusammenpacken und dann meine Reise vorbei am Maunas gen Rodstedt antreten. Der nächste Halt würde die Suche Werner Gerbers bedeuten. Zwar konnte ich mir denken, wo er sich ungefähr aufhalten musste, aber in dieser Welt gab es keine zu abwegige Flucht vor der Realität.

Tief durchschnaubend schloss ich die Augen. Auch in dieser Nacht sollte mir keine Ruhe vergönnt sein. Ganz im Gegenteil – es sollte die schlimmste aller Nächte werden.

In meinen Träumen war die Welt kalt und trist. Mein Leben war in einige, wenige Grautöne gehüllt. Jeder Schritt und jede Bewegung verursachte einen tiefgehenden, lähmenden Schmerz in Muskel und Knochen. Nicht einmal das zaghafte Bewegen eines Fingers war ohne Weiteres möglich. Was auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so schrecklich scheint, hatte jedoch eine ganz eigenwillige Bedeutung. Des Rätsels Lösung mag vielleicht sein, dass ich mich einfach nicht bewege. Ohne Bewegung, kein Schmerz durch Bewegung, nicht wahr?

Ein schöner Gedanke unter dem betäubenden Einfluss des immerwährenden Schmerzes, wahrlich. Doch standen sie alle um herum – ihre Gesichter und Leiber verhüllt durch die Urnen, in denen ihre Seelen zu stecken schienen. Meine engsten Kameraden und Lieben, meine treuesten Verbündeten und Helfer. Ihre gequälten Stimmen erklangen aus den Tiefen des Fegefeuers und zehrten nach mir.

Es wäre sicher keine ehrenhafte, aufopferungsvolle Tat gewesen, zu fliehen, aber ich sah keinen anderen Ausweg. Getränkt in peinigende Angst wollte ich nur weg. Meine Füße im gleichlautenden Takt immer wieder voreinander setzen und der trügerischen Realität entlaufen.

Aber nicht einmal die feige Flucht war mir vergönnt, denn der stechende und meinen ganzen Leib durchfahrende Schmerz, hielt mich an Ort und Stelle fest. Er band mich wie klebriges Pech oder fesselende Ketten an den eiskalten Boden. Ich musste mich auch dieser Wirklichkeit stellen. Es half nichts. Ich war allein. Ich bin allein. Aber ich werde nicht aufgeben. Niemals.

Als die ersten unverständlich klagenden Schreie der Gemeinschaft verklungen waren, erschienen sie einzeln. Vor mir, hinter mir, neben mir, vielleicht gar in mir. Ihre wiederhallenden Stimmen hinterließen Echos aus allen Richtungen, sodass es unmöglich war ihre vorwurfsvollen Schreie zu ignorieren.

Zuerst erschien die mir wohl vertrauteste und wichtigste aller Stimmen. Ihr von Maden zerfressener und mit dämonischen Malen übersehener Kopf war nur noch durch die feuerroten Haare zu erkennen. Mir schnürte es die Luft ab, mein Körper begann schmerzerfüllt zu zittern, als ich panisch um mich schlug. Und doch konnte ich nur hilflos Jule Webers Worten lauschen.

"Warum hast du mich fallengelassen, Amélie? Wieso hast du mich so verraten und in den Abgrund gestoßen? Sieh nur, was sie mit mir gemacht haben. Alles nur wegen dir, du verräterische Schlange. Was habe ich dir angetan, damit ich das verdient habe? Du hast doch alles von Anfang an geplant. Niemals warst du ein Freund, niemals mir wichtig.

Keine Sorge, ich warte hier unten auf dich. Denn für dich haben wir einen ganz speziellen Platz.  Meine Rache kommt, Amélie, warte nur ab. Warte nur ab."

Ich spürte, wie die Tränen über meine Wangen rinnten und ich nicht verstand. Nicht verstehen wollte, was hier gerade vor sich ging. Eine Übelkeit und Angst kroch meinen Körper hinauf. War das meine Zukunft? Das darf und kann nicht sein. Werde ich sie hintergehen oder habe ich es schon längst? Ich dachte .. ich dachte so vieles. Aber vielleicht ist es alles falsch. Erlogen und erträumt, wie mein ganzes Leben?

Bevor ich auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, lag der mit verschleimten Ranken überzogene Kopf von Raphael Bonnington vor meinen Füßen. Auf seiner Stirn war das völlig entstellte und mit Zeichen des Lebenden Gotts versehene Siegel unseres Ordens in die letzten Reste fleischiger Haut gedrückt.

Als die Worte aus dem Schädel hallten, kroch eine in zwei Teile gespaltene grünliche Zunge aus seinem Halse hervor. Beide Hälften wippten erst im Takt auf und ab, bevor sie sich – wie eine gespaltene Persönlichkeit – gegenseitig bekämpften. Als ob die eine Hälfte seines Daseins die andere Hälfte bezwingen wollte, am Ende jedoch keine siegreich hervorgehen konnte. Es war ein schrecklicher, herzzerreißender Anblick.

"Warum Amélie, warum? War ich nicht immer für dich da? Habe ich dir nicht die Welt des wahren Deyn Cadors gezeigt? Des einzig wahren Gottes? Sogar den alten Dysmas habe ich wieder aus dem Weg geräumt, damit ich dich kriege. Und nun sieh nur meine Herrlichkeit, das ist der wahre Glaube, Amélie.

Hör auf naiv zu sein und komm endlich in dein wirkliches Heim. Es könnte so einfach und so schnell gehen, dann wärst du hier."

Mein unaufhörliches Schluchzen und Zittern wollte nicht aufhören, ganz im Gegenteil. Ich spürte, wie die Kraft meinen Körper gänzlich verließ, während ich den heidnischen Versen aus Raphaels Mund lauschen musste. Was sagte er da? Der wahre Gott? Dysmas aus dem Wege? Raphael, was hast du nur getan? Ich .. was passiert hier nur mit mir? Das kann doch alles nicht wahr sein, sie sind doch noch am Leben und wir haben uns nicht verraten! Ich würde niemals, warum sollte ich auch nur? Hatten sie etwa mich .. ?

Tja, und dann stand er da. In seiner völlig verkohlten und zusammengeschmolzenen Gestalt. Als hätte man ihm bei lebendigem Leib in ein Fass mit heißem Eisen getaucht und krampfhaft am Leben erhalten. Er sagte nichts, schwieg mich einfach nur müde dreinblickend an. Ihn hier in dieser Form wiederzusehen, ist unbeschreiblich angsteinflößend. Zuerst dachte ich, dass ich mich freuen würde Franz Gerber endlich wiederzusehen. Aber nein, es ist eine grausame Qual ihn in dieser Art und Weise erleben zu müssen. Du hattest es nie einfach, oder, Franz? Das alles nur, weil Deyn Cador es wollte? Weil es so festgeschrieben war? Ich wünschte, dass ich dich in den Arm nehmen könnte, um dir wenigstens ein winziges Stücken deines Leides abzunehmen.

Aber stattdessen sitze ich hier, tränenüberströmt und vor Furcht bewegungsunfähig. Wie konntest du nur so unfassbar stark und durchsetzungsfähig sein, Franz? Ich bewundere dich, wirklich, gerade heute noch. Du hast Entscheidungen getroffen zu denen ich niemals fähig gewesen wäre. Und auch heute nicht bin.

Dennoch .. es bricht mein Herz dein trauriges Lächeln unter deinem verkrusteten und zerschmolzenen Helm sehen zu müssen. Was willst du mir nur sagen? Wozu mache ich das hier? Weshalb diese fürchterlichen Anblicke? Franz, hilf mir doch.

Doch bekam ich keine Hilfe, kein Mitleid und keine stützende Hand an meiner Seite. Nein, Franz verschwand so schnell, wie er gekommen war. Ich blieb allein in der Eiseskälte zurück, während meine Tränen an meinem zitternden Körper festfroren. Der Schrecken und die Furcht vor meiner Selbst fuhr mir gnadenlos durch Mark und Bein. Erlöse mich, Deyn Cador. Mach, dass es endlich aufhört. Ich dachte, du bist auf meiner Seite. Aber das hier?

Mit einem lauten Knall fiel der Körper Salvyro Notfinks vor mir auf den Boden und zersprang in abertausende kleine Teile. Ich zuckte von dem ohrenbetäubenden Ton zusammen und merkte erst danach, wie meine gesamte Körperfront mit seinem wärmenden Blut getränkt wurde. Salvyro?

Ich konnte nicht genau ausmachen, woher ich seine Stimme vernahm. Aber sie klang so allgegenwärtig, als ob sie gar auf meiner Haut vibrierte. Was, was habe ich nur getan?!

"Was du getan hast, Amélie? Du hast mich sterben lassen. Mich umgebracht. Du kümmerst dich um deine Kameraden? Hah, das ich nicht lache. Niemals hast du dich auch nur einen Augenblick um mich gekümmert, geschweige denn um die anderen. Du bist doch eine eiskalte Egoisten auf der Suche nach irgendeinem verwunschenen Ziel. Mach dir nichts vor, du nutzt uns alle nur für deine eigenen Zwecke aus. Schau mich nur an, wenn du einen Beweis suchst. Wegen dir liege ich im Fegefeuer, zerissen von einem Dämon, den du wieder nicht besiegen konntest.

Aber mach dir keine Sorgen, meine werte Protektorin. Ich habe hier einen ganz speziellen Platz für dich reservieren lassen."

Ich wollte mich nur noch zusammenkauern und diesem schrecklichen Schicksal entfliehen. Was sagten sie denn alle über mich? Bin ich wirklich so ein schlechter Mensch? Bitte, Deyn Cador, lass es endlich aufhören. Ich kann nicht mehr, ich halte das nicht mehr aus. Ich habe solche Angst, solche Furcht, ich kriege keine Luft mehr! Und mein Herz schmerzt so ungebändigt, als stünde es in Flammen! Ich will nicht!

Weiter unaufhaltsam weinend und wimmernd, zog ich schmerzerfüllt meine Beine an meine kahle Brust heran. Das Blut Salvyro ronn langsam hinab von meinem Körper und bildete eine Pfütze auf dem wabernden Boden. Die Lache seines Blutes starrte mich in heller Erwartung auf meinen eigenen Tod an. Fühlt sich so Wahnsinn an? Ist es das, was ich verdient habe? Soll ich so enden?

Die Antwort kam von einer mir ebenso vertrauten und hinter mir erklingenden Stimme. Mit tippelnden Schritten wanderte die kleine Anna um mich herum. Bereits bei der Vorstellung sie in einem entstellten Zustand sehen zu müssen, drehte es mir den Magen und Hals um.

Ihr zerissenes und zerfleddertes Kleid ließ die letzten Brocken ihrer blutroten Haut erkennen. Als sie sich umdrehte und mir mit ihrem kindlichen Dasein in mein Gesicht blickte, wurde mir ihr völlig entstelltes und mit unzähligen Knochenbrüchen zerstörtes Antlitz enthüllt. Als sie versuchte zu einem Lächeln anzusetzen, knackten die zersplitterten Gesichtszüge bis sogar ein ganzes Stück krachend auf den Boden fiel.

"Ganz genau! Du hast versagt, Amélie. Du hast mich alleine gelassen. Warum nur? Ihr habt doch gesagt, dass ihr euch um mich kümmert. Aber niemand hat sich um mich gekümmert. Ihr habt mich allein in der Dunkelheit stehen lassen und seid ins Licht gewandert. Und dann wart ihr einfach weg.  Weil du mich so alleingelassen hast, wirst du auch allein bleiben.

Ich hatte solche Angst, Amélie. Als ich von der Dunkelheit umschlossen und elendig gequält wurde. Dabei bin ich doch nur ein armes Kind gewesen, was habe ich denn verbrochen? Ihr wart nicht für mich da. Nein, nein, ihr wart gar nicht da! Nie wolltest du mich beschützen. Nie- nie- niemals! "

Sogar du, Anna? Sogar dich hintergehe ich? Wie könnte ich denn je ein unschuldiges Kind Deyns verlassen? Ich bin solch ein unausstehlicher, abscheulicher Mensch. In mir stieg eine unaufhaltbare Übelkeit hinauf, die ich unmöglich zurückhalten konnte. Unter dem stechenden Schmerz meiner pulsierenden Glieder erbrach ich alles, was irgendwann einmal Platz in mir gefunden hatte.
Meine einst so feurige Wut und Inbrunst wurde von tiefgehenden Selbstzweifeln und einer inneren Abscheu vertrieben. War ich so? Was .. hat das hier alles zu bedeuten?

Ich schämte mich, zitterte vor Angst und konnte den Fluss meiner Tränen mit keinem Damm dieser Welt stoppen. Unablässig schüttelte ich mich, was nur in noch mehr Schmerzen und Trauer endete. Es fühlte sich so an, als würden erst meine Muskeln zerreißen und Knochen splittern, bis sich dann mein Herz in einem Meer aus Leid zersetzt und ich endgültig mein Leben verliere. Dabei habe ich doch noch so viele Ziele und auch .. Wünsche.

Wäre ich doch nur nie geboren worden. An nichts anderes konnte ich in diesem Augenblick mehr denken.

Bis eine schwarzgebrannte Tonurne vor meinen Knien aufschlug, in tausende Einzelteile zersprang und einen Berg aus Asche freigab. Der Aufprall riss mich aus meinem gedanklichen Delirium und zog mich wieder in meine ausweglose Situation zurück.

Alles um mich herum wurde mit der alten, rauen Stimme umgeben. Ein ewig wiederkehrender Hall prallte an unterschiedlichsten mir nicht sichtbaren Ecken ab und reflektierte mir die grausamen Worte wieder in die Ohren. Pausenlos. Bedrängend. Vernichtend.


"Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden.
Wärst du nur nie geboren worden."


Es dröhnte und klingelte in meinem Kopf. Ich verstand nicht und sah schwarz. Die entstellenden Worte nahmen kein Ende. Mit meiner letzten Kraft versuchte mein versagender Körper all die kalte Luft in seine Lungen einzuziehen und einen letzten verzweifelten Schrei auszustoßen.

Es gelang.

Der Schmerz und meine Tränen waren vergangen. Keuchend und am Ende meiner Nerven erwachte ich wieder in dem strohgedeckten Bett in meiner dunklen Kammer. Unablässig hämmerte es an der Tür, ein wiederkehrendes Poltern an das dicke Holz erklang.

"Amélie, Schwester Amélie, wacht doch auf! Was ist denn los mit euch?"

Stöhnend erhob ich mich, schob den Holzbalken mühselig beiseite und blickte einer ganzen Gruppe an besorgten Mönchen ins Gesicht. Sie waren zwar zunächst sichtlich erleichtert mich auf den Beinen zu sehen, machten dann aber allerlei Anstalten sich um mich zu kümmern. Und unter keinem Umstand würde ich diese Tür wieder verriegeln dürfen.

Ich hatte keine Kraft und keine Muße mehr, um irgendetwas gegen ihre freundliche Güte und Hilfe zu tun. Ich war ausgelaugt. Fertig. Geschlagen.

Ich kann mich nicht mehr entsinnen, was danach passiert ist. Ich weiß nur, dass ich neben einem auf dem Hocker wachenden Mönch aufgewacht bin. Behutsam kümmerte er sich um meinen Körper, wagte aber bald keine Handlung mehr ohne mein Einverständnis, nachdem er die ersten wirklich schlimmen Narben erblicken musste.

Nur gegen erheblichen Widerstand der Klostermönche konnte ich nach einigen Tagen mein Pferd satteln und das Kloster verlassen. Jede Nacht suchten mich meine Träume wieder heim. Ich verstehe nicht. Ich will nicht mehr. Aber doch muss ich, es gibt keine Wahl.

Nur stehe ich diesen Wahnsinn nicht mehr lang alleine durch. Ich brauche euch. Ich brauche dich.



RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 13.06.2020


IX – Hilfe

06.01.1352

Eigentlich hatte ich gehofft einige Zeilen über den wunderschönen Anblick der Wasserfälle im östlichen Maunas oder den beruhigenden Ritt entgegen des eindrucksvollen Rodstedts niederschreiben zu können. Wer auch immer dieses Buch eines Tages findet und liest, wäre vielleicht in heller Erwartung mehr über den Weg meiner weltlichen Reise zu erfahren.

Leider ist dafür weder Zeit noch Platz. In mir wütet ein nicht zu bändigender Sturm, ein donnerndes Gewitter, das alles durcheinander wirbelt. Meine Sicht verschwimmt im undurchdringlichen Nebel meiner Selbstzweifel, meiner pochenden Angst. Meine stummen Rufe nach Hilfe verklangen bisher ungehört in der betörenden Wildnis. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich auf die Mönche gehört hätte. Ja, vielleicht wäre das besser für mich und meine Umwelt gewesen. Aber seit wann höre ich auf den Rat anderer?

Bestimmt eine halbe Nacht ritt ich durch, führte Yuki über Stock und Stein, durch einen reißenden Strom und entlang steiler Abhänge. Ungeachtet der Gefahr und der Risiken der Nacht. Nein, keine Sorge, ihm geht es gut.

Mit lodernden Fackeln und ihren grölenden Schreien in einem niederen Tasperin sprangen die drei Burschen auf die Straße. Sie waren vielleicht gerade volljährig und trugen noch ihre kindlichen Ambitionen in ihren Augen. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, was mit mehr Leidenschaft brannte – das Feuer in ihren Händen oder ihre leuchtenden Augen? Solch unschuldige Naivität, ja solch jugendlicher Leichtsinn. Oh Deyn Cador, mein ewiger Herr und Hirte vergib mir. Sie konnten ja nicht wissen, nicht einmal ahnen, was die Konsequenz ihres törichten Handelns sein würde.

Ihr Anführer? Nun, er war zumindest derjenige mit dem meisten Mut und der größten Waffe in der Hand. Er war es, der seine Forke in meine Richtung streckte und all meine Habe einforderte. Ein ganz eigentümliches Gefühl ging von ihm aus, fast als ob seine Kühnheit und sein Ehrgeiz eine Aura erzeugen würden. Nicht so seine zwei Begleiter. Während des einen Knie unaufhörlich schlotterten, knirschte der Zweite mit den Zähnen auf, als sie mein Banner des Sôlerben mit ihrer Fackel beleuchteten.

Was ist nur aus dir geworden, Amélie? Wäre das nicht eine Situation gewesen, die du lieber mit Worten hättest regeln sollen?
Müssen.
Müssen.
Müssen.
Die Ordnung verlangt nun einmal ihre Opfer, nicht? Und wer sich ihr in den Weg stellt, wird gnadenlos zerquetscht. Nein, auch das kann nicht richtig sein. So will ich nicht enden, so will ich nicht sein. Aber am Ende bin ich doch so. Gnadenlos und grauenhaft. Es tut mir so Leid.

Doch wer die Ordnung angreift, dient dem Chaos. So steht es geschrieben. So wird es gepredigt. So habe ich es über dreißíg Jahre lang selbst vertreten. Aber ist das die ganze Wahrheit?

Sie waren einfach nur jung, ambitioniert und dumm. Aber sicher keine Diener des Chaos, keine Anhänger dieses scheusslichen Mannsweibes oder ihrer Dämonen. Nein, sie waren junge naive Dorftrottel, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Sich mit der falschen Person angelegt haben. Ein wahrer Mensch, eine Person der Güte und Aufrichtigkeit hätte sie mit wenigen Worten abhalten können. Aber ich war nicht stark genug. Ich ..

Ich trage ihr Blut fortan an meinen Händen. Vielleicht nur weitere Tropfen inmitten der großen Seen aus Leid und Zerstörung, die ich hinterlassen habe. Die Ordnung sieht sie als notwendige Opfer auf dem Weg an, als tragische Verluste, nicht mehr. Tragisch, ja. Tragisch.

Für ein wenig mehr Reichtum haben sie ihr Leben riskiert. Und sind ausgerechnet an mich geraten. Die panische Angst in den Augen ihres Anführers, welcher bis eben noch so getrieben von Mut und Ruhme wirkte. Nicht einmal diese zersetzende Furcht blieb ihm, als meine Klinge seine Forke zerbrach und seinen Leib durchdrang.

Seine Kameraden setzten beide zur Flucht an, doch kamen sie nicht weit. Nein, mir mögen diese Wälder fremd sein, aber Jahre meines Lebens habe ich mit der Suche nach Menschen verbracht. Sie erreichten nicht einmal die nächste Lichtung und fanden ein ebenso jähes Ende. Warum? Weil sie der Ordnung im Weg standen, mich aufhalten und Deyn Cadors Willen brechen wollten. So einfach oder? Nichts ist so einfach, verständlich und simpel. Oder doch nicht?

Sie sind tot. Unwiederbringlich. Für einen höheren Willen. Für meinen höheren Willen. Sie standen im Weg. Sie hatten die Muße mich aufhalten zu wollen. Dabei lasse ich mich nicht aufhalten. Deyn hat mir ein Ziel auferlegt und dieses Ziel werde ich erfüllen. Komme, was wolle.

Aber das kann nicht richtig sein. Das darf nicht die Antwort auf meinen Wunsch oder meinen Willen sein. Deyn, warum peinigst du mich so sehr? Ich dachte immer, dass alles so einfach wäre. Dass die Ordnung das einzig wahre Ziel dieser Welt sein musste und alles in ihrem Wege unnötiger Ballast ist. Weggehört. Aber ..? Das Aber ist gefüllt mit meinen Zweifeln über mein gesamtes Handeln, mein Leben und all das, was mich ausmacht. Kann es richtig sein Menschen wegen einer Dummheit, egal wovon sie angetrieben wird, auszulöschen? Gnadenlos.

Ich habe es nicht einmal versucht. Ich habe ihnen weder Gnade noch Güte angeboten. Ich habe mein Urteil gefällt und ihnen jegliche Hoffnung, Ambition und Zukunft geraubt. Sie in die unerbittliche Verzweiflung und ins Ende gestürzt. Das war meine Entscheidung. Und jede Entscheidung birgt unwiederbringliche Konsequenzen. Das ist meine Konsequenz. Ihr Tod. Durch meine Hände.

Dabei werde ich sogar ohne Weiteres davonkommen, denn das ist der Wille dieser Welt. Stand und Dasein entscheiden über Zukunft, Vergangenheit und das Leben. Die Schuldfrage ist bereits vor der Tat beantwortet. Kurios nicht? Können wir denn etwas dafür, woher wir kommen? Wie wir in welche Situation geworfen werden? Oder wie wir entscheiden müssen? Nein, das ist dein Werk, Deyn Cador. Du gibst uns alles vor und setzt den Samen des Lebens in unsere Leiber. Du führst uns durch unser Leben und triffst unsere Entscheidungen.

So dachte ich zumindest. Nein, all mein Leben lang, habe ich entschieden. Ich habe die Wahl getroffen. Versagt. Gesiegt. Und stets die Schuld und Konsequenz für beide Ausgänge auf meine Schultern genommen. So wie ich auch die Schuld für das Ableben dieser drei Burschen trage. Völlig ungeachtet aller Konsequenz habe ich ihr Dasein beendet. Sei ihnen gnädig, Deyn Cador. Wenigstens ihnen. Ich .. ich weiß, dass ich auf Abwegen wandere. Aber ich sehe das Licht durch all den Nebel nicht mehr. Und je weiter ich komme, je mehr meiner Ziele ich erreiche, desto weniger schimmern die Strahlen durch das Dunkel.

Lange Zeit hoffte ich, dass ein Gebet all meine Probleme lösen könnte. Aber seit Wochen, wenn nicht gar Monaten, finde ich keine Hoffnung mehr. Dein warmer Schein verschwindet immer mehr von meinem Körper und ich finde mich zusehends selbst nicht mehr. Deyn, ich werde nicht aufhören für dich zu streiten. Aber ich zerbreche. Mein Herz geht in versiegenden, nur noch traurig flimmernden Flammen auf und droht zu erlischen. Mein Glaube bröckelt langsam in sich zusammen, dabei ist er alles, was mich ausmacht und prägt.

Ich habe Angst. Fürchterliche und unerbittlich nach mir greifende Angst. Der Abgrund will mich und du bist nicht da für mich, Deyn. Habe ich etwa zu wenig gegeben? Die falschen Entscheidungen getroffen? Oder ist das der einzige Weg, wie du mich stark machen kannst – für all das, was noch kommen wird? Ich versuche mit diesem Gedanken weiterzuleben und durchzuhalten. Aber nach jedem Schritt, jeder untergehenden Sonne und jedem ablaufenden Albtraum fällt es mir schwerer. Wie soll ich bei klarem Verstand bleiben, wenn mir immer mehr genommen wird? Wenn ich immer mehr verliere und jede Entscheidung, wie eine Tat für Skrettjah wirkt?


Hilf mir Deyn, denn ich kann mir bald selbst nicht mehr helfen.
Lass mich nicht allein, denn ich fürchte mich vor der umgarnenden Dunkelheit.
Sende mir dein Licht wieder hinab.
Hinab in die Falle von Hass und Grausamkeit.

Zeige mir deine Güte.
Führe mich wieder auf deinen Pfad.
Bringe mir dein Licht und zeige mir die Ordnung.
Denn wenn das Chaos in mir wächst,
verliert die Ordnung ihren Halt.

Nur du kannst mich halten.
So wie ich immer zu dir gehalten habe.
Bring mir die Wärme und den Schutz,
und nimm mich dafür in dir auf.

Ich bitte dich so inständig,
denn wenn du nicht für mich da bist,
wird meine Flamme erlöschen
und die Dunkelheit mich vereinnahmen.

Amen.


Wäre es doch nur mit diesem Hass meiner Selbst, meines mickrigen und traurigen Daseins vorbei. Aber nicht doch. Nachdem ich den Tag überstanden habe, meine Schande versuche zu verstehen und die begangene Schuld begleichen will, beginnt der wahre Schrecken. Nachdem ich die drei Burschen abgeschlachtet hatte und sie im Wald begrub, wagte ich es meine Augen zu schließen.

Hätte ich es nicht getan, wäre ich nur weitergelaufen, bis ich zusammengebrochen wäre. Hätte ich es nur nicht getan und wäre ich wachgeblieben.

Wie oft habe ich mir gewünscht, dass Träume Realität werden oder Träume niemals Realität werden. Zwei unvorstellbare Extreme, eines abwegiger als das Andere. Seit den letzten Wochen bin ich froh, dass beides zum Glück niemals passieren wird. Oder?

Dennoch, so habe ich es mir nicht vorstellen wollen. So habe ich es mir alles nie erträumt. Meine ewig geschürte Angst vor meinem letzten Urteil wurde mir in diesem Traum zur aufrührenden, innerlich aufreißenden und letztlich zerstörenden Last. Wie würde mein Urteil ausfallen? Was würde alles in die Waagschaale geworfen werden? Und vielleicht am wichtigsten: Würde Deyn mich nach all dem, all meinem Leiden und meinen Taten, doch in das Fegefeuer hinabwerfen?

Mein geschundener Körper wurde aus einem undurchdringlichen Dickicht der Dunkelheit vom letzten Faden des Lichts hinaufgezogen. Stück für Stück ließen die klammernden, schwarzen Griffe und Pranken des Chaos von meinem Leib ab. Krampfhaft zog ich das letzte Fünkchen Hoffnung zu mir und kämpfte mir meinen Weg hinauf, bis das Schwarz mit einer unbeschreiblichen Wucht endlich durchbrochen wurde. Umgeben von den wärmenden Strahlen der Ordnung fühlte ich eine innerliche Zufriedenheit und endlich auch wieder das wohlige Pochen meines eigenen Herzens. Mir war mein Urteil zumindest vergönnt. Noch war ich nicht ganz verloren und in die niederen Schichten gefallen. Ich darf diesen letzten Strang meiner Ordnung nicht verlieren. Niemals. Denn dann habe ich versagt. Endgültig.

Über die felsige und mit einer grausamen Härte schimmernden Schlucht Dysmar vor dem Himmelsreich flog mein Dasein mit geradezu gewichtsloser Fügigkeit. Als ich am anderen Ende ankam, war mir die Last von den Schultern genommen und selbst das Blut in meinen Adern schien seinen grünlichen Stich verloren zu haben. Erleichtert atmete ich auf, bevor ich mich dem wirklich grausamen Schrecken stellen musste. Wie ich es wagen kann als Ordensrittern, Gläubige und Aufrechterhalterin der Ordnung mein letztes Urteil als grausamen Schrecken zu bezeichnen? Ich weiß es selbst nicht. Doch die in mir aufsteigende Angst, das bohrend flaue Gefühl in meinen Eingeweiden und der Wille zur Flucht waren Ausdruck meiner Furcht. Dies wäre der Moment gewesen, auf den ich mein gesamtes Leben hingearbeitet hätte. Oder vielleicht sogar schon hatte. Aber ich wollte nicht hier sein.

Woher hätte ich denn wissen können, dass es nicht mein wirkliches letztes Urteil ist? Wie in Deyns heiligem Namen hätte ich denn irgendetwas verstehen oder ahnen sollen? Natürlich hatte ich meine Vermutungen, aber sollte es das wirklich sein? Es konnte noch nicht vorbei sein, denn meine Pflicht habe ich noch immer nicht erfüllt. Wie einst er, damals, vor all der Zeit, muss auch ich erst meinen Dienst ableisten. Und erst danach wird mir vielleicht ein Ende vergönnt sein.

Ich hoffe und bete nur für eines – das mein Ende nicht so sein wird, wie das, was sich vor mir offenbarte.

Wackelnd und keuchend, mit jedem vorsichtigen und angsterfüllten Schritt zurückzuckend, versuchte ich mir meinen Weg entgegen des gleißenden Lichtes zu bahnen. Ich wusste, was dort auf mich warten würde. Die ewige Stille und Einsamkeit um mich herum, gab mir keinen Anlass zum Warten. Hier war nichts, wofür es sich gelohnt hätte. Meine Gewissheit würde ich nur bekommen, wenn ich mich meinem Leben stellen würde. Dafür war ich doch auch hier, nicht? Irgendwann sind wir alle dafür einmal hier.

Ich fasste mir an meine kahle und zerstochene Brust. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, dass es das letzte Mal sein würde. Gewissheit ist auch eine Erlösung, wenngleich sie allzu schmerzlich und vernichtend sein kann. Ich wüsste aber endlich, woran ich bin. Wer ich bin. Wofür ich gelebt habe.

Mit verkrampften und zu Fäusten geballten Händen, bahnte ich mir meinen Weg die langen Treppenstufen hinauf. So lange, bis mich das einnehmende und strahlende Scheinen des Lichtes blendete. Notgedrungen senkte ich meinen Kopf gen Boden, wobei ich ihm eigentlich in das Gesicht blicken wollte. Wenigstens einmal. Wobei .. einmal? Hatte ich es nicht schon einmal sehen dürfen? Seinen Glanz?

Es schmerzte in meinen Augen, so stark, als ob sie jeden Augenblick Feuer fangen wollten und in einer lodernden Explosion zerstört werden würden. Doch ich wollte ihn sehen, mehr als alles andere. Ich hob meinen Blick, riss meine Augen auf und versuchte mir mit aller Macht seinen Anblick zu verinnerlichen. Und doch, obwohl ich mich an jeden Augenblick in seiner Präsenz erinnere, ist dort – an seiner Stelle – eine tiefe, bedrückende Leere. Dabei sah ich ihn doch so klar – oder nicht?

Es erklang keine Stimme oder kein Ruf, keine Worte wurden gewechselt, nein. All das, was er mir mitteilen wollte, wurde direkt in meinen Kopf geschrieben. Als hätte er mit einer Feder meine Gedanken beschrieben, damit ich niemals vergessen würde. Damit ich nicht vergessen darf. Damit ich nicht scheitere. Damit ich sein Ziel erfülle.

Und vor allem, damit ich niemals die Konsequenz meiner Fehlschläge, meiner Schanden und falschen Entscheiden, meiner Handlungen sowie meines Daseins vergesse. Damit ich fortan inbrünstiger für die Ordnung streite, als je zuvor. Damit ich ihn nicht enttäusche.

Und .. damit ich sie alle nicht enttäusche und ihre vorbestimmten Schicksale abwenden kann. Nicht auch sie dürfen ein schreckliches Schicksal erleiden, nicht, wenn ich es verhindern kann.

Mit einem gewaltigen Luftzug stieß er mich von seiner gleißenden Empore zurück, als wäre ich nur eines der kleinsten Teile in einem gewaltigen Spiel. Zielgenau warf er meinen Körper in die Schlucht Dysmar, an der all die leidenden Seelen zwischen Fegefeuer und Himmelsreich festhingen. Irgendwo zwischen ewiger Glückseligkeit und endlosem Leid. Er wollte mir zeigen, was passieren würde. Und er offenbarte mir all die Schicksale, die ich in den zahllosen Nächten zuvor schon erleben musste. Er dient schonungslos seinen eigenen Idealen und bestraft diejenigen, die gegen seinen Willen und seine Ordnung handeln.

Ich will sie nicht leiden sehen. Ich will mein Leben nicht umsonst für falsche Ideale gelebt haben. Er ist kein Herr des Guten, das war er nie. Nein, er verheimlicht es auch nicht. Aber doch will ich auf seiner Seite stehen. Denn den grauenhaften Konsequenzen für all mein Handeln will ich entgehen, ich will sie beschützen. Ich muss sie verteidigen. Und ich werde der Ordnung dienen. Denn das ist, was ich immer gemacht habe. Es gibt kein höheres oder besseres Ideal in der Welt. Sie ist nicht perfekt, voller Makel und Schönheitsfehler. Aber erst sie gibt uns den Rahmen dieser Welt und einen Schutz vor dem verwegenen, rätselhaften und hilflosen Gebilde unserer Leben.

Doch je mehr ich erlebe, je mehr ich sehe, desto weniger schaffe ich es bei Verstand zu bleiben. War das ein Weckruf? Vielleicht. Aber .. ich werde nicht mehr lange alleine durchhalten. Meine Hilferufe in diesem Buch bleiben ungehört. Es wird Zeit zu handeln.

Rodstedt ist nicht mehr weit. Ich brauche dich.




RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 23.06.2020


X – In der Einsamkeit des Maunas

17.01.1352

So eilig, wie ich den Schauplatz einer meiner weiteren schrecklichen Tat verließ, fand ich mich umgeben von großen Eichen und dichten Laubbüschen wieder. Der herrliche Duft von aufkeimenden Blüten hing in der Luft, während ein allgegenwärtiges Zwitschern der Vögel meine Reise anleitete. Anders als ich eigentlich gedacht hatte, war ich auch nach mehreren Stunden noch immer in den tiefen Wäldern am Maunas unterwegs. Die ausgetretenen Trampelpfade, die hier die Wege zwischen den wenigen Städten und Siedlungen ausmachten, waren häufig kaum noch von den Spuren der Tiere zu unterscheiden. Folgte ich hier eigentlich noch dem richtigen Weg nach Rodstedt?

Das gerade dieser widerliche Mistkerl von Kessler mir mit seinem Kompass wieder den richtigen Weg weisen würde, hätte ich mir niemals erträumen können. Dennoch - die Nadel in dem eisernen Gehäuse, auf dem sogar mein Name eingraviert war, zeigte zuverlässig gen Norden. Hoffentlich hat jemand diesem arroganten Alkoholiker endlich ein paar Zähne aus dem Mund geschlagen. Vergib mir, Deyn. Ich weiß, ich sollte solche Dinge nicht denken und erst gar nicht niederschreiben, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass auch Kessler mit beiden Beinen im Sumpf dieses Mysteriums gefangen ist. Fast schon, als würden wir beide nicht ganz freiwillig nebeneinander für unsere eigenen Ziele nach denselben Antworten streben, hm? Mein jüngeres Ich hätte sicher einst versucht ihn für unsere Seite zu gewinnen, aber seine Wesenzüge dienen nur seinem eigenen Dasein, keinem größeren Opfer für unsere Welt. Vielleicht schafft er es deswegen jedes Mal aufs Neue mir eine Gänsehaut auf die Arme zu legen?

Mit einem kleinen Schnipser ließ ich die Kompassnadel ein wenig tanzen und machte mich dann auf den Weg nach Nordosten. Irgendwo hinter diesem einzigartig dichten und verwucherten Wald würde sich hoffentlich auf einmal Rodstedt erheben. Nach einer kurzweiligen Rast an einem sanft dahinfließenden Bach, suchten Yuki und ich uns weiter unseren Pfad entlang des dichten Grüns. Wir kamen jedoch deutlich langsamer voran, als ich mir gewünscht hatte. Unzählige Wurzelstränge und Steine blockierten die Durchgänge und selbst zu Fuß mussten wir aufpassen, dass wir nicht an den zahlreichen Ästen hängenblieben. Pribislaw Pfeiffer hätte in diesem Wald sicher seine helle Freude gehabt.

Nachdem ich mich einige weitere hundert Meter einer Anhöhe entlang gekämpft hatte, verdunkelte sich plötzlich der Himmel über mir. Wolkenfronten zogen auf und schon bald sollten der erste Knall des Donners über uns ein schweres Gewitter ankündigen. Ich machte mich auf die Suche nach einer Höhle oder einem Unterschlupf, vielleicht lag hier ja gar irgendwo eine alte, verfallene Hütte?
Aber nichts da, meine Suche endete zunächst in einem eindeutigen Misserfolg. Die dicken Tropfen des Regens begannen auf die Erde einzuprasseln und die zuvor dagewesene Ruhe verwandelte sich in ein tobendes Orchester aus knarzendem Holz, gewaltig niederkommenden Wassermassen und dem regelmäßigen Schlag des Donners.

Je länger ich angestrengt nach einem Zufluchtsort suchte, desto schwerer wurde die durchnässte Kleidung an meinem Körper. Erst als ich nach einer gefühlten Ewigkeit in der Dunkelheit an einer nicht allzu weit entfernten Felswand einen Spalt im Felsen erkannte, spürte ich erste Erleichterung in mir. Geschwind betrat ich mit Yuki unseren natürlichen Unterstand. Im Inneren der nur wenigen Meter tiefen Höhlen schienen vor langer Zeit schon einmal Reisende im Stein kampiert zu haben. Neben einem kleinen Steinplateu lagen notdürftig zusammengezimmerte, aber immer noch intakte, Holzhocker im Dreck. Sogar die Überreste eines längst erkalteten Lagerfeuers konnte ich noch ausmachen.

Yuki stellte sich mit seinem großen Kopf an den Eingang der Höhle, fast schon als ob er lieber mein Wachposten wäre. Vielleicht wollte er auch einfach nur nicht die stickige Luft im Inneren der Höhle atmen müssen, wer weiß das schon?
Ich begann mich langsam zu entkleiden, indem ich die Lederriemen an meinen schweren Rüstungsplatten löste und die Metallteile auf den Boden stellte. Anschließend zog ich mir die nasse und klebrige Kleidung vom Körper und legte sie, so gut es eben ging, in der Höhle zum Trocknen aus. Glücklicherweise hatte ich in einer der Satteltaschen noch, im Kloster frisch gewaschene, Wechselkleidung dabei. Es war zwar nicht meine liebgewonnene Kombination aus Leinen und Leder, aber sie sollte mich für die Zeit in der Höhle immerhin warmhalten.

Ich setzte mich auf einem der zusammengezimmerten Hocker nieder und zog meinen Schleifstein aus, dem auf Yukis breiten Rücken aufgespannten, Rucksack hervor. Ich hatte meine wohlgediente Ordensklinge schon lange nicht mehr geschärft, es war wirklich einmal wieder an der Zeit. Während ich Zug um Zug den gehärteten Stahl mit dem Stein abzog, blickte ich zu meinem ruhig mit seinem Schweif wedelnden Yuki herüber. Das unerwartete Lächeln auf meinen Lippen habe ich sicher nur dir zu verdanken, nicht wahr mein treues Streitross?

Wir haben schon viel gemeinsam durchgemacht, und immer kamst du treumütig zu mir zurück. Vom ersten Tage an, wo du vor mir standest und mir Michael Bonnington deine Zügel reichte, bis heute. Zusammen sind wir durch unzählige Schlachten im Kreuzzug geritten und letztlich waren es dein mächtiger Rücken und deine kräftigen Beine, die Jule gerettet haben. Wer hätte das schon alles gedacht? Ich will wenigstens hier ehrlich sein. Und wenn ich mir ein Herz fasse, dann hätte ich nicht erwartet, dass wir lebendig aus Szemää zurückkehren. Beide.

Aber doch sitzen wir hier in dieser Höhle, irgendwo im weidtländischen Maunas und warten nur darauf, dass der draußen niedergehende Regen aufhört. Wer weiß, was uns beiden die Zukunft noch bringt, Yuki? Ich habe schon oft gedacht, dass ich dich verloren habe, dich nie wieder sehen würde. Und noch öfter dachte ich, dass mein eigenes Leben endgültig vorbei sei. Nur unser beider Herr weiß, was die Zukunft wirklich bringen wird. Ich verstricke mich währenddessen lieber in meinen tiefen Gedankenspielen und verschwende so unendlich viel Zeit auf der Suche nach den Antworten auf völlig irsinnige Fragen. Eigentlich hätte ich schon längst darüber nachdenken müssen, was es mit diesen angeschmorten Hinterlassenschaften auf sich hat. Aber selbst nach all der Zeit komme ich nicht mal auf einen sinnigen Ansatz. Natürlich ist mir bewusst, woher sie stammen und, dass sie ein Zeichen sein müssen. Irgendeine tiefere Bedeutung haben. Aber was? Kann ich es überhaupt schon herausfinden?

Ich weiß, Yuki. Selbst wenn du mir helfen wolltest oder die Antwort kanntest, du wirst nicht auf einmal anfangen zu sprechen und mir die Antwort verraten, hm? Da draußen prasselt der Regen in derselben Härte auf den nassen Boden, wie ich das Blut der Menschen um mich herum in den Teich meines letzten Urteils fließen lasse. Unablässig und unaufhaltbar. Ich bin nicht stark genug, um mir keine Schuldvorwürfe zu machen oder einfach alles an mir abprallen zu lassen. Ich weiß, was ich für Recht und Unrecht halte. Ich bin ich. Ich bin Amélie. Und seit jeher folge ich meinem Ziel der Ordnung für ein größeres Wohl. Ich weiß nicht, was die Zukunft mir bringen wird oder wie lange ich noch auf dieser Welt bleiben wird.

Und wegen all dieser Ungewissheit und all meiner Zweifel, werde ich mein Streben nach meinen Idealen nicht aufgeben. Was soll schon passieren? Mehr als Scheitern kann ich nicht, selbst, wenn ich weder Scheitern darf noch will. Aber ist das nicht auf eine ganz eigene Weise ein besonderer Antrieb, um nach dem Besseren zu streben? Ich will meine Liebsten beschützen und diese Welt zu einem ordnungstreuen Ort machen. Vielleicht sind meine Mittel dafür oft nicht angebracht oder häufig genug auch völlig falsch. Diese drei Burschen, deren Namen ich nicht einmal kannte und deren Leben ich so jäh beendet habe. Sie teilen dasselbe Schicksal, wie Aleandro und Pedro, die die ersten Menschen waren, die wegen mir gestorben sind. Ich trage ihre Last, ihre Wünsche und Träume, ebenso wie ihre Hoffnung und Verzweiflung auf meinen Schultern. Oft genug werde ich mit diesem unendlichen Gewicht fallen, aber wird mich das vom Wiederaufstehen abhalten? Darf es das? Franz hätte mich für den Gedanken an das Aufgeben schon gezüchtigt, wenngleich ich mir sicher bin, dass auch er gezweifelt haben muss. Wir dürfen unsere Schwäche nur nie zeigen, wenn es darauf ankommt. Ohne Entschlossenheit und Zielstrebigkeit sind wir nur führungslose Schafe und werden nichts auf dieser Welt erreichen.

Ich muss endlich entschlossener werden, schätze ich. Sonst bringe ich meine Wünsche nur selbst durcheinander. Auch, wenn es eine gewisse Ironie in sich hegt, wenn man sich mehr selbst im Weg steht, als die eigenen Widersacher. Dennoch glaube ich, dass ich dich brauche, damit ich nicht ständig meine Orientierung verliere. Alleine waren wir noch nie stark, aber gemeinsam finden wir unser Glück und die wahre Stärke.

Ich verstehe meine eigenen Probleme vielleicht sogar so gut, dass ich es nicht wage sie anzugehen. Es erfordert einen starken Kopf und noch mehr Mut, um gegen sich selbst und sein eigenes Streben anzukämpfen. Alleine schaffe ich das nicht.

Ich sollte endlich einen Brief an dich schreiben, Jule. Ich habe mir lange genug Gedanken darüber gemacht, dass ich dich nicht in Gefahr bringen will oder ich doch nur dich beschützen will. Aber beschützt du nicht eigentlich mich? Bist du nicht diejenige, die mich aus der Gefahr herauszieht? Letztlich brauchen wir einander. Verdammt, Amélie – du brauchst sie. Vor unzähligen Seiten wolltest du endlich nach Hilfe schreien, jetzt ist der Zeitpunkt endlich gekommen!


Dennoch, egal wie laut ich in diesem Wald schreie und warte, finden wird mich hier niemand. Selbst die Suche nach Werner Gerber muss ich alleine antreten, denn die Überfahrt dauert so elendig lange. Es sind Wochen und Monate, die ich nicht einfach abwarten kann. Und die Schneise aus Tod, die sich vor mir aufbäumt, darf auch ich nicht vergessen. Bisher hat jede von mir aufgesuchte Person ein schnelles, oft grausames, Ableben erfahren müssen. Wer weiß, wie es Werner Gerber geht? Ich hoffe, dass er noch am Leben ist und an Uriel Bonningtons Seite verweilt. Vielleicht sollte ich ein Gebet sprechen? Nein, nicht hier in dieser Höhle. Besser an einem anderen Ort, vielleicht auch zu einem anderen Zweck.

Auch wenn es vermutlich keine besonders gute Idee ist, sollte ich versuchen die Zeit hier in der Höhle für ein wenig Ruhe zu nutzen. Vielleicht würden meine Albträume für heute fern von mir bleiben und ich sehe ausnahmsweise einmal die guten Seiten dieser Welt? Es wäre zu schön, nicht wahr? Aus einigen zusammengelegten, trockenen, Stoffstücken legte ich mir eine halbwegs gerade Liege zusammen und schloss meine Augen.


Ich würde die folgenden Zeilen nicht einmal niederschreiben, wenn meine Vorahnung nicht doch eingetreten wäre. Meine schweren Augen fielen nach nur wenigen Minuten zu, selbst nachdem der Donner mich noch ein oder zwei Mal aufgeschreckt hatet. Als ich wieder zu Sinnen kam, war ich allein – Yuki war weg. Panisch und außer mir vor Sorge trat ich vor die Höhle und fand nichts außer einen in dichtesten Nebel gehüllten Wald. Von meinem geliebten Pferd war weit und breit keine Spur. Ich musste ihn suchen, ich .. konnte ihn doch nicht verloren haben!

In der Höhle griff ich mir nur geschwind meine Klingen, bevor ich eiligst rufend durch den Wald lief. Ich spürte, wie mein Puls in die Höhe schnellte und das Herz in meiner Brust immer schneller pochte, je mehr Weg ich gutmachte.
"Yuki?! Wo bist du hin? Yuki, komm zu mir zurück!"

Schritt um Schritt lief ich gehetzt durch den Wald, ich wollte so viel Raum, wie möglich, in kürzester Zeit absuchen. Es konnte doch nicht wahr sein, dass er mir ausgerechnet jetzt abhanden kommt!
Warum in Deyns hohem Namen verlässt er mich einfach so? Das hat er doch noch nie gemacht.. Minutenlang kämpfte ich mich durch den dichten Forst, bis meine Kehle, wie nach einer durchzechten Nacht, feurig brannte. Keuchend und schnaufend blickte ich mich um. Eine Angst durchfuhr meinen Leib, meinen letzten Begleiter nun doch verloren zu haben. Und das nur, weil ich so töricht und naiv gewesen war meine Augen zu schließen. Hatte er gar eine Vorahnung und mich so beschützt? Yuki, bitte. Das .. konnte doch nicht wahr sein.

Umgeben von den hochgewachsenen und dichten Pflanzen des Waldes hatte ich schnell die Orientierung verloren. Der dichte Nebel ermöglichte mir nicht einmal mehr das Auffinden meiner eigenen Spuren, ich war allein, inmitten dieses Dickichts. Ich ballte meine Fäuste, verärgert von meiner eigenen Naivität. Warum bin ich denn so kopflos in den Nebel gestürmt? Mir bedeutet Yuki so viel, er kann doch nicht einfach weg sein. Er darf mich nicht allein lassen! Nein, Amélie, du darfst ihn nicht allein lassen!

Erst, als ich bemerkte, wie die ersten Tränen meiner Verzweiflung an meinen Wangen herabliefen, kam ich wieder zu halbwegs klarem Verstand. Meine Trauer durfte mir für diesen Augenblick nicht im Weg stehen, ich musste ihn finden. Aber wie? Angespannt und mit geballten Fäusten drehte ich mich im Wald herum, versuchte irgendeine Spur auszumachen, der ich nachgehen könnte.

Ich wendete mich, wie ein aufgescheuchtes Kaninchen umher. Mit ausgestrecktem Hals versuchte ich einen klaren Blick zu fassen, um durch den Nebel zu sehen. Plötzlich ertönte ein hoher, fast schon schriller Schrei, einer mir unbekannten Kreatur. Yuki!

Ich versuchte innerhalb des Waldes den Schrei auszumachen, war mir aber auf einmal fast schon unheimlich sicher, aus welcher Richtung er gekommen sein muss. Sprintend lief ich über eine, einem grauen Nebelmeer gleichenden, Lichtung, bis ich vor einer hochgewachsenen Trauerweide stand. Ihre dicken Blätterstränge versperrten mir erst die Sicht, bis ich dahinter Yuki erblicken konnte.

Sein Kopf war vom restlichen Leib abgeschlagen und lag wenige Meter von seinem anmutigen Körper entfernt. Sein Bauch war aufgerissen und die Eingeweide wurden wie von verwunschenen Armen herausgezogen und um den Baum geschlungen. Meine Augen waren sofort von einer Flut aus Tränen überfüllt, während mein Magen sich wie ein Knoten zusammenzog. Eine Übelkeit und ein Ekel stiegen in mir herauf, ließen mich sofort auf der Stelle zusammensinken und auf die Knie gehen. Ich .. es konnte nicht sein! Mein treuester Begleiter!

Ich wünschte ich hätte ausreichend Zeit zum Trauern gehabt, doch erklang sogleich hinter mir derselbe schrille Ton, der mich in meiner Verzweiflung hergelockt hatte. Ein wildes Schnauben, gefolgt von einem keifenden Zischen ließ mich wieder auf die Beine schnellen und meine Klinge aus der Scheide ziehen. Als ich meinen Kopf nach hinten drehte, sah ich bereits die hölzerne Klaue auf mich zuschnellen. Nur mit einem raschen Sprung zur Seite konnte ich den kräftigen Ästen entgehen, die auch Yuki dahingerafft haben müssen. Als ich mich halbwegs wieder gefangen hatte, sah ich das Ungetüm vor mir.

Seine rot glimmenden Gliedmaßen waren umgeben von dunklen Holzmassen. Ranken und Blätterbüschel hingen überall am Körper des dämonischen Wesens. Mir war sogleich klar vor welchem Wesen ich hier stehen musste: Thurka-Nafri, ein Dämon der Decrapia, hatte sich in diesem Wald erhoben und trachtete nach mir. Meine Knie begangen zu Zittern, als ich verstand, wem ich hier allein und ohne Rüstung gegenüberstand. Ich wusste, dass ich mich diesem Wesen stellen musste. Ich hatte keine andere Möglichkeit als zu kämpfen, denn das hier war sein Gebiet. Und ich war allein.

Meine Schwerthand war schon am Griff von Heldenmut, als der nächste Schlag des baumartigen Wesens von oben auf mich einprasselte. Wieder rettete mich nur ein Sprung zur Seite, der mich aber auf einer harten Wurzel aufkommen ließ. Ein scharfer Schmerz durchzog meine linke Schulter, mit der ich just auf dem Boden aufgeprallt war. Ich biss mir auf die Unterlippe, zog die mir so vertraute Klinge aus der Scheide und versuchte den nächsten Schlag abzufangen. Ein Ast des Thurka-Nafris schleuderte mir von der linken Seite entgegen. Im wirklich allerletzten Moment flog die Klinge Heldenmuts gegen den dämonischen Arm. Unter einem Feuerwerk aus Funken flog der Arm des Wesens verwelkend zu Boden, während mir ein stechender Schmerz durch den Brustkorb fuhr. Heldenmut war nicht für Menschen bestimmt, aber nun einmal die einzige Hoffnung, die mir hier auf einen Sieg blieb.

So dachte ich zumindest, denn in meiner Unachtsamkeit – geprägt vom stechenden Schmerz in Schulter und Brust, traf mich ein weiterer hölzerner Arm. Ich realisierte erst, wie ich mehrere Meter durch die Luft glitt und am anderen Ende der Lichtung hart auf dem Boden aufprallte, als ich gegen einen weiteren Baum knallte und am Boden liegen blieb. In meinem Kopf drehte sich alles. Blut tropfte aus meiner Nase und schon wenig später auch aus meinem Mund. Der Geschmack eisenhaltigen Blutes lag mir auf der Zunge. Als ich mich wieder aufrichtete und das dämonische Wesen auf mich zuschlurfen sah, wurde mir erst das wahre Ausmaß seines vorherigen Treffers bewusst. Meine linke Taille war halb aufgerissen, nur der Schock verschonte mich vor dem zerstörerischen Schmerz. Zähneknirschend presste ich beide Hände auf die rinnende Wunde.

Es tut mir Leid, Yuki. Doch habe ich auch in diesem Kampf versagt. Ich musste fliehen, nahm beide Beine in die Hand, bevor der Schock nachließ. Ich wusste, dass ich nur wenig Zeit hatte. Sobald der Schmerz einsetzt, würde bald die Bewusstlosigkeit folgen. Ich brauchte Hilfe, sonst würde ich in diesem Wald verbluten.

Keuchend strauchelte ich über die Wurzeln, unter dem dichten Buschwerk hindurch. In meinem Rücken hörte ich stets das unaufhörliche Zischen und Schlurfen Thurka-Nafris. Er war hinter mir her, ich musste hier weg. Lächzend schaffte ich es unter Deyns schützenden Händen noch einige Meter weiter, bevor ein zermürbender Schmerz an meiner Taille mir die Luft aus der Lunge drückte. Nach einem weiteren Schritt fiel ich vorn über auf den Boden, bekam weder Luft noch einen klaren Gedanken. Mir wurde langsam schwarz vor Augen, mein Sichtfeld schränkte sich immer mehr ein. Mit allerletzter Kraft drehte ich mich auf den Rücken, bis die rotbraunen Holzstücke des Dämons über mir standen. Mit einem letzten Gebet schloß ich meine tränenunterlaufenen Augen.


Und erwachte wieder. Mein Kopf lag an einen Felsen gelehnt, mein Körper auf mehreren Stoffstücken ausgebreitet und der mich zuvor peinigende Schmerz war verflogen. Vorsichtig öffnete ich die Augen und starrte auf Yukis kräftigen Hinterleib. Ich begann zu schluchzen und zu weinen. Meine Tränen plätscherten auf den unter mir liegenden Steinboden, wie der immer noch draußen niedergehende Regen auf das weidtländische Grün. Mit jedem Schritt den ich auf Yuki zuging, pochte mein Herz lauter und lauter auf. Zunächst fuhr ich ihm mit beiden Händen über das dichte braune Fell, bis ich meinen gesamten Körper an ihn schmiegte. Seine Wärme, sein tiefes Atmen, es wirkte so beruhigend und schön. Ich war und bin noch immer ausnahmslos froh, dass er noch da ist. Ich hatte solche Angst ihn verloren zu haben. Aber hier war er. Schluchzend bin ich ihm bestimmt eine ganze Stunde über sein Fell und seine Mähne gefahren, bis der Regen vor unserer Höhle endlich nachgelassen hatte.

Warum Deyn mich wieder einmal mit solch einem grausamen Albtraum bestraft? Und dann auch noch mit einem Dämonen, von dem selbst ich bisher nur in den alten Schriften gelesen habe? Ich weiß es nicht, aber ich .. was weiß ich überhaupt? Ich bin nur froh, dass ich Yuki nicht verloren habe. Das er hier weiter bei mir ist und ich die nächsten Stationen nicht allein durchstehen muss. Man lernt erst zu schätzen, was einem fehlt, wenn man es nichtmehr hat, hm? Ich dachte immer, dass ich Yuki anders behandelt hätte, nicht wie ein Arbeitstier oder einen Gegenstand. Aber anscheinend reicht meine Fürsorge und Anerkennung für dich noch lange nicht aus.

Ich setzte mich noch einen Moment nieder, um mich wieder zu sammeln. Anschließend legte ich meine größtenteils getrocknete Ausrüstung wieder an und nahm Yukis Zügel in die Hand. Wir hatten lange genug geruht, wir mussten unseren Weg fortsetzen. Ein ähnlich dichter Nebel, wie in meinem schrecklichen Traum, war mittlerweile über dem weidtländischen Wald aufgezogen. Eigentlich ist es keine gute Idee diese Länder im Nebel ohne ortskundigen Führer zu durchqueren, aber ich hatte keine große Wahl. Vorsichtig und immer auf den Boden vor mir achtend, führte ich mein Pferd durch die Landschaften. Die einzige Orientierung blieb der Kompass der Gilde der Kartographen. Immerhin auf dieser Belohnung hatte Kessler es mal geschafft meinen Namen richtig zu schreiben.

Etwa zwei Stunden später, der Wald hatte sich mittlerweile ein wenig gelichtet und die Bäume standen eher vereinzelt voneinander entfernt, erkannte ich den Schein von Öllaternen durch den Nebel. Je näher ich kam, desto mehr offenbarte sich die dörfliche Gemeinschaft vor mir. Etwa ein Dutzend Häuser standen um einen kleinen zentralen Platz herum verteilt. In der Mitte des Ortes stand eine hochgewachsene Trauerweide. Ich schluckte schwer, merkte, wie mein Puls anstieg und ich ein Pochen im Halse vernahm. War das etwa eine Vorankündigung Deyn? Ich wollte lieber die bald hereinbrechende Nacht hier verbringen, bevor sich mein grausamer Traum wiederholt.

Glücklicherweise verfügte das liebliche Dörflein sogar über eine kleine Gaststätte mit Unterstand für die Pferde. Ich band Yuki an, streichtelte ihn an seinem großen Kopf und legte etwas Stroh aus dem überdachten Lager in den Futtertrog vor ihm. Anschließend betrat ich die größtenteils leere und spärlich eingerichtete Taverne. In der Mitte befand sich ein offen brennendes Feuer mit einem großen Eisentopf darüber. Hier und da standen ein paar Tische und Stühle herum, während am Ende des Raumes ein großer Tresen mit allerlei gläsernen Flaschen aufgebaut war. Der bärtige und deutlich gealterte Wirt hob grüßend die Hand und bot mir einen Platz an. Sogleich bestellte ich ein Bett für die Nacht, eine Mahlzeit für diesen Abend und zahlte selbstredend auch das Stroh für mein edles Streitross. Ich bon so heilfroh dich zu haben, Yuki.

Während ich wartete, zog ich aus meinem Notizbuch einige der Papierstücke, die ich mir bei den Sôlanern in Asmaeth mitgenommen hatte, hervor. Ich verfasste endlich den Brief, über den ich solange nachgedacht hatte. Zufrieden steckte ich das Stück zusammengefaltet wieder zurück zwischen die Buchseiten. Ich wollte ihn in Rodstedt zum Postamt bringen, damit er hoffentlich bald zugestellt würde.

Nach einer Weile bekam ich meine Mahlzeit, einen dampfenden Hirsebrei mit einem gekochten Ei, serviert. Die einfache weidtländische Küche konnte mich bisher nicht beeindrucken und auch diese Speise schaffte es sicherlich nicht dies nachzuholen. Immerhin wurde mein Magen gefüllt. Kurz bevor ich Aufstehen wollte, um mich nach meinem Zimmer für die Nacht zu erkundigen, betrat ein junger Herr die Gaststätte. Sein zerzaustes Haar und sein strubbeliger Bart ließen ihn nicht wirklich ansehnlich erscheinen, doch trug er eine Kutte, die ihn als Priester der Silvanischen Kirche auswies. Erfreut winkte er dem Wirten zu, bevor er mich – als einzigen Gast in dieser Wirtsstätte – anblickte und mich ebenso freudig begrüßte. Nachdem er seine Bestellung durch den leeren Raum gerufen hatte, bat er um den weiteren freien Platz an meinem Tisch.

Auch wenn mir nicht mehr wirklich nach einem Gespräch zumute war, konnte ich die Anwesenheit eines Priester schlecht ablehnen. Auch auf den zweiten Blick war er mit seinem fast faltenfreien und gar jugendlichen Gesicht unter den herumwuchernden Haaren mit Sicherheit jünger als ich. Mit seiner hohen, aber dennoch nicht nervigen Stimme, versuchte er sogleich ein Gesprächsthema zu finden.

"Seid vielmals begrüßt, wirklich, werte Dame. Ich hoffe euch wirklich nicht zu stören, aber ihr versteht sicher, dass wir hier nicht allzu oft derartig interessanten Besuch bekommen! Hier in der Abgeschiedenheit der Berge kommen nur wenige Händler und noch weniger Wandersleute. Sagt, gefällt es euch hier?"

Ich setzte mein leichtes Lächeln auf und ließ mich dann doch irgendwie in ein Gespräch mit ihm verwickeln. Vielleicht habe ich nach den Tagen der Abgeschiedenheit Weidtlands nur ein wenig Gesellschaft nötig gehabt, aber letztlich unterhielten wir uns länger und inhaltlich tiefer, als ich eigentlich vorhatte. Deyn vergelts.

"Seid bedankt für eure Freundlichkeit, junger Priester. Mögt ihr mir euren Namen verraten? Diese Region hat sicherlich ihre Vorzüge, wenngleich mir der viele Regen und Nebel doch ein wenig auf das Gemüt schlagen."

"Ach, ach, sagt doch nicht sowas." Er schwenkte mit seiner rechten Hand in der Luft umher. "Das Wetter hier ist eben einzigartig! Ich bin der örtliche Priester für die drei in der Nähe liegenden Dörfer und natürlich diesen wunderbaren Ort, nennt mich Edgar!"

"Edgar, so? Mein Name lautet Amélie, wie ihr unschwer erkennen könnt, vom Orden des heiligen Sôlerben. Sagt, wie lange seid ihr schon im Dienste des Herrn?"

"Ich bin noch wirklich nicht allzu lange fertig mit meiner Initiation, aber hier in Weidtland mangelt es an allen Ecken und Enden an Geistlichen! Scheinbar scheint das Geschäft oder die Seefahrt verlockender, dabei sind Deyns Lehren ein ebenso gutes und gleichzeitig lukratives Einkommen!"

"Ein Einkommen? Dient ihr dem Herren nicht wegen eures Sinnes für die Ordnung? Für unser aller Wohl?"

"Sicherlich auch, aber ich hätte doch nicht alle meine Möglichkeiten aufgegeben, wenn ich hier nicht mit Einfluss und guter Münze belohnt werden würde. Ich finde eure noblen Zwecke zwar, nunja .. nobel, aber würdet ihr denn auch in bitterster Armut vom Fuße der Gesellschaft Deyns Jüngerin sein?"

Würde ich? Oder ist all mein Idealismus, all mein Glaube, nur vorgeschoben? Ich haderte. Meine Entscheidungen als Kind oder in der Jugend wurden sicher nicht von einem Interesse an persönlicher Macht angeleitet, aber ist es heute anders? Führe ich meine Aufgaben nur noch aus, weil ich den Erhalt der deynistischen Macht begehre? Ich kann und will mir keine Welt ohne die Oberhand der Kirchen und der Ordnung Deyn Cadors vorstellen, wenngleich ich nicht einmal davon ausgehe, dass unsere Welt ohne sie lange existieren könnte. Auf der anderen Seite dürfen wir vermutlich nicht vergessen, dass wir ohne weltliches Dasein nur umherirrende Seelen sind. Wenn wir nicht mehr in der Lage sind unsere Körper und unsere Geister zu versorgen oder ruhen zu lassen, dann bringt mir auch all mein Wille für die Gemeinschaft nichts.

Die Menschen, all die Gläubigen, sind so oft orientierungslose und egoistische Schafe ohne Hirten. Bringt nicht erst der deynistische Glaube sie alle in der Messe zusammen oder bereitet ihnen ein schönes Fest? Natürlich ist es so. Weder unsere weltlichen Herren noch Bürgergemeinschaften und erst Recht nicht die gottlosen Magier oder Anhänger Skrettjahs sorgen für Zusammenhalt. Am Ende fällt es alles auf uns zurück. Würde ich Deyn auch aus der Armut dienen? Sicherlich, denn für mich gibt es kein anderes Ziel im Leben. Aber aus der Armut heraus.. wäre nichts so möglich, wie es heute für uns ist. Feste und Messen, Speisungen und Unterkünfte entstehen aus Nächstenliebe, benötigen aber letztlich Münze und Material. Solange wir die Oberhand auf dieser Welt haben und genug Gläubige unter unseren schützenden Bannern versammeln können, werden wir bestehen.

"Ja. Würde ich." stieß ich nach meiner kurzen Bedenkzeit entschlossen hervor. "Doch solange wir unseren Glauben obsiegen lassen, werden wir nicht am Fuße der Gesellschaft stehen sondern die stützenden Pfeiler bilden. Würde eure Gemeinde so zusammenhalten, wie sie es hoffentlich heute tut, wenn ihr nicht wärt?"

"Ihr seid hartnäckig, werteste Amélie. Wenn ich nicht wäre, würde irgendetwas anderes an meine Stelle treten. Versteht mich nicht falsch, Deyn ist hier das Zentrum all unseren Glaubens und ich investiere wirklich viel Fleiß und Mühe darin seine Lehren zu verbreiten, aber ... mit meinen Worten lenke ich die Menschen. Und wenn ich sie lenken kann, warum sollte nicht auch jemand anderes dieselben Fähigkeiten haben?"

Das Ersetzen des Deynismus, hm? Wenn ich zurück an unseren Kreuzzug in das gefallene Land Szemääs denke, dann muss ich ihm Wohl oder Übel recht geben. Diese einst so deyngläubigen Menschen, vor langer Zeit von Jakobus selbst geführt, waren nach dem Aufkeimen der Kirche des Lebenden Gottes unserem einzigen Herren abkömmlich. Geleitet von falschen Versprechungen und einfachen Geldzahlungen glaubten sie nicht mehr an die Heilige Schrift oder unsere Gebote, sondern einem impersonifizierten lebendigen Gott.

Unbestritten bleibt die Häresie und die Schreckensherrschaft der Kirche dieses lebenden Gottes. Doch ebenso das törichte Handeln der Menschen und besonders ihrer Anhänger. Lassen wir uns wirklich so einfach von versprochenem Ruhm, Besitz und Wohlstand leiten? Alles für unser eigenes Verlangen? Ich weiß, ich habe mir schon einmal Gedanken über dieses Thema gemacht. Ist es sogar in unserer Kirche schon so weit, dass wir nur unsere eigenen Ziele verfolgen? Das will und kann ich einfach nicht glauben. Dieser einzelne Priester hier wird sicherlich die Ausnahme sein. Bei Deyn, führe uns an und lasse uns nicht nach unserem eigenen Verlangen kämpfen. Die Gemeinschaft und das Wohl aller müssen überwiegen.

"Junger Edgar, gerade weil ihr sie lenken könnt und lenkt, müsst ihr verantwortungsbewusst und vorsichtig mit euren Worten und Wünschen umgehen. Ihr dient dem Wohl der Allgemeinheit unter Deyns schützender Hand. Nicht euch selbst. Niemals dürft ihr eure eigenen Interessen über die Gemeinde stellen.

Ich will nicht altklug, wie die Tasperiner immer sagen, klingen, aber ihr tragt eine ganz besondere Verantwortung. Gebt Acht."

Fast schon beschwichtigend hob Edgar seine Hände an, um wieder abzuwinken. "Ihr seid doch nicht etwa hier, um mir auf die Finger zu schauen? Sôlaner bedeuten eigentlich nie etwas Gutes, hat man mir vor einigen Jahren gelehrt." Er fing für einen Augenblick an zu lachen. Dabei warf er mir zwar einen erwartungsvollen Blick zu, wurde aber mit einem sanften Lächeln abgestraft. "Schon gut, schon gut, ich nehme mir ja eure Worte zu Herzen. Nur für einen Hirsebrei werde ich aber nicht Diener Deyns sein."

Mit einem sanften Stoß meiner rechten Hand schob ich meinen Hirsebrei weiterhin lächelnd beiseite. Ich ließ mir von Edgar noch eine ganze Weile am knisternden Feuer von den Schwierigkeiten seiner Gemeinden oder dem Leben in Weidtland berichten. Es war eine angenehme Abwechslung mal ein wenig zuhören zu können und wieder einmal mehr etwas über diese so wunderbar bunte und vielfältige Welt zu erfahren. Zuletzt ließ ich mir noch den restlichen Weg bis Rodstedt beschreiben, bevor ich mich zu Bett begab.

War es wirklich so einfach vom Pfad Deyns abzukommen? Ich mache es mir vermutlich zu leicht, denn so wahr ich mir bewusst bin, dass ich das eine Extrem auf Seiten Deyns bin, kann ich mich nicht in andere Leute hereinversetzen. Anstelle wilder Gedankenspiele über Möglich- und Unmöglichkeiten über meinen Glauben oder den Willen anderer Leute, setzte ich mich an die Bettkante und sprach mein letztes Gebet für diesen Tag.


So leite mich am Tage,
wie auch in der dunklen Nacht,
führe meinen Körper über alle Hindernisse,
und begleite meinen Geist durch die Widrigkeiten des Lebens.

Gib mir ausreichend Speisen,
und sei der Wegweiser auf der Suche
nach dem einzig wahren Sinn meines Lebens.

Beschütze mich,
wie auch meine Gemeinschaft,
bringe das Licht zu all meinen Lieben und Nächsten,
nur damit auch sie zu Deinen Anhängern werden dürfen.

Gib uns ein Dach über dem Kopf,
und einen gefestigten Boden unter unseren Füßen,
denn nur so werden wir uns nach all der geleisteten Arbeit
um dein Antlitz und dein Vermächtnis zu kümmern vermögen.

Deyn Cador,
sei der Wegweiser und Hirte,
gib uns die Gaben für unser Leben auf Athalon.
Bis wir in deinem Reiche aufgehen mögen.
Amen.


Nach einem leichten Frühstück in der Gaststätte, trat ich vor das Gebäude und gab Yuki eine lange Streicheleinheit. Sein vergnügtes Aufschnauben und Wiehern sah ich für den Augenblick als Bestätigung meiner Fürsorge an.

Der Nebel hatte sich inzwischen verzogen und die grünen Hänge und Wiesenlandschaften Weidtlands lagen in alle Himmelsrichtungen verstreut.  In der Ferne wehten schon die ersten Banner Rodstedts.

Kleine Anmerkung:
Der aufmerksame Leser hat sicher gemerkt, dass ich mitten im Text ins Präsens gewechselt bin. Bisher habe ich immer versucht in der Vergangenheitsform zu schreiben, da Amélie ja auch rückwirkend ihre Handlungen durchgeht, aufschreibt und somit verarbeitet (ist ja auch irgendwie logisch, im Gespräch wird sie kaum mitschreiben). In diesem Teil hat sie sich jedoch z.B. während des Schreibens in der Höhle Gedanken gemacht und während des Schreibens ihre Gedanken verfasst.

Mich würde an dieser Stelle interessieren:
Ist mir die Überleitung von Gegenwart zu Vergangenheit und andersrum gelungen? War die Überleitung für dich verständlich und nachvollziehbar?
Fandest du den Zeitformenwechsel passend oder eher störend?
Sollte ich in Zukunft mehr derartige "Nachdenkprozesse" in dieser Form einbauen oder es eher lassen?

Eine kurze Nachricht über alle möglichem Medien oder gern auch persönlich im TS würde mir wirklich helfen. Auch gern alle Anmerkungen jeder Art, sofern es halbwegs konstruktive Kritik ist.




RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 06.07.2020


XI – Rodstedt

19.01.1352

Während ich entlang der letzten vor Rodstedt liegenden Gehöfte entlangschritt, Yukis Zügel immer fest in den Händen haltend, gingen mir viele Sachen durch den Kopf. Natürlich hatte ich mir schon seit einer ganzen Weile überlegt, was ich Werner Gerber fragen wollte. Aber würde er wirklich hier sein? Und wie könnte ich ihm überhaupt begegnen – nach allem, was ihm und seiner Familie passiert war? Die Geschichtsstränge der Bonningtons und Gerbers sind so engmaschig miteinander verwoben, dass man sie nicht mehr ohne einander erzählen kann. Und doch kommen am Ende stets Berichte voll Trauer und Verlust, wenn nicht sogar Verrat durch die eigenen Blutsbrüder, heraus. Und irgendwo in diesem Geflecht fand ich mich wieder, unsicher zwischen einzelnen Fäden balancierend. Auf der Suche nach dem letzten Fünkchen Wahrheit und Anstand.

Das südliche Stadttor Rodstedts lag ein wenig versteckt hinter einigen Lagerhäusern, in denen offensichtlich die Vorräte für den Winter eingelagert wurden. Bereits zu dieser Jahreszeit stand rund ein halbes Dutzend beladener Karren vor den großen Holztüren. Nicht viel mehr junge Burschen hieften sich die schweren Säcke auf die Schultern und trugen sie ächzend in das Innere der Gebäude. Unverkennbar und unübersehbar blieb nur eines an allen drei Lagergebäuden – das über der Tür prangende Wappen der Bonningtons. Ein Wappen, welches diese Stadt und ihre Umgebung seit vielen langen Jahren prägt und welches einem hier als Tür- und Toröffner helfen kann. Ich bezweifle jedoch, dass Raphael hier noch Einfluss genießt. Nur wenn es wirklich notwendig wurde, kehrte er zurück. Nicht einmal auf das Verschwinden seines vertrautesten Bruders, Michael, konnten wir eine Antwort geben. Nein, wir verblieben stattdessen in Schweigen und ließen die Familie in Ungewissheit. Nicht, dass ich es nicht auch so gewollt habe. Vielleicht war es besser so. Für uns.

Aber für sie?
Selbst wenn sie keinen Verdacht geschöpft haben oder ihre eigenen Ermittlungen zu keinem Ergebnis kamen, werde ich meine eigene Schuld verbergen können und hinter dem Mantel des Schweigens verschwinden dürfen? Ich meine .. es war Franz Schwertstoß, der ihn auf die Knie zwang. Es war mein Speer, der ihm die Eingeweide aus dem Bauch drückte und an die Wand pinnte. Es war Friedrichs Klinge, die den Rest seines wahngewordenen Lebens beendete. Es waren .. wir. Und nur wir. Wenngleich sein Tod vielleicht notwendig gewesen sein mag, um seinen eigenen Wahnsinn zu beenden und unser eigenes Ableben zu verhindern, fühlt es sich nicht richtig an. Verdienen wir nicht alle ein wenig Wahrheit? Nur für unsere eigene Gewissheit?

Ich würde diese Fragen während meines gesamten Aufenthaltes nicht beantworten können. Und letztlich zögerte ich so sehr, dass ich auch dem letzten hier verbliebenen Bonnington keine Gewissheit brachte. Es war schon immer einfacher die moralische Keule durch die Luft zu schwingen, als sie tatsächlich auszufüllen und das Richtige zu tun.

Unbedarft meiner Gedanken trat ich an das von zwei runden Backsteintürmen getragene Südtor heran. Der dort abgestellte Wachposten bestehend aus zwei jungen Wachleuten und ihres in die Jahre gekommen Offiziers beäugte mich und meine herausstechende Ausrüstung zwar mit aufgeschreckter Wachsamkeit, ließ mich letztlich jedoch ohne ein Wort in die Stadt eintreten. Über die teils gepflasterten Straßen der auf den ersten Blick ansehnlichen Stadt mit ihren weitläufigen Ladenstraßen und Geschäftshäusern, führte mein Weg mich entlang eines marmornen Springbrunnens mit einer Skulptur der Heiligen Christa. Die Darstellung der nur mit einer geschwungenen Stoffschärpe bekleideten Heiligen war durchaus passend gewählt, man könnte gar sagen, dass sie mir wirklich gefiel. In gewisser Weise passte sie auch in diese Stadt, zumindest sah man die Herkunft des Weinglases in ihrer rechten und der Weinrebe in ihrer linken Hand auf den ersten Blick. Es war auch hier kein Wunder, dass dieser Wegweiser inmitten des Platzes ein wenig nördlich des Tores von nur einer Familie gestiftet sein konnte.

Im Anschluss drehte ich mich einmal im Kreise herum, bis ich den sich über die Häuser der Stadt erhebenden Kirchturm erblicken konnte. Nach einer Linkskurve setzte ich meinen Weg in das Herz der Stadt fort, immer den gepflegten Wegen im Zentrum folgend. Mir kamen zahlreiche Marktfrauen und Handwerker entgegen, die scheinbar ihre Hoffnung auf ein gutes Geschäft in dieser Stadt suchten. Nebst einigen beladenen Karren lief auch ein Trupp Wachleute im Gleichschritt an mir vorbei und bog in eine der Seitengassen ein. Nicht ganz uninteressiert blickte ich ihnen zumindest hinterher, wenngleich ich mich hier sicher nicht in alle Geschicke einmischen könnte, wie ich es auf Neu Corethon so oft nicht vermeiden konnte. Hier ist der Wache aber vermutlich auch wesentlich mehr zuzutrauen die Belange ihres Gegenübers nicht völlig auszublenden. Auf der anderen Seite, auch ich bin vor meiner Verantwortung an das andere Ende des Ozeans geflohen. Wem mache ich hier eigentlich Vorwürfe? Oder wem nicht?

Bevor ich am Kirchenplatz ankam, erblickte ich eine kleine liebliche Bäckerei an der linken Seite der Straße. Nach langen Tagen, die ich mich von Wanderrationen und dem ein oder anderen Fisch ernährt hatte, gelüstete es mir wirklich nach etwas Gebackenem. Außerdem galt es auch endlich etwas zu finden, was die weidtländische Küche aus ihrem einfachen und bauernhaften Dasein retten könnte! Mir ist bewusst, wie sehr das nach einer schlechten Ausrede nach dem Wunsch nach ordentlicher Nahrung klingen muss.

Ich band Yuki vor dem Geschäft an und trat, die hölzerne Tür vorsichtig aufschiebend, in den Laden ein. Außer von der etwas in die Jahre gekommenen Dame hinter dem Tresen wurde ich von einem einnehmenden, aber herrlich durftenden Geruch frisch gebackenen Brotes begrüßt. Man mag mir vielleicht nicht glauben, aber als ambitionierte Köchin ist ein derartiger Anblick nach der tagelangen Abwesenheit aus der Zivilisation ein wirklich regenerierendes Erlebnis. Nachdem ich einige kurze Worte mit der Dame hinter dem Tresen gesprochen hatte, entschied ich mich für einen halben Beutel der Skouns. Die flachen Eierkuchen sollten mit den richtigen Beilagen auch am nächsten Tag noch schmackhaft sein. Sie brauchte nicht lange, bis sie meine Münzen in der Hand hatte und ich verabschiedend das Geschäft verließ.

Gemeinsam mit Yuki trat ich an die Kirche heran. Zwei große Ecktürme an der Front fassten den Torbogen am Eingang fest zusammen, dahinter lag die große Halle mit zwei ausladenden Kirchenschiffen. Doch erst beim Betreten wurden mir die Ausmaße des mächtigen Gebäudes wirklich bewusst. Die übergroße Halle war durch die bunten und in Metall eingefassten Glasfenster hell erleuchtet, während eine kleine Abhandlung der Entstehung des Menschen in den verschiedenen Glasfarben dargestellt war. Links und rechts des Eingangs fanden sich einige Schreine zu Ehren der Heiligen und in weiter Entfernen vor mir lag die erhobene Kanzel sowie der Altar vor einem wuchtigen Deynkreuz. Eingenommen und von der Baukunst durchaus beeindruckt, trat ich auf das Deynkreuz zu und vor den Altar. Auf den Bänken zu meiner Linken und Rechten saßen hier und da ein paar Gläubige, die entweder betend oder schluchzend ihre eigenen Wünsche an Deyn Cador übermittelten.

Vor dem Kreuz angelangt, ging ich auf das Knie herunter und legte die Hände um mein Holzkreuz. Es war zwar vor langer Zeit beschädigt worden, aber es trug nach wie vor den Geist des Deynismus in sich. Wie könnte ich ein derartiges Stück neubeschaffen? Ich hatte es schließlich seit Kindheitstagen an. Nein, ich konnte nicht. Vielleicht bedeutete es mir deswegen so viel?

Ich begann die Zeilen meines Gebets zu murmeln, mehrfach hintereinander, immer in der tiefen Hoffnung Vergebung zu erfahren.


Deyn Cador,
mein Schöpfer und Erlöser.
Vergib mir all die Fehler, die ich in meinem Leben beging.
Vergib mir all die schlechten Taten, die ich den Deinen antat.
Vergib mir meine törichten Ausreden.
Vergib mir all die Momente, in denen ich zu schwach war.

Vergib mir all das Übel, das ich in die Welt gebracht habe.
Denn nur Vergebung kann der Schritt zur Besserung sein.
Denn nur aus Vergebung kann ich lernen.
Nimm mir die Sünde von den Schultern und erlege mir die Buße auf.
Damit ich nicht wieder irre.
Damit ich nicht wieder dieselben Fehler begehe.

Damit ich deinem Pfad folgen kann.
Lasse mich dich dir dienen, obwohl ich nicht perfekt bin.
Lasse mich Wiedergutmachen,
um die Herrlichkeit wiederherzustellen.

Vergib mir Deyn Cador.
Ich bitte dich so inständig, zeige mir deine Güte.
Damit auch ich deine Güte verbreiten kann.
Erlasse mir die Sünde im Tausche. Und bringe mich weiter.
Für dein Dasein und deine Ordnung.

Lasse mich streben und nicht fallen,
denn ich will lernen.
Lasse mich vergeben lernen, so wie du mir vergibst.
Denn nur dann wird deine Ordnung obsiegen.

Amen.


Ein wenig fordernd, nicht? Das waren zumindest meistens meine Ansichten zu diesem Gebet, wenn wir es einmal mehr gesprochen hatten. Natürlich dient es nur dem Sünder, und damit unweigerlich mir. Lange dachte ich, dass der Sünder nur Bittsteller sein dürfte und sich unterwerfen müsse, um Vergebung zu erfahren. Aber ist es nicht irgendwo immer auch eine zweiseitige Beziehung, selbst die vom Meister und seinem Sklaven? Deyn will die Ordnung verbreiten und die Welt in ihr aufgehen lassen und wir .. wollen Erlösung? Vergebung? Ein wenig Glückseeligkeit? Vielleicht sollten wir wirklich fordernder auftreten, denn das eine kann nicht ohne das andere existieren.

Aber genug davon, nach meinem Gebet in der ansehnlichen Kirche, setzte ich meinen Weg durch Rodstedt fort. Weiter im Norden lag das Anwesen der Bonningtons und damit hoffentlich der Ort, an dem sich Werner Gerber niedergelassen hatte. Je näher ich dem süffisant großen und mit einer eigenen Mauer umgebenen Palast von Wohnhaus kam, desto breiter und gepflegter wurden die Straße und die Gebäude, bis ich schließlich über eine von großen Apfelbäumen gesäumte Allee schritt. Zielsicher führte ich Yuki unter den schattenspendenden und bestimmt einhundert Jahre alten Gewächsen hindurch, bis ich einen Ruf aus einer der Seitenstraßen vernahm.

"Höret her, höret her, die neueste Ausgabe, jetzt im Postamt!"
Das Postamt! Natürlich, das Postamt! Wie konnte ich es im Eifer des Gefechts denn vergessen, dass ich meinem Orden gesagt habe, dass sie mir meine Briefe nach Rodstedt schicken sollen? Selbstverständlich mussten sie im Postamt liegen, und selbst wenn nicht, hatte ich ja noch meinen eigenen Brief, der an sein Ziel gelangen muss.

Ich schlug direkt einen Haken, was zumindest Yuki merklich überraschte. Schnaubend ließ er sich aber, wenngleich ein wenig widerwillig, mitziehen, sodass wir entlang der Seitenstraße zum Postamt gelangten. Vor dem Gebäude angelangt, ließ ich mein edles Schlachtross stehen und trat in die Amtsstube ein. Die einzeln abgetrennten Schalter mit einer jeweils davor wartenden Schlange waren tatsächlich ein Anblick, den ich in dieser Form zum ersten Mal erlebte. Zunächst versuchte ich mir einen Überblick zu verschaffen, reihte mich dann aber in dem dunkel getäfelten Saal in die (zu diesem Zeitpunkt noch hoffentlich) richtige Schlange ein und wartete einige Minuten geduldig, bis ich an der Reihe war. An vorderster Front angekommen wurde ich von einem rotbärtigen Herren mit tiefen Augenringen begrüßt, der mein Anliegen aufnahm.

Ich bat ihn zunächst nachzusehen, ob Briefe für mich eingetroffen seien, die hier verwahrt worden wären. Nickend drehte er sich um und suchte in den hohen Holzregalen umher, bis er schließlich mit zwei Briefen zu mir kam und mich nach den Absendern fragte. Bei zwei Briefen wusste ich recht schnell, wer mir eine Nachricht hat zukommen lassen. Oder wer mir überhaupt ein Schriftstück hierher senden konnte, damit ich es hier in Empfang nahm.

Ich schob ihm den Brief für Jule herüber und nannte ihm fast schon routiniert die Adresse. Sein erst verwirrter, dann nachdenklicher und später besorgter Blick verriet mir das Feuerwerk an Gedankengängen, die durch seinen Kopf gehen mussten. Er setzte jedoch nur einmal zu einer Nachfrage an, legte aber nahezu im selben Augenblick seine Lippen wieder fest aufeinander. Kurz darauf präsentierte er mir die stolze Rechnung und sortierte meinen Brief wiederum in eines der Holzfächerchen ein. Dankend trat ich wieder hinaus in das Rodstedter Stadtzentrum, wo mir die Sonne frontal von oben in das Gesicht schien. Es musste mittlerweile Mittag geworden sein.

Ich reckte mich ein wenig gen Sonne und nahm auf einer der Bänke an der Seite der großen Allee Platz. Mit meinem Messer schnitt ich vorsichtig die Briefe auf. Zunächst begann ich das von Rhys verfasste Papier über alle Neuigkeiten und Fortschritte auf Neu Corethon zu lesen. Wobei selbst diese Erkenntnisse über einen Monat alt sein müssen, dennoch .. ich bin froh zu hören, dass es ihnen gut ging und sie ohne mich zurechtkommen. Bleibt tapfer, meine treuen Ordensbrüder und -schwestern. Ich gebe mein Bestes hier, aber die härtesten Prüfungen werden noch folgen. Sorgfältig zusammengefaltet ließ ich den ersten Brief in einer meiner Seitentaschen verschwinden und machte mich dann an die von Jule geschriebenen Zeilen.

Je mehr ich las, je schneller meine Augen über die Zeilen flogen und die Worte aufsogen, desto mehr ging mein Herz in Flammen auf. Jedes einzelne Wort schmetterte mir gegen die Brust und ließ die Emotionen in mir hochkochen. Während sich das Flattern in meiner Brust ausdehnte und ich angestrengt weiterlas, tropften erste Tränen von meiner Nase auf das Papier ein. Du fehlst mir doch auch so sehr .. Deyn, bitte lass sie sicher herkommen. Schluchzend saugte ich die letzten Zeilen auf, bevor ich die Seite wieder umdrehte und von vorn begann. Mehrfach folgte ich den Zeilen, bis ich jedes einzelne Wort vollends wahrgenommen, ja auswendig gelernt hatte und das Papier mittlerweile mehr einer durchnässten Buchseite glich. Aber .. sie hat mich nicht vergessen.

Ich strich mir mit dem Ärmel über die Augen, knüllte den Brief deutlich mehr, als er verdient hatte, zusammen und verstaute ihn so in dergleichen Seitentasche, wie schon Rhys' Schriftstück. In meiner im Kopf gezeichneten Karte musste der Eingang in das Anwesen der Bonningtons kürzer über mehrere Seitenstraßen zu erreichen sein, weshalb ich wieder von der Allee hinabschritt. Einige Gebäudeecken später, hörten die gepflasterten Wege auf und der wahre Anblick der Stadt offenbarte sich mir. Es war beiweitem nicht so ärmlich und verkommen, wie in Asmaeth, aber selbst hier war die Armut letztlich allgegenwärtig. Versteckt hinter den Fassaden der hochwertigen Häuser der Wohlhabenden versteckten sich die Tagelöhner und ihre Familien. Hier lebten diejenigen, die die wahre Arbeit leisteten und sich jeden Tag aufs Neue für ein bisschen Wohlstand verdingen. Und die Belohnung dafür? Über ihren Köpfen wird der Abort der Bessergestellten gebaut, damit deren Unrat diesen Seelen ihren Stand in der Gesellschaft zeigt. Seid unbesorgt, meine Kinder, in Deyns Reich seid ihr alle gleich. Dort hilft euch keine Münze, kein vergoldetes Bett und kein teures Essen. Nur die Reinheit eurer Seele ist das Maß für die Glückseeligkeit. Und wenn ihr nicht ansatzweise so befleckt seid, wie ich, dann wird euch die Vollkommenheit zuteil.

Ich versuchte mit aufrechtem, lächelnden Blick durch die Baracken zu gehen. Aber spätestens, wenn die verdreckten und mit einfachsten Dingen spielenden Kinder um die Ecke springen und hüpfen, wie könnte ich da ruhig oder gefasst bleiben? Nein, selbst der kleine Teil an Aufmerksamkeit, den ich ihnen schenken konnte, soll nur ihnen gebühren. Ein paar aufmunternde Worte, all meine Skouns? Natürlich bekamen sie die. Damit ihre abgemargerten Körper wenigstens etwas an diesem Tag bekommen. Ihre entschuldigend und sich zahllos verneigende Mutter wollte ihre Kinder aus reiner Scham verstecken, zog sie beiseite, doch .. es war längst zu spät. Ich drückte ihr einige Münzen in die Hand, bevor ich die Seitenstraßen wieder verlies. Versteckt euch nicht, Kinder, auch ihr habt eine Stimme.

Über kurz oder lang, wobei – eher lang, kam ich endlich an der Tür des Anwesens der Bonningtons an. Vor der Tür stand ein ganzer Haufen bewaffneter Wächter, die mich mit allseits fragenden Gesichtern über mein Belange ausfragten. Ich kam direkt zum Punkt und teilte ihnen mit, dass ich mit Uriel Bonnington sprechen wollte, ebenso mit Werner Gerber, vor allem über Werner Gerber und natürlich, wer ich überhaupt war.

Erst wurde ich um Geduld gebeten, wenig später aber mitsamt Yuki eingelassen. Mein Streitross wurde in den Stall geführt und dort redlich umsorgt, während ich in das Innere des pompösen Anwesens gebracht wurde. Umgeben von großen Säulen erstreckte sich der imposante und bis auf die letzte Grasssprosse gepflegte Innenhof. Kletterrosen beanspruchten weite Teile der Außenfassade für sich, verliehen dem Gebäude aber so einen ganz eigenen Charme. Selbst der Wartesaal war mit feinsten polsterbezogenen Möbeln ausgestattet und hatte allerlei Annehmlichkeiten für jederlei Besuch zu bieten. Was für ein Gegensatz zu den ärmlichen Buden, die nur wenige Straßen entfernt lagen. Wie viele aufwachsende Kinder man hier unterbringen und durchfüttern könnte? Zu viele.

Ich wurde gebeten meine Metallplatten abzulegen, wenn ich mich setzen würde. Nur, um die edle Inneneinrichtung nicht zu beschädigen. Ich sagte den Hausdamen kopfschüttelnd ab und zog es vor während der Wartezeit zu stehen. Eine der jüngeren Fräulein in ihrem Dienstmädchen-Aufzug teilte mir mit, dass ich mich auf einige Wartezeit einstellen müsste, da ich ohne Vorankündigung erschienen war. Gerade Letzteres stieß sie in einem unerhörten, vorwurfsvollen Ton heraus. Nächstes Mal frage ich vermutlich besser die Waldeulen, ob sie mich nicht vorher anmelden könnten. Immerhin dürfte ich auch durch den Garten spazieren, bis Uriel Bonnington Zeit für mich hatte.

Bevor ich mich aber in dem persönlichen Tempel der Bonningtons umsehen wollte, nahm ich mir einige der Skouns vom in der Mitte des Raumes befindlichen Silbertablett und probierte diese mit der dazugereichten Butter und Marmelade. Wenngleich das Rezept nicht allzu schwer zu befolgen scheint, sind diese gebratenen Küchlein durchaus schmackhaft. Insbesondere mit einer feinen Blaubeermarmelade, um die Mägen der Hochgeborenen nicht zu schnell zu verstimmen.

Ich weiß, hier geht es um Raphaels Familie, aber niemand hat aus irgendeinem Grund einen solch überschwänglichen Luxus verdient, während die Armut direkt hinter der eigenen Mauer lauert. Diese Dienstmädchen müssen hier stets freundlich ihren Rock in die Höhe ziehen, wenn Gäste eintreten, schlafen aber entweder in abscheulich stinkenden Steinkammern neben dem Stall oder draußen in diesen Barracken. Eine unangenehme Wahrheit. Realität.

Ich war nicht verärgert, auch nicht sauer, aber dafür .. enttäuscht? Niedergeschlagen? Es war ein Gefühl, dass nicht die Schuld in den einzelnen profitierenden Personen sucht sondern diese Welt als solche für ihre Ungleichheit verurteilen wollte. Und nicht, weil es den einen gut geht, sondern weil dort draußen Menschen verhungern, in der Kälte erfrieren und elendig zugrundegehen. Weil ihnen nicht erst der Hauch einer Möglichkeit gegeben wird.

Ich konnte mich wieder fangen, als ich durch den Garten schlenderte. Vorbei an tuschelnden Dienstmädchen, den mühsam im Licht der Sonne schuftenden Gärtnern und vereinzelnten fein gekleideten Herrschaften. Ihre niederträchtigen Blicke konnten und wollten sie nicht verbergen, aber immerhin hielten sie ihren Mund in meiner Gegenwart. Das Tragen dieses Wappenrocks stellt sich mit jedem Meter, den ich mich von Neu Corethon entferne, als wahrer Segen heraus. Auch er ist ein Zeichen eines Standes, aber vielmehr Identifikation? Ich habe viel genommen, versuche aber wenigstens ein wenig zu geben. Ich schreibe mich wieder um Kopf und Kragen, hm, Deyn?

In jedem Fall drehte ich meine Runden im Garten. Wartend. Entlang von Geranien, Orchideen und Veilchen. Viel Arbeit und Fleiß sind in die Zucht dieser Blumen geflossen. Durchaus anerkennend wollte ich gerade ein Gespräch mit einem der Gärtner beginnen, in der Hoffnung, dass er mir den ein oder anderen Trick für unseren Blumengarten verraten könnte. Aber dazu sollte es nicht kommen.

Kurz bevor ich meine Stimme erheben konnte, schritt eine in fein eingefärbte Seide gehüllte Person um die Ecke. In weiten Zügen wirkte es, als sei er Raphael wie aus dem Gesicht geschnitten. Wobei dieser Vergleich eher andersherum zu machen ist, denn Uriel ist schließlich der älteste Sohn dieser Generation von Bonningtons. Doch da stand er, seine Hand in die Lüfte hebend und mich zu sich winkend. Es sollte das erste Mal sein, dass wir uns unter vier Augen unterhalten müssen. Und vermutlich würde es das letzte Mal bleiben. So wünschte ich es mir zumindest.


Mit einer Handgeste wurde ich eingeladen ein paar weitere Runden durch den Garten zu drehen. Eher nüchtern zustimmend, nickte ich ihm bestätigend zu, während ich ihm für seine rare Zeit bedankte.

Sogleich winkte er ab.
"Nein, nein, eigentlich ist es sehr angenehm, dass ihr gekommen seid. Ich höre doch sehr wenig über die Erlebnisse meines werten Bruders auf seiner sagenumwobenen Insel. Natürlich kriege ich dennoch allerlei Gerüchte mit. Glaubt nicht, dass auch ein Michael immer dicht halten konnte, gerade gegenüber seinem älteren Bruder nicht."
Mit einem leichten Schmunzeln versuchte er mein Vertrauen zu gewinnen, bevor er fortfuhr.
"Ich bin mir jedoch sicher, dass ihr nicht wegen fröhlichen Erzählungen hier seid und euer ganz eigenes Anliegen habt. In tiefem Dank für all die Taten für meinen werten Bruder, beantworte ich euch unter den gewohnten Umständen gern die Fragen, die möglich sind. Im Gegenzug verlange ich jedoch eine Unterredung in meinem Arbeitszimmer, wenn wir hier fertig sind."

Wie hätte ich ablehnen können? Wer verlangt, der muss auch geben können. Manchmal sind Informationen die wertvollsten Güter, die wir haben. Und der einzige Grund für unseren Machterhalt. Ich setzte mein allseits bestehendes sanftes Lächeln auf und ließ mich auf die Unterhaltung ein.

"Natürlich, euer Hochwürden. Ich wäre euch zutiefst dankbar, wenn wir über Werner Gerber sprechen könnten. Und anschließend stehe ich euch Rede und Antwort."

"Es freut mich, wenn wir auf einem gemeinsam Standpunkt sind. Wie war gleich euer Name? Ich weiß, dass ihr viel an der Seite meines werten Bruder wart und vermutlich noch immer seid, aber Namen ..". Er zuckte mit den Schultern, als er seinen Satz unbeendet im Garten stehen ließ.

"Amélie da Broussard, euer Hochwürden. Seit jeher im Dienste des Herrn. Aber .. um nicht unnötig eure Zeit zu verschwenden. Befindet sich Werner Gerber hier? Bei euch?". Ich merkte, wie ich meine Worte energisch durch meine Lippen herauspresste. Mein Ton war sicherlich unangebracht, aber die Anspannung stieg in mir. Wenn ich ihn hier finde, dann ersparen wir uns so viel Zeit. Und ihm .. vielleicht ein schlimmeres Schicksal.

Ein wenig irritiert von meiner plötzlich wechselnden Stimmlage zog Uriel Bonnington seine Augenbrauen in die Höhe, vermochte es aber dann doch mir ohne Umschweife oder Tadel zu antworten.
"Nein, leider nicht. Und auch auf eure nächsten Fragen weiß ich bereits die Antworten, werte Kriegerin des Sôlerben. Lasst mich vielleicht, .. ah ja! Genau, fangen wir doch hier an. Seid so gut und lasst mich einfach sprechen, ja?

Es ist durchaus lang her, dass ich Werner das letzte Mal sah. Und es war eine der letzten Nachrichten, die ich von meinem werten Bruder Michael bekam. Michael teilte mir mit, dass Werner die Fahnenflucht angetreten habe. Wie ihr wisst, hat mein erboster Bruder daraufhin Franz Gerber als Leibwächter verpflichtet. Sogesehen als Wiedergutmachung für seinen desertierten Bruder. Über die Umstände seiner Flucht jedoch hat auch mein Bruder mir gegenüber kein einziges Wort verloren. Zu dieser Zeit dachte ich, dass sein Stolz verletzt sein könnte. Michael zu betrügen kam zu einem hohen Preis und doch hatte sich Werner Gerber eben genau dies gewagt. Michael ist schließlich nie ein besonders guter Verlierer gewesen, wobei dies eher in der Familie liegen mag.

Nundenn, bald darauf erhielt ich Kunde, dass Werners Bruder Franz unter nicht ganz geklärten Umständen sein Ableben von dieser Welt gefunden hat. Und dann war da noch die Sache mit Michael.

Es wäre sicher falsch hier keine Verbindung zwischen Werner und seinem Bruder herzustellen. Doch selbst auf meine Nachfragen hin, wollten meine Brüder nicht mehr mit mir über dieses Thema sprechen. Und alle anderen Stränge haben sich als rote Heringe herausgestellt. Versteht, ich wollte nicht in den Angelegenheiten anderer Familien nach Informationen suchen lassen, aber mein Bruder ward verschwunden.

Um abschließend eure noch nicht gestellten Fragen zu beantworten und Sôlerben zu befrieden: Ich kann euch leider nicht sagen, wohin Werner gegangen sein könnte. Erst hielt ich es nur für eine kurze Ausflucht seines Wächters, als Michael mir schrieb. Und mit der Verpflichtung Franz Gerbers hoffte ich, dass alles ein schnelles Ende hat.

Aber so verbleiben Raphael und ich. Aus Sicht der Familie ist Raphael nur leider bereits seit zwanzig Jahren abkömmlich, selbst wenn wir seine Dienste für die Krone natürlich schätzen."

Uriel faltete die Hände und nickte mir eindringlich zu.
"Nun habe ich all eure Fragen in einer Antwort bedienen können, nicht? Fürwahr, meine Fragen sind an der Reihe. Aber dafür ist hier kein Raum, gehen wir doch hinein."
Mit einem Kopfnicken schritt der durchaus gealterte Herr voran. Und ich hatte keine andere Wahl als zu folgen.

Doch saß der Rückschlag tief. Werner Gerber war seit langer Zeit nicht mehr gesehen und niemand wusste wo er war oder weshalb er von seiner Pflicht geflohen war. Die einzige Person, die vermutlich das Wissen besaß, habe ich selbst dem Wahnsinn verfallen sehen und schließlich .. umgebracht. Ihn nun zu finden, würde wie die Suche nach der Nadel im Heuhafen sein, um es in Tasperiner Sprichwörtern zu beschreiben. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Uriel mich angelogen oder einen Teil verschwiegen hatte. Sein Verhältnis mit Raphael scheint zwar nicht so gut zu sein, wie ich immer dachte, aber wenn ich ehrlich sein darf: Ich kann es ihm kaum verübeln. Sein Bruder verbrachte den größeren Teil seines Lebens fernab der Familie und wenn es Nachrichten kam, beinhalteten sie die Rettung oder Zerstörung Athalons. Deyn, ich muss mir irgendwie anderweitig Hinweise zum Verbleib Werner Gerbers beschaffen. Solange .. muss ich weitermachen, mir seine Fragen anhören und dann Yuki aufsatteln. Ob ich will oder nicht, es wird Zeit Weidtland zu verlassen.

Gemeinsam schritten wir durch das große Eingangsportal zurück in die Haupthalle, um dann über einen Seitengang in den ersten Stock hinaufzusteigen. Dort verbarg sich hinter einer dicken Eichentür das Arbeitszimmer des Hausherren. Zwischen den die Wände einnehmenden, mit allerlei Büchern bestückten Regalen, schien sein Schreibtisch in dem zwei Stockwerke hohen Zimmer fast unterzugehen. Er setzte sich auf seinen in roten Samt eingesponnenen Sessel und bot mir, ohne mit der Wimper um die teure Bepolsterung zu fürchten, einen der beiden Stühle auf der anderen Seite an. Ich ließ mich gegenüber ihm nieder und betrachtete eine Weile die Weltkarte an der Wand.

Wie klein unsere Inseln, dort drüben, am andere Ende des Leändischen Ozeans, doch plötzlich wirken. Wie weitflächig die grünen Wiesen Weidtlands wirklich sind und welcher gigantische Heimatort namens Éireann aus der Welt gerissen wurde. Ich atmete tief durch und blickte zurück in die getrübten Augen Uriel Bonningtons.

"Nun seid ihr an der Reihe, Hochwürden."

Uriel nickte langsam, wissend und zugleich wissbegierig.
"Wisst ihr, .. wo ist Michael? Wo ist mein werter Bruder Michael Bonnington?"

Tja, da war sie. Die Frage aller Fragen. Ich kenne die Antwort. Auch ich trage die Schuld an der Antwort. Aber ich dürfte ihm eben diese Antwort niemals verraten. Denn wenn das Ende Michael Bonningtons publik würde, wäre es das Ende für uns und der Anfang vom Ende für den Rest. Lügen ist Sünde. Und ich würde gleich eine Sünde begehen. Wissentlich, hinterlistig und betrügerisch. Um mich selbst zu beschützen. Aber doch auch, um die Geheimnisse dieser Welt weiter zu verbergen. Ist die Schuld dadurch gemindert? Mitnichten. Sie wiegt umso schwerer und würde durch noch mehr Buße wiedergutzumachen sein. Vielleicht sind meine Träume ein erster Anfang, der mir die Schwere meiner Taten symbolisiert.

Ich erhob meine Stimme, schaute ihm tief in die Augen und versuchte mit all meiner Überzeugung als Kriegerin für Deyn Cador – mit all dem, was mich ausmacht, hinter meiner Aussage zu stehen. Denn wenn ich falle, wer nimmt dann noch diese Bürde auf sich? Wer wird an meine Stelle treten?
Die Antwort wird der Finder dieses Tagebuchs bereits kennen. Aber für mich? Für mich ist es ein gigantisches Risiko, das ich nicht eingehen kann. Also log ich dreist ins Gesicht.

"Verzeiht Hochwürden, doch auch ich weiß nicht, wo euer Bruder ist."

Uriel fixierte mich weiter mit seinem starren, mittlerweile gar ermüdeten Blick. Die Sekunden vergingen, wie in Zeitlupe. Dieser eigentlich so kurze Moment, in dem er mich erst hoffnungsvoll und dann resigniert anschaute, dauerte eine Ewigkeit. Tick – Tick – Tick. Länger hätte es nicht dauern können. Und dennoch trafen sich unsere Blicke länger, als drei einfache Ticks im Uhrenglas. Ich konnte mich nicht entziehen. Und er wollte nicht, dass ich mich entziehen kann.

"Wann habt ihr Michael das letzte Mal gesehen?"

Eine ähnlich gefährliche Frage, bei der eine falsche Antwort Verdacht erregt. Aber seit langer Zeit habe ich mir die einzig richtigen Antworten hierauf bereitgelegt. Mich auf das Lügen und damit das Begehen der Sünde vorbereitet. Jetzt musste ich nur standhaft bleiben. Für mich.

"Auf der Expedition mit eurem Bruder, Franz Gerber und dem Rest unseres Ordens. Unser Weg trennte sich nach kurzer Zeit und ich verlor irgendwann, auf meiner Suche nach dem Rest, das Bewusstsein. Ich erinnere mich nur daran, dass Franz stets an der Seite eures Bruders blieb. Selbst wenn er nicht sein Leibwächter sein wollte, hat er seine Pflicht erfüllt."

Wieder starrte mich Uriel für einige Sekunden an, bevor er  seinen Blick abklingen ließ. Er ergriff eine kleine Messingglocke auf dem rechten Tischrand und läutete sie. Kling-Kling.
"Verzeiht, aber .. ich brauche eine kleine Erfrischung. Dennoch .. als ihr Michael das letzte Mal saht, sagt bitte, war er .. war er glücklich?"

Uriel schluckte schwer.

Und ich konnte seinem Beispiel nur folgen. War er glücklich? War dieser verrückte Michael Bonnington auf seiner wahnwitzigen Suche nach Jannes Starkwetter glücklich? Auch, als er die Wahrheit mit eigenen Augen sehen musste?

"Ich denke schon, Hochwürden, ja. Er war zuversichtlich."

Vielleicht ist dies die schlimmste Lüge von allen? Er war zu keinem Augenblick hoffnungsvoll oder zufrieden, nein, er schritt in steter Gier voran. Michael Bonnington hatte sich sein Ziel gesetzt und verfolgte es kompromisslos ohne auch nur einen Moment anhalten zu können. Selbst als die Menschen auf dieser Expedition starben oder bei lebendigem Leib in grausamster Weise von den Kreaturen des Mannsweibes vernichtet wurden, wollte er nur eins. Ich lüge hier nicht für Michael Bonnington. Nicht um ihn zu beschützen. Nicht um seine Taten zu verheimlichen. Nein, nein, mit Sicherheit würde ich das niemals tun. Doch muss ich uns und diese Welt schützen. Wegen ihm. Wegen seiner Taten.

Während ich in meinen Gedanken versank, schwieg Uriel. Nur hin und wieder zeigte er ein Nicken. Bald darauf klopfte es zwei Mal an der Tür und eines der Dienstmädchen trat mit einem Tablett ein. Nebst zwei Gläsern und einer Flasche Kaledonischem Whiskey brachte sie zwei Stück Kuchen. Sie ließ das Tablett auf dem Tisch stehen und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Uriel ergriff mit seiner schweißperlenbedeckten Stirn die Flasche Whiskey und füllte gleich beide Gefäße auf. Das erste Glas griff er sich, nur um direkt einen tiefen Schluck zu nehmen. Nachdem er sich mit dem Ärmel über den Mund gewischt hatte, lehnte er sich zurück auf seinen Tisch und blickte mich streng an.

"Wisst ihr.. wisst ihr wirklich nichts? Seit all den Jahren, all die Jahre weiß ich nichts. Und Raphael, er schickt nicht einmal Briefe, sagt nicht einmal etwas zu Michael."

"Nein, Hochwürden, ich kann euch wirklich nichts über den Verbleib eures Bruders sagen." Mir wurde unwohl. Ich faltete meine Hände zusammen, trocknete den dortigen Schweiß am Wappenrock ab und umklammerte die Lederriemen meiner Beinplatten. Ich wollte wenigstens irgendetwas in der Hand haben, irgendetwas Greifbares, an dem ich mich festhalten konnte. Während ich mich mehr und mehr in ein Meer aus Lügen verstrickte und diesen gebeutelten Mann mit dem Schicksal seines Bruders anlog. Selbst wenn meine Motive noch so verständlich waren, das Gefühl ihm die Hoffnung zu nehmen oder ihm nicht helfen zu können, es brannte in mir. Es machte mich fertig.

"Seid ihr euch wirklich sicher? Wenn ihr doch etwas wisst, bitte ich euch es mir mitzuteilen."

Ich schüttelte nur noch meinen Kopf, meine Lippen aufeinanderpressend und gen Boden blickend. "Verzeiht."

"Hätte ich Michael doch nur von dieser halsbrecherischen Expedition abgehalten. Er war Erzdekan und kein kühner Abenteurer. Fast schon wie Raphael hat er sich mehr und mehr um seine eigenen Geschäfte gekümmert, als um die Familie. Ich will doch nur wissen, was mit ihm passiert ist. Aber, wenn ihr nichts wisst, dann will ich euch keine weiteren Vorwürfe machen. Es hat ohnehin keinen Sinn."

Uriel setzte das Glas nochmals an und nahm einen tiefen Schluck des feingebrannten Whiskeys. Eine leichte Note des hölzernen Aromas verbreitete sich in der Luft. Ich wusste nicht, wie ich auf seine letzte Bitte antworten soll und beließ es bei sündhaftem Schweigen. Verdammt, Deyn, was sollte ich denn auch sonst machen? Alles herausplaudern und am nächsten Tag auf dem Bonningtschen Hackblock enden? Mit Sicherheit nicht, ich habe noch eine Aufgabe zu erfüllen: Verdamm mich danach, wie du magst. Dafür lebe ich für deine Ordnung und dein Reich, wenn ich dafür leiden und untergehen muss, dann werde ich es weiter mit einem Lächeln auf den Lippen tun.

Seine nächsten, eher belanglosen Fragen drehten sich um Neu Corehton und die Scharr an Gerüchten, die von dieser merkwürdigen Insel ausging. Bereitwillig erzählte ich ihm hier die Wahrheit, egal ob es über die Interessen der Bevölkerungsgruppen oder die neuen Machtansprüche wegen des Vertrages von Corastella ging. Eher beiläufig nickend verleibte Uriel sich den Rest seines Whiskeyglases ein und nahm sich danach das zweite Glas, um sich auch den darin befindlichen Whiskey den Rachen hinab zu schütten.

"Und mein Bruder? Erzählt mir etwas über meinen Bruder, der die Familie verlassen hat, um irgendeinem höheren Gut zu dienen. Er hätte wenigstens, wie Michael wahren Aufstieg in der Kirche erleben können. Aber stattdessen? Sagt ihm bloß nicht, was ich hier von mir gebe, aber Raphael ..". Er schüttelte sein Haupt.

Und ich berichtete ihm. Von den langjährigen Bemühungen des Raphael Bonnington. Wie unser Prior versuchte die Insel zusammenzuhalten, als Schlichter und Vermittler aufzutreten, aber auch wie er mit harter Hand seine Urteile gesprochen hat, wenn es notwendig wurde. Uriels Stimmung schien sich durch das enorme Engagement Raphaels ein wenig besänftigen zu lassen.Dennoch konnte nach mehreren Gläsern Whiskey kaum damit aufhören die negativen Aspekte seiner Brüder herauszustellen. Was sollte ich schon machen? Ich konnte nicht gehen und hörte ihm zu, beantwortete Uriel seine Fragen über diese Welt.

Immer wieder kam er auf Michael Bonnington zu sprechen und stellte mir ein- und dieselben Fragen. Jedes Mal loderte die Flamme der Hoffnung wieder neu in ihm auf, wurde aber mit meinen eiskalten Worten – oder vielmehr Lügen – wieder verdrängt. Uriel wollte nicht aufgeben. Und so gut ich ihn verstand, so sehr ich es ihm sagen wollte – ich konnte nicht. Ein Umstand, der mich mehr als mitfühlen ließ. Es dauerte noch mindest zwei Stunden, in denen Uriel immer wieder dieselben Fragen stellte und mich wieder und wieder voller Erwartung anblickte. Doch so vollgepackt diese Erwartungen auch gewesen sein mögen, er blitzte ab. Jedes einzelne Mal.

Irgendwann dann schaute er mich mit einem unerwartet glasklaren Blick an und sagte, fast schon mit verabschiedendem Ton: "Ich verstehe. Ich danke euch für eure Zeit. Und eure .. Offenheit. Ich hoffe, dass ihr Werner findet."
Mit seiner rechten Hand öffnete er eine der Schubladen an seinem großen Tisch und holte zwei Briefe hervor, die er mir entgegenstreckte.
"Die beiden Briefe hier, sie sind von meinem werten Bruder Raphael. Wenn ihr Werner Gerber findet, übergebt sie ihm bitte."

Ich bedankte mich in aller Höflichkeit für die Unterredung mit Uriel, nahm die Briefe an mich und ließ mich hinausgeleiten. Die Sonne begann langsam hinter dem Horizont zu verschwinden und ich suchte mir ein Quartier für die Nacht in Rodstedt.

Mit den neugewonnenen Briefen trat ich in mein Schlafgemach für die Nacht und setzte mich im Schein einer Kerze an den Tisch. Ich legte mein Messer an die Seite des Tisches und fuhr über die mit einem leichten Wachssiegel geschlossenen Briefe an Werner Gerber. Die Handschrift war unverkennbar die des Raphael Bonnington.

Weshalb sendet Raphael Werner Gerber Briefe? Warum hat Raphael mich nicht in Kenntnis gesetzt? Normalerweise teilt er mir doch immer mit, wenn er Briefe an unsere Freunde und Kameraden schickt, auch, damit wir noch ein paar Worte mit auf den Weg geben können. Aber von diesen Briefen hatte ich noch nie gehört. Was hast du nur darin verfasst, Raphael Bonnington? Was war so wichtig, dass du es mir nicht mitteilen konntest? Ich meine .. mir. Waren und sind wir uns nicht nahe? Ich habe dir immer vertraut und stand, wann immer nur möglich für dich ein. Ich weiß, ich lasse es, wie einen Betrug darstellen, nachdem ich selbst wie ein Verbrecher am laufenden Bande gelogen habe.

Dennoch war mein Interesse am Inhalt dieser Briefe ungebrochen. Mehrfach hob ich das Messer in die Höhe, setzte es an der Briefkante an und war kurz davor die Papiere hinauszuziehen. Doch im Endeffekt – traute ich mich nicht. Ich ließ die Schriftstücke unversehrt und den Briefen damit ihr Geheimnis. Ich kann nicht sagen, ob ich sie bis ich Werner Gerber finde, so belassen kann. Aber für den Moment, für diesen Abend, wollte ich nicht noch tiefer sinken. Ich hatte mir bereits neue Schuld aufgeladen, irgendwann muss ich mich auch selbst einmal an meine moralischen Vorstellungen halten. Ich breche seit Anbeginn dieser Reise viel, wenn nicht gar alles, was mir heilig ist. Es mögen sich zwar die schlechten Neuigkeiten häufen und ich sehe immer mehr in das Dunkel unserer eigenen Vergangenheit und in den Nebel meiner eigenen Zukunft, doch rechtfertigt dies solch eine Heuchlerei? Tut es nicht. Sollte es nicht. Reiß dich zusammen, Amélie.

Nachdem ich die Kerze losch, steckte ich die Briefe im Dunkeln zu Jules Brief und legte mich ins Bett. Ah, da waren sie wieder. Als hätte ich es nicht geahnt. Als hätte ich es nicht besser wissen müssen. Meine Träume und die damit verbundenen schlechten Erlebnisse kamen zu mir zurück. Ich will an dieser Stelle nicht weitere Seiten des kostbaren Papiers verschwenden, um wieder und wieder dieselben Träume aufzuschreiben. Mein blutüberströmter Körper, mein zerissener Geist und mein gebrochenes Herz haben genug Seiten in diesem Buch eingenommen. Nur heute haben sie hier keinen Platz. Es werden mit Sicherheit auch nicht die letzten Zeilen über meine Gefühle, Emotionen oder die Schatten des Vergangenheit sein, doch .. es fühlte sich so an, als käme auch eine Erinnerung zurück.

Es war alles flackerhaft, man könnte sagen, wie nach einer durchzechten Nacht. In meinen Ohren lag ein betäubendes und knisterndes Rauschen und vor meinen Augen schlugen zwei Strahlen aus reiner Energie gegeneinander – das Chaos und die Ordnung. Die Reinheit und die Verkommenheit. Das Licht und das Dunkel. Sie verdrängten einander, Skrettjahs elendiges Schreckenswesen schien fast die Überhand zu haben, bis das Licht mit einem finalen und durchbrechenden Stoß seinen Sieg errung. Mein Kopf wollte mir vorgaukeln, dass  ich dieses Spektakel schon einmal gesehen habe. Nur wo? Und wann?

Selbst nach meinem schreckhaften Erwachen im ersten Morgengrauen kam ich nicht dahinter. Ich wusch meinen nassgeschwitzten Körper von den Erlebnissen der letzten Nacht sauber und obgleich meines elenden Anblicks, versuchte ich halbwegs souverän zu wirken. Zumindest solange, wie ich mich an das Nachkaufen meiner Vorräte machte und auf Yukis Rücken die Stadttore Rodstedts hinter mir ließ. Selbst meinen Plan ein weiteres Gebet zu sprechen und somit meinem weiteren Ritt ein wenig Segen und Frieden zu bescheren, verworf ich. Vergib mir Deyn, aber diese Reise mit all ihren Strapazen und Schwierigkeiten muss fürs erste Wiedergutmachung genug sein. Erlege mir danach auf, was auch immer du für richtig hältst. Aber ich hatte keine Zeit, musste weiter.

Den nächsten Tag über folgte ich dem Wanderpfad nach Nordwesten und reihte mich für einige Stunden in eine kleine Karawane aus Händlern ein, bis diese sich für eine Rast entschieden. Ich wollte jedoch einige Zeit gutmachen. Ich war in Rodstedt schon zu keinem Ergebnis gekommen und hatte letztlich fast eine Woche auf dem Weg zu diesem ergebnislosen Ziel verloren. Mein nächstes Ziel konnte sich immerhin nicht so frei bewegen, wie es einem Werner Gerber möglich gewesen war.

Mein nächster Plan sah vor durch die Wälder des nördlichen Maunas zur großen Landzunge in die Stadt Sodenmark zu reiten. Von dort aus würde es hoffentlich keinen Tag in Anspruch nehmen über die Weidtenge nach Carviel überzusetzen. In Carviel angekommen, hatte ich noch einige kleine Besorgungen zu erledigen, bevor es nach Weissenstein gehen sollte.

Ja, die Akademie von Weissenstein war mein nächstes Ziel. Heimat für Magier unter dem schützenden Dach der Kirche.

Das Treffen mit Drevin Cray wurde sicher keines in gegenseitiger Begeisterung werden. Aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag.



RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 26.07.2020


XII – Der lange Weg nach Tasperin

15.02.1352

Der östliche Maunas gilt nicht ohne Grund als Mahnmal der weidtländischen Landschaft. Seine auslaufenden Hügel, blühenden Mischwälder und zahlreichen Flussläufe werden nur durch die wildwachsenden Blumenwiesen unterbrochen. Rehe, Hirsche und Hasen springen über die grünen Landschaften, als würden die Wölfe ihnen nichts anhaben können. Ein Landschaftsmaler hätte hier, an dem nahezu unbewohnten Landstreifen zwischen Rodstedt und Sodenmark, sicher seine helle Freude.

Und vielleicht fand ich mich deswegen recht schnell allein wieder, nachdem die Händlerkolonne innerhalb eines Dorfes Halt gemacht hatte und mir noch dankenswerterweise den Weg beschrieb. Mir standen einige kalte Nächte bevor und sicherlich würde ich sie mir nicht durch menschliche Gesellschaft zumindest ein wenig erwärmen können. Aber mein übliches Meckern half nun leider (mal wieder) nichts. Ich schlug in die Zügel und lief Yuki in einem schnellen Trab über die Wiesen und durch die Lichtungen der Wälder gleiten. Wir folgtem einem Weg, der nicht einmal durch Trampelpfade sichtbar war und sich nur durch meine eigene Orientierung offenbarte. Nach Sodenmark reist man für gewöhnlich per Schiff, aber das gestaltete sich von Rodstedt aus recht schwierig. Zumal ich auch ein wenig Zeit warten müsste, bis mein Brief endlich ankam und eine weitere, lange Reise auf dieser Welt beginnen würde. Hoffentlich.

Das klingt fast so, als ob ich auch daran zweifeln würde, nicht? Keine Sorge, wenn ich in eins Vertrauen lege – dann in meinen Orden.


Ich kam an einigen, schon vor langer Zeit abgebrannten Häusern vorbei, bevor ich endlich vor dem größten aller Ströme hier im Osten des Maunas stand. Rauschende Wassermassen krachten in weiter Ferne aus dem großen Bergmassiv hinaus in einen kleinen See und flossen anschließend schäumend die Hügellandschaft hinab gen Küste. Vereinzelt sprangen sogar kleine Fische immer wieder aus dem Wasser hinaus, nur um wieder vom reißenden weißblauen Gewässer geschluckt zu werden. Ich folgte diesem Strom, dem man anscheinend nicht einmal einen richtigen Namen gegeben hatte, flussabwärts – so wie es mir die Händler rieten. Irgendwo sollte eine Brücke stehen, zumindest hatte sie das einmal vor vielen Jahren. Wenn sie nicht schon völlig morsch geworden sein sollte, würde ich sie nutzen können, ansonsten stand ich hier vor einer natürlichen Barriere. Nur ein Schritt in diesen Fluss und es reißt die Beine davon. Nur die Glücklichen würden mit dem Kopf gegen einen Stein schlagen. Nur um nicht dem grausigen Tod des Ertrinkens erleiden zu müssen. Auch das hatten sie mir mit auf den Weg gegeben.

Deyn bewahre, diese Männer hatten wirklich allerlei Gruselgeschichten und Tragödien auf Lager. Trotzdem war es vermutlich besser, dass ich einfach nur schweigend zugehört habe. Mögen die anderen Menschen ihre Geschichte mit mir teilen, auf das ich eines Tages auch meine Geschichte teilen kann. Aktuell mag ich vielleicht nur eine Akteurin, nur eine kleine Figur, inmitten dieses großen und weltumfassenden Rätsels sein, aber das werde ich sicher nicht so belassen. Das hier wird mein Schicksal, mein Vermächtnis. Vielleicht klingt das alles zu hochtrabend? Selbst wenn, selbst wenn die Leute mir nicht glauben oder mich für abgehoben halten, schmälert das doch nicht die begangenen Taten und erfüllten Ziele. Neid und Missgunst regieren diese Welt schon lange mit. Statt nach oben zu blicken, werden nur die schwächeren Seelen noch weiter kleingesprochen. Was für eine verfluchte Farce.

Keine Tat wird unvergessen bleiben, das führt mir diese Reise einmal mehr vor Augen. Jede Entscheidung bringt ihre unmittelbaren und unverzeihlichen Konsequenzen, für die wir geradestehen müssen. Ich überlegte und haderte lange, wie ich Drevin Cray gegenübertreten wollte. Wie ich die benötigten Informationen aus ihm heraus bekäme, schließlich verstanden wir uns nie gut. Natürlich retteten wir uns irgendwie doch gegenseitig unsere Leben, aber reicht das für ein beiderseitiges Verständnis aus? Für mich zumindest nicht. Magie bleibt der Bruch dieser Welt, eine Befähigung, welche nur auszurotten und zu verbannen ist. Doch für ihn, dieses goldblonden bubenhaften Jungen war es vermutlich genau das Gegenteil.

Nach etwa einer weiteren Stunde kam ich endlich bei besagter Brücke an. Ihre großen pfählernen Holzstreben und die beiden in der Mitte errichteten Steinstützen schienen selbst bei dem großen Druck des fortwährend dagegenschmetternden Flusses noch halbwegs stabil. Gänzlich anders offenbarten sich mir aber die auf das Deck gelegten Planken, die nur noch einen löchrigen Flickenteppich ergaben. Schon von Weitem erkannte ich morsche Bretter, das durchgebrochene Geländer und die in zahlreichen Löchern brütenden Vögel. Möge Deyn uns beim Übertritt beschützen, denn es würde und wurde wahrlich kein Spaziergang werden. Ganz im Gegenteil.

Yuki erhielt noch eine großzügige Streicheleinheit, bevor ich mich von seinem Rücken herabschwang und die Zügel fest umgriff. Ich trat an den Anfang des Brettergebildes heran und holte noch einmal tief Luft. Nach längerem Hinsehen war ein, zumindest auf den ersten Blick, sicher ausschauender und mit einigen neueren Brettern geflickter Pfad erkennbar. Schritt für Schritt schob ich meine Füße über die Bretter. Zuerst testete ich mit meinem vorderen Bein, ob der Balken halten würde und zog erst danach meinen restlichen Körper hinterher.

Ich war noch keine fünf Schritte vorwärts gekommen, da tat sich unter mir ein erster armgroßer Riss in den Planken auf. Unter mir klatschte das Wasser gegen die hölzernen Stämme, nur um ihr das ganze Ausmaß seiner Kraft zu demonstrieren. Aus solcher Nähe wirkte der namenlose Fluss noch viel furchteinflößender- Seine enorme Geschwindigkeit riss alles mit, was nicht fest genug verankert war.

Meine Knie wurden weich und ich merkte, wie mein Blut langsam in meinen Adern gefror. Ein falscher Tritt und das würde es gewesen sein. Elendig ertrunken in einem Gewässer, das noch nicht mal einen Namen hat. Selbst wenn mir die Angst ins Gesicht geschrieben stand, gab es keine Möglichkeit zum Umkehren. Mit ausgestrrecktem Arm versuchte ich Yuki so lange wie möglich von diesem Gebilde fernzuhalten. Sein Gewicht würde im Gegensatz zu mir ein viel größeres Problem sein. Da war ich mir sicher.

Mit einem leichten Satz über das Loch kämpfte ich mir meinen Weg voran, langsam und stets prüfend, ob mein nächster Schritt nicht der Letzte sein könnte. Ich wagte kaum die Luft in meine Lungen einzuziehen, so sehr befürchtete ich hier an die falsche Stelle zu treten – oder gar das Gleichgewicht zu verlieren. Mein edles Streitross sah mir die in mein Gesicht geschriebe Angst sicher an, folgte mir aber dennoch willig. Seine beiden Vorderbeine betraten die wackelige Brücke. Ein lautes Knacken durchfuhr das Holz. Dennoch – sie hielt. Für den Moment. Jeder Schritt, den wir zusammen machten, ließ die einzige Überquerungsmöglichkeit über diesen Fluss erneut aufschreien. Die Holzbohlen gaben uns zu verstehen, dass wir zu schwer sind und hier nicht sein sollten. Gepaart mit dem unablässigen Rauschen des Wassers sorgte die eindrucksvolle Kulisse nicht gerade für Erleichterung bei mir. Meine Schneidezähne hatten sich vor Anspannung tief in meine Unterlippe eingebissen. Doch konnte ich mich nicht einmal um die einzelnen Tropfen meines eigenen Blutes kümmern, die mir einen eisernen Geschmack in den Mund legten. Vielleicht erinnerte aber genau dieser mich auch wieder daran, dass ich hier nicht scheitern durfte. Erst spreche ich von irgendeinem Vermächtnis und dann komme ich nicht mal über einen Fluss. Ohne Namen.

Ich setzte weitere Schritte nach vorn, das Quietschen der Holzbohlen machte es aber nicht unbedingt leichter. Ich hielt für einen Augenblick inne und holte tief Luft, bis ich erbärmlich zusammenzuckte. Ein lauter Knall fuhr mir durch Mark und Bein. Ich befürchtete das Schlimmste, was nur hätte passieren können und drehte mich panisch um.

Gesäumt von einem in der Ferne aufziehenden Gewitter und dessen Blitzschlag, blickte Yuki mich schnaubend an. Mein Herz raste und Schweiß lief mir über die Stirn. Jeder einzelne Herzschlag schien nur durch meine stählerne Brustplatte begrenzt zu werden. Ohne sie würde es mir wahrscheinlich vor Anspannung aus dem Leib fliegen. Meine Hand umklammerte seine Zügel so stark, wie noch nie zuvor. Deyn, Marina, warum tut ihr mir sowas nur an? Ich dachte, ich dachte .. viel. Dabei hatte ich keine Zeit um Denken.

Angespannt wandte ich mich wieder um und versuchte weiter über diese schaurige Brücke zu kommen. Es gelang mir, zwar mehr schlecht als recht, aber wir setzten unseren Weg fort. Nachdem wir gut drei Viertel der Streckte hinter uns gebracht hatten, wischte ich mir endlich das Blut an meiner Unterlippe mit meinem Ärmel weg. Ich vernahm Yukis ruhiges Schnauben weiter hinter mir und wagte den nächsten Schritt mit ihm nach vorn. Wir berührten das Holz und fuhren fort. Schritt um Schritt um Schritt um Schritt um Schritt.

Bis ein verzweifeltes und hochtöniges Wiehern durch die Luft hallte, gefolgt vom lauten Splittern eines zerbrechenden Brettes und dem wuchtigen Aufschlug des Pferdekörpers am Gebälk. Ich presste meine Kiefer aufeinander, zog die mir verbliebene Luft scharf ein und merkte wie die Zügel nach unten absackten, mir fast schon aus der Hand gezogen wurden. Erst als ich verstand, was passiert war, konnte ich die Situation richtig einschätzen: Ein Brett unter Yukis vorderem rechten Huf hatte nachgegeben, sein Bein rutschte durch die Bretter hindurch und hing frei in der Luft. Sein  schwerer Körper war auf die Seite gefallen und wurde nur noch durch die verbliebenen Holzbalken gehalten. Es sah bedrohlich aus. Bedrohlich? Kritisch. Tödlich. Angsteinflößend und furchterregend. Das heranrauschende Gewitter machte die Situation auch nicht besser. Verdammt, Yuki. Ich musste handeln. Ihn retten. Das war ich ihm schuldig.

Ich spürte, wie mir vereinzelte Tränen die Wange herabliefen und ich mir die Wunde auf der Unterlippe nur wieder aufriss. Aber all das musste in diesem Moment egal sein – ich musste schnell und überlegt handeln. Seine mit einem tiefen und verzweifelten Blick gefüllten Augen starrten mich hilfesuchend an. Anfangs trat er noch wild um sich, versuchte sich aufzurichten, merkte aber bald, dass alles vergebens war. Er blieb ruhig – erstaunlich ruhig für ein Pferd – liegen und wartete fast schon geduldig.

Ich setzte meinen Entschluss meinen Begleiter zu retten. Dabei wussten wir beide aber, dass ich es nicht mit reiner Kraft schaffen konnte. Ich zog die beiden Seile von meinem Gurt ab und kletterte über mehrere Holzbohlen hinüber, um zu Yuki zu gelangen. An seinen linken Beinen machte ich die Seile fest und gab ihm eine kurzwährende Streicheleinheit. Es würde kein angenehmes Manöver werden, das wir mir bewusst. Und wir würden viel Glück brauchen. Nein, Sôlaner brauchen kein Glück. Wir benötigen einzig und allein Deyn Cadors Segen.

Mit dem anderen Ende beider Seile in der Hand stieß ich zum letzten Stützbalken vor und betrat erstmals selbst wieder den sicheren, schützenden Boden. Der Balken war tief in das Erdreich eingeschlagen und würde meiner Sache hoffentlich dienlich werden. Ich befestigte beide Seile am Holz, blickte zu Yuki und sprach ein schnelles Gebet.


Mein edler Krieger der Tugend,
führe mich und mein Ross wieder zusammen.
Lasse uns nicht auf Abwegen marschieren und der Gefahr allein ins Auge sehen.
Nur gemeinsam dienen wir deiner Sache.

Nur gemeinsam beschützen wir die Schützenswerten.
Führe uns wieder zusammen,
auf dass wir dein Bollwerk noch nicht heute betreten.
Lasse uns den Bewohnern Athalons noch ein wenig länger dienen.

Bis wir in deinem Reiche aufgehen.
Führe uns wieder zusammen,
damit wir in Verbundenheit deiner dienen dürfen.
Amen.


In all meiner Verzweiflung und Hektik fiel mir kein besseres Gebet ein, aber mein Glaube ist schließlich auch keine Sprachwissenschaft. Es bleibt das Wissen und der Dienst an Deyn Cador und seinen Heiligen. Möge mein Opfer ihrer Sache dienlich werden und für diesen Moment ein kleines Dargebot meine Verantwortung gegenüber Yuki stützen. Aus meiner Tasche zog ich mein kupfernes Kreuz mit dem mittig eingesetzten kleinen Smaragd heraus, blickte es ein letztes Mal an und warf es dann auf die Bretter vor Yuki. Klappernd kam es auf dem Boden auf, rutschte in eines der unzähligen Löcher, um dann nach zwei weiteren Aufprallen irgendwo zwischen den Hölzern zum Liegen zu kommen.

Mir ging nur noch ein Gedanke durch den Kopf, bevor ich den waghalsigen Plan ausführen wollte: "Bitte lass das funktionieren."
Ich fing an, an einem der Seile zu ziehen, bis Yuki merkte, dass auch er sich bewegen sollte. Seine Beine strampelten immer wieder mit kräftigen Schwüngen nach vorn und hinten. Keuchend wollte er sich aufrichten, blieb jedoch immer wieder zwischen den Holzbalken stecken. Jede seiner Bewegungen brachte ein lautstarkes, gefährliches Knarzen mit sich, bis ich den Aufschlag der ersten Bretter im Wasser vernahm. Murmelnd sprach ich mein Gebet mit, während ich immer weiter an den Seilen zog.

Bis die Brücke nachgab.

Alle Holzbohlen mitsamt des Geländers auf den vor mir liegenden Metern fielen krachend in die Tiefe. Und inmitten dieser Hölzer war mein geliebter Yuki. Mit einem knallenden, spritzenden Aufschlag verschwand er inmitten der Brückenteile im Wasser.

Die Seile blieben aber angespannt, hielten ihn irgendwo bei mir, wenngleich er so fern wirkte. Ich zog und zog. Die Worte meines Gebetes sagte ich wie ein Klosterkind unablässig hintereinander auf. Ich hatte panische Angst und mein Herz raste. Der Schweiß tropfte mir von der Stirn und sorgte für rutschige Hände, doch durfte ich nicht aufgeben. Ich wusste, dass auch Yuki kämpfte. Damit wir vereint blieben. Mit Mikales Segen würden Krieger und Schlachtross verbunden bleiben. Ich vertraute. Ohne Yuki wäre mein Herz einmal mehr gebrochen und die Reise so unglaublich beschwerlich geworden. Das hier durfte nicht sein Ende sein, nein.

Schnaubend und keuchend zog ich unablässig. Zug um Zug. Niemals aufgebend.

Wer Glaube und Vertrauen hat, der siegt.

Nach einer Zeitspanne, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, die ich nur mit Bangen und Bedauern verbringen konnte, tauchten endlich zwei braune Ohren unter dem Wasser auf. Meine Anspannung erweckte ungeahnte Kräfte in mir und ich zog wie eine wilde Furie am Seil. Zug um Zug, Schritt um Schritt kam Yuki aus dem Wasser gekrochen, bevor er seinen Körper am Ufer niederlegte und mich schwer atmend anschaute.

Sofort eilte ich zu ihm, ignorierte die blutenden Wunden am Bauchbereich zunächst und begann an Hals und Brust zu drücken. Mit stetigen Stößen lief ihm Wasser aus dem breiten Pferdemaul, bis ein  keuchendes Hüsteln seine Brust wieder schlagen ließ. Mikael hatte ihn wahrlich behütet, nein, gerettet. Ihm das Leben geschenkt. Ewig und unendlich bedankt sein du, Deyn Cador und deine Heiligen. Nur ihr macht solche Wunder möglich. Nur ihr rettet unser Dasein auf Athalon.

Ich löste die Seile und bewegte Yuki irgendwie dazu in den nahegelegenen Wald mit mir zu kommen, damit wir vor dem Gewitter Schutz suchen konnten. Nachdem ich ein wärmendes Feuer entzündet hatte, kümmerte ich mich um seine Wunden und legte mit meinem verbliebenen Verbandsmaterial und einigen Wildkräutern eine Bandage um seinen Bauch. Ihm ging es sichtlich schlecht. Er war fertig, um es deutlich zu sagen. Doch er lebte. Und das ist doch das, was am Ende wirklich zählt, nicht wahr?

Schon bald sollte die Nacht im Winde des stürmischen Gewitters über uns hereinbrechen und irgendwann würde ich nur noch auf sein leises Schnauben während des Schlafes achten. Ich blieb neben ihm liegen und beobachte ihn aufmerksam. Einerseits machte ich mir große Sorgen um ihn. Auf der anderen Seite, wusste ich doch auch, dass er es Schaffen würde. Musste.

Wir beide hatten schon viel Schlimmeres durchgemacht. Und selbst nachdem mir auch endlich die Augen zugefallen waren, erlebte ich in dieser Nacht keine Albträume. Vor mir lag nur das stetig rauschende Meer und das Kreischen der Seevögel. Fast schon, als würde mir heute Nacht eine ungewohnte Ruhe vergönnt sein. Ich nahm sie jedenfalls dankend an, wie sollte ich auch anders?

Als ich am nächsten Tag wieder zu mir kam, stand Yuki schon überraschend wohlbesonnen wieder neben mir und zog sich einige Äste und Früchte eines Brombeerbusches ab. Mit einem leichten Wiehern begrüßte er mich sogar. Anscheinend sind nicht nur wir Menschen hin und wieder überraschend resistent gegen alle Widrigkeiten. Ich ließ ihn noch ein wenig ruhen und fressen, bis ich mich auch ein wenig gestärkt hatte. Mit einem prüfenden Blick schaute er zu mir, gewährte dann aber doch recht schnell das Aufsatteln. Mit langsamen Schritten setzten wir unsere Reise gen Sodenmark fort.

Es sollte zwar noch einige Tage dauern, aber wir ließen das Maunas hinter uns und folgten dem fortwährend Ruf der Möwen entlang der Küste Weidtlands. Hier draußen gab es nicht viel Bemerkenswertes außer der ungebändigten Natur mit ihren zahllosen Wäldern. Je weiter wir auf der vor uns liegenden Landzunge kamen, desto mehr Dörfer und Siedlungen erhoben sich am Horizont und schon bald standen wir vor der Holzpalisade Sodenmarks. Geprägt von ihren Fischern und Holzfällern gab es auch in der Stadt nicht viel Sehenswertes außer dem beträchtlichen Hafen. Ich wollte keine Zeit verlieren und fragte mich daher vom Hafenmeister zum Vorsteher eines Handelshauses durch, um mir und Yuki einen Platz auf einem Schiff zu besorgen. Noch am selben Abend konnte ich für ein paar Münzen meine Überfahrt wahrnehmen und fand mich bald auf der "Sperrschrank" wieder, einem mittelgroßen Schoner unter weidtländischer Flagge. Ziel unserer Reise war die Hauptstadt der Kaiserlichen Monarchie Tasperin – Carviel.

Am Abend machte ich es mir mit den anderen übersetzenden Passagieren auf dem Vordeck gemütlich, während Yuki angeleint am Hauptmast auf ein wenig Stroh gebettet wurde. Wie mir erzählt wurde, brachte das Schiff vor allem Gebrauchsgüter aus Weidtland nach Carviel und nahm allerlei Luxuswaren für die hohen weidtländischen Herren wieder mit zurück. Die Passagiere seien ein guter Nebenverdienst, um zumindest die Gehälter der Besatzung decken zu können. Als die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden war, forderten mich die Kinder einer übersetzenden Familie auf ein paar Geschichten zu erzählen. Ich musste zwar ablehnen, konnte sie aber immerhin mit meinem Klarinettenspiel bei Laune halten.

Ich hörte zwar direkt, wie die Klarinettenblätter ein wenig verzogen waren, aber für diesen Abend sollte es reichen. Reparieren konnte ich es ohnehin nicht selbst, dafür war ich handwerklich zu ungeschickt. Vielleicht würde sich in der großen Stadt ja ein Geschäft finden, das mir diesen Dienst abnehmen könnte? Wenn nicht in Carviel, wo dann, hm?

Nach einigen weiteren Plauschereien ging ich zu Bett, nur um irgendwann von der Sonne wieder geweckt zu werden. Anstelle der Stadt erkannte ich in der Ferne ein ganz besonderes Gebilde am Horizont – das ewige Leuchtfeuer des Heiligen Revan. Die Revaniter hatten es einst errichtet, um den Schiffen den Weg zur tasperinischen Hauptstadt vorbei an den beiden schroffen Inseln zu weisen. Mittlerweile übernahmen Seekarten diese Aufgabe weitestgehend, doch wurde das Leuchtfeuer weiterhin jeden Abend entzündet. Es hatte seine funktionale Rolle vielleicht verloren, diente jetzt aber weiterhin als Heilige Stätte des Heiligen Revan. Seinem Antlitz wurde dort oben in einer feuergebundenen Zeremonie tagein, tagaus, gedacht. Die massiven Steinpfeiler und die beeindruckende Architektur mögen zwar mittlerweile in die Jahre gekommen sein, doch boten sie immernoch einem jeden Neuankömmling in Carviel einen imposanten Anblick. Und nicht zuletzt zeigt der Leuchtturm auch heute noch an, dass das Ziel bald erreicht ist.

Dank Marinas zuverlässigen Winden konnten wir wenige Stunden später an der Bastion des Westens entlangsegeln und in die Königsbucht einfahren. Nachdem die Taue am Hafenkai festgemacht waren, verließ ich das Schiff und betrat tasperinischen Boden.

Schon vom Hafen aus fällt es stets leicht sich in der Stadt zu orientieren. Der im Süden befindliche Felsen des Herrschers mit Tasperins Kaiserfeste erhebt sich hoch über der Stadt und bietet vermutlich ein einzigartiges Panorama auf eine der größten Siedlungen der bekannten Welt. Wo, wenn nicht hier versammeln sich so viele tatkräftige Menschen? Weiter im Norden erhoben sich die beiden Spitztürme der Silvanischen Kathedrale am Hügel des Herrn. Ich würde später noch dahin aufbrechen und ein Gebet sprechen, aber für den Moment hatte ich noch ein paar andere Erledigungen im Sinne. Über die großen und verdreckten Straßen am Hafen kam ich an den langen Geschäfts- und Ladenzeilen vorbei, in denen allerlei Spezialitäten angeboten werden. Hier, im Herzen Tasperins, werden Produkte aus aller Welt feilgeboten – oft zu unverschämten Preisen, aber nur hier bekommt man die exotischen Früchte des Südens, ebenso wie die feinen kalifatischen Gewürze oder Hölzer aus den Unbekannten Landen. Man muss nur stets aufpassen nicht den durch die Stadt preschenden Marktkarren in den Weg zu kommen, um wüste Beleidigungen von den Fahrern zu ernten. Nicht, dass mir solche Dinge passiert wären.

Nachdem ich allerlei Wohnviertel und die drei großen Schmiedehöfe der Stadt hinter mir gelassen hatte, lag der Markthügel vor mir. Einer der Händler vom "Sperrschrank" sagte mir, dass ich hier alles bekomme, wonach es mir gelüstet. So fremd mir die endlose Befriedung meiner Wünsche auch sein mag, benötigte ich doch noch ein paar Sachen, die das Leben zumindest ein wenig einfacher gestalten. Ich schritt an den zahlreichen Wachleuten am Eingang vorbei, die mir argwöhnische Blicke zuwarfen, mich aber passieren ließen. Hinter ihren kleinen Wachhütten angekommen, baute sich der trubelige Markt mit seinen unzähligen Ständen und Marktschreiern auf. Unverständliche, aber sicher konkurrierende Schreie hallten über den prallgefüllten Markt und priesen die neuesten und besten Waren aus aller Welt an. Massen an Besuchern schoben sich durch die engen Gänge und Gassen, immer auf der Suche nach dem besten Geschäft. Ich schluckte. Dies war wirklich kein Ort für mich. Menschenmassen und Enge werfen immer ein gewisses Unbehagen in mir auf, aber was nützt es schon?

Ich reihte mich in die Menschengruppen ein und wurde mit dem Fluss des Lebens mitgerissen. Links bäumten sich duftende Gerüchte und einzigartige Anblicke, rechts betörende Farben und lautes Geschrei auf. Ich war, gelinde gesagt, ein wenig überfordert. Auch Yuki war die ganze Sache nicht geheuer.

Bevor ich mich wirklich orientieren oder gar stehen bleiben und irgendeine Ware betrachten konnte, war ich bereits am westlichen Ende des Markthügels angekommen. Vor mir baute sich ein großes, mehrstöckiges Gebäude mit einem markanten Kuppelturm an seiner Ecke auf. Ich hatte schon einmal von diesem Gebäude gehört, wie konnte ich auch nicht? Es ist schließlich die unheiligste und mir unheimlichste aller Heiligen Stätten – die große Markthalle des Marcos.

Mir ist es immer noch ein Rätsel, wie man eine Markthalle zu einer Heiligen Stätte ernennen kann. Aber auch das ist eine Entscheidung, die nicht ich zu treffen habe. Ich betrat das imposante Gebäude durch eine der großen Portaltüren und fand mich im ersten Ring des Gebäudes wieder. Auch hier war es zwar voll und allerlei Waren wurden feilgeboten, aber immerhin war die Lautstärke und Atmosphäre deutlich ruhiger. Die wildgewordenen Massen vor der Tür waren mir wirklich keineswegs lieb. Ich sah mich eine ganze Weile bei den großen Kaufmannshäusern um, nur um festzustellen, dass ich hier nicht fündig werden würde. Ebenso hatte ich im zweiten Ring kein großes Glück und vor allem nicht einmal die Fähigkeit die abgehobenen Preise zu begleichen. Wer auch immer hier seine Einkäufe erledigt, muss sich wahrlich keine Sorgen mehr um sein finanzielles Leben machen.

Kopfschüttelnd betrat ich den Innenhof und seinen dritten Ring. Die sanfte Atmosphäre und Ruhe der hier befindlichen Stände traf schon eher meinen Geschmack. Ich zog eine ganze Weile durch die  Ansammlung aus Hütten und langen, mit Gütern vollgepackten, Tischen bis ich zum Halt kam. An einigen Ständen kaufte ich bei den Marktdamen nicht nur neue Vorräte und Verbände sondern auch zwei neue Hemden und eine neue Lederhose. Sie würden mir zwar vielleicht nicht perfekt passen, aber für meine Reise brauchte ich deutlich mehr frische Kleidung. Es bietet sich als Ordensritterin nicht gerade an, wie ein gesühltes Schwein zu riechen. Zu guter Letzt erwarb ich noch einen großen roten Umhang, den ich mir sogleich zufrieden um die Rüstung legte.

Nach meinem kleinen Einkauf ließ ich auch den dritten Ring hinter mir und trat an den großen Eisenzaun im Herzen der Markthalle heran. Geschützt von diebischen Fingern lag im Zentrum der Schrein der Marcos. Nicht weit entfernt von mir versuchten einige Glücksuchende die Münzen auf die Statue zu werfen. Das Klimpern der einzelnen abprallenden Münzen hallte jedes Mal leise durch die Luft und so wussten sie bei jedem Wurf aufs Neue, wie wenig Erfolg sie doch hatten.

Am Ende des Tages ist aber jede Heilige Stätte eine Heilige Stätte. Und Marcos bleibt einer der Zwölf Heiligen. Was würde es schon schaden, es nicht wenigstens einmal zu versuchen? Und so nahm ich einen Silberling und ließ ihn ebenso an der Statue abprallen und irgendwo im Gras liegen bleiben. Deyn vergelts.

Für die nächsten zwei Nächte mietete ich mich in einer Taverne ein und ließ Yuki in einem größeren Stall umsorgen. Seine Wunden schienen zwar nicht mehr allzu schlimm, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Währenddessen begann ich meinen nächsten Tag damit die Kathedrale der Silvanischen Kirche aufzusuchen. Die hohen Türme waren bereits von Weitem ersichtlich und auch der Sitz des Kirchenrates der Silvanischen Kirche war nicht weit. Bedacht betrat ich die eindrucksvolle und in bestem Zustand gehaltene Kirche. Ihre riesigen Steinpfeiler wurden nur durch die noch markanteren Bogenbauten unterbrochen. Selbst in den Bänken waren kleine Schnitzereien eingebracht, die die Verse der Heiligen Schrift wiedergaben und die zahlreichen Darstellungen des Jakobus in den bunten Glasfenstern ergänzten. Ich war beeindruckt und eingenommen von der Herrlichkeit des Gebäudes. Sogar so stark, dass ich mich lächelnd auf eine der Bänke niederließ und zuerst die Bauweise genießen wollte. Erst nach einer Weile nahm ich mein Holzkreuz fest in die Hand und fing an ein langes Gebet zu sprechen.


Allmächtiger Deyn Cador
ich bete dieses Gebet in der Kraft deines großen allwissenden Daseins!

Mit der Unterstützung all deiner Heiliger, weise zurück und erkläre für unwirksam:
alle Unreinheit, Streit, Hader und Ärger, Zorn, Mord, Verdammnis, Stolz, Neid, Missgunst, jede Lüge und alle Furcht.
Verbanne mit deiner Kraft alle Magie und alle Schergen des Skrettjah.

Mit der Unterstützung all deiner Heiliger, verwerfe alle Schande, die gegen mich ausgesprochen wurde. Nimm auch diejenigen in dein Reiche auf, die diese Schande begangen und befürwortet haben,
denn du bist der Herr ewiger und gänzlicher Güte.

Mit der Unterstützung all deiner Heiliger, vernichte jede falsche Kraft, Hexerei, Zauberei und falsche Zungen, die gegen dich und deine Jünger agieren und
werfe sie wieder zurück in die Fänge des Fegefeuers.

Lass mich mit gezogener Klinge,
hier auf dieser Welt für dich streiten und deine Herrlichkeit verbreiten,
bis auch der letzte Ungläubige von deiner Macht überzeugt ist.

Dank deines großen Geschenks des Lebens werde ich dir dienen,
und bis zum Ende deine Kunde verbreiten,
um dir und deinen Heiligen denselben Dienst zu erweisen,
den ihr mir erbracht habt.

Mit deiner Führung und der Unterstützung deiner Heiliger werde ich diesen Tag überstehen.
Trotz all der Widrigkeiten und all des chaotischen Daseins dieser Welt.

Mit deiner Hilfe werde ich gegen die Schergen des Chaos in die Schlacht treten,
und allseits siegreich und schillernd hervorgehen,
um die deinen Jünger zu schützen und die Worte Deyn Cadors
aufleben zu lassen.

Ich und mein Leben gehören gänzlich dir, Deyn Cador,
bis wir in deinem Himmelsreiche aufgehen und
mit Stolz auf unsere Taten zurückblicken mögen.

Mit der Unterstützung all deiner Heiliger, und deinem fabelhaften Licht
werden wir die Ordnung obsiegen lassen und das Chaos
in all seine Schranken verweisen, damit das Licht
die Dunkelheit für immer in den Abgrund stößt.

Solange du an meiner Seite stehst, Deyn Cador,
werde ich leben und blühen,
werde ich beständig und unbestechlich bleiben,
werden die Ordnung das Licht dank deiner Güte bestehen.

Großer Deyn Cador, ich bete für dich,
und deine herrliche Güte.

Steh an meiner Seite und lass mich auch in dunkelster Stunde nicht fallen,
damit wir am Ende siegreich hervorgehen und
deine Jünger das Leid des Mannsweibes nie wieder leiden müssen.

Ich weiß mein Zeugnis und mein Dienst wirksam und vollmächtig sind,
denn dank dir, wird mich nichts aufhalten.

Amen.


Zufrieden und ein wenig befreit richtete ich mich wieder auf. Carviel war eine große Stadt, in der man vielerlei Dinge unternehmen konnte. Aber mir war nach all dem nicht wirklich zumute. Ich stockte nur meine Vorräte auf und kaufe ein wenig mehr Papier, da mir die freien Zeilen in diesem Buche bald ausgehen sollten. Und selbst, wenn niemand dieses Buch jemals lesen wird, bleibt es eine Erinnerung für mich. Und eines Tages auch an mich. Ich drehte meine Runden durch die Stadt und versuchte die neuesten Gerüchte aufzufassen. Zumindest ein paar Nachrichten über die aktuellen Geschehnisse auf der Welt aufzuschnappen. Obwohl sich diese Welt in rasender Geschwindigkeit weiterbewegt, sind ausgesprochen wenig relevante Dinge passiert. Die Hochzeiten des Adels oder das letzte Kleid der Kaisergattin? Wer interessiert sich schon für solchen Klatsch. Ich bin wahrlich keine richtige Frau, hm? Nicht, dass es mich noch in irgendeiner Weise stört.

Als ich am Abend wieder zu meiner Taverne spazierte, kam mir eine Heerschar aus Arbeitern entgegen. Auf ihren Wägen befanden sich allerlei Fässer und Dekorationen, fast wie bei den Feiertagen auf Neu Corethon. Erst als ich einen der Arbeiter freundlich fragte, worauf sie sich vorbereiteten, wurde mir klar welches Datum wir hatten – Morgen wäre bereits das Kronjubiläum. Manch einer sagt, dass es der Feiertag schlechthin ist. Kaiser Cadorians Krönung würde gefeiert werden und die Straßen werden noch voller sein, als sie es am heutigen Tag ohnehin schon waren. Das wollte ich mir dann doch irgendwie nicht entgehen lassen.

Meine Tavernengespräche für diesen Abend waren recht inhaltlos, deswegen will ich an dieser Stelle direkt mit der Feier fortfahren. In der Vergangenheit habe ich selbst schon das ein oder andere Fest organisiert oder zumindest zu einem gewissen Teil daran mitgewirkt. Selbst zu den Feierlichkeiten für die großen deynistischen Festen durch die Sorridianische Kirche in meiner Heimat durfte ich beiwohnen, dennoch .. das alles wird durch die schiere Größe und die unglaublichen Bemühungen dieses Tages in den Schatten gestellt. Dabei ist er nicht einmal zu Ehren Deyn Cadors, nein, sondern es wird die Krönung eines einzelnen Menschen gefeiert. So weit sind der Gottkönig und der tasperinische Kaiser dann doch nicht voneinander entfernt, hm?

Als ich am Morgen nach meinem Mahl die Taverne verließ, hatten die Arbeiter über Nacht schon ganze Arbeit geleistet. Bunte Fahnen, Girlanden und Leuchten waren über alle großen Straßen verteilt aufgestellt. Aus den Fenstern der einzelnen Häuser hatten die Menschen die eigene Fahne gehängt, sodass die Stadt in ein blau-weißes Farbfest eingetaucht wurde. Wären mir nicht von klein auf an beigebracht worden, dass es sich hier auch um unseren Erzfeind handelt, wäre es kurz gesagt nur ein herrlicher Tag geworden. Aber irgendwie fühlte es sich falsch an, ebenfalls zu feiern. Das hier ist weder mein Land, noch mein Kaiser. Mit Nichts von all dem war ich je verbunden. Mit Nichts hier bin ich verbunden. Und so zog ich es vor als stille Beiwohnerin zu beobachten.

Ich schlenderte gen Markthügel, wo die Händler ihre Stände über Nacht noch ein wenig aufgeräumt haben mussten. Selbst in den Seitenstraßen säumten mit allerlei Leckereien gefüllte Tische die Bereiche vor den Gebäuden. Anscheinend hatten sich sogar die Hausfrauen die Mühe gemacht und jegliche Spezialitäten aus ihrer Heimat zubereitet, nur um selbst noch ein paar Münzen einzustecken und gleichzeitig auch ein wenig Freude zu verbreiten. Ich wollte wenigstens diese Möglichkeit nutzen und kaufte mir ein paar Stücke des getrockneten Stagfarer Störs, welcher angeblich direkt aus dem Morgenstrom gefischt worden sein soll. Zum Fisch gab es gar noch ein paar Wolfshalmer Hefegebäcke, sodass ich für diesen Tag ausreichend eingedeckt war. Die Damen berichteten mir auch, dass die große Parade vom Hafen zur Bastion des Westens ziehen würde, wo die Soldaten – nach einer kleine Aufführung – den Kaiser höchstpersönlich durch die Stadt geleiten würden.

So machte ich mich mit meinem Trockenfisch und dem Hefegebäck auf zum Hafen, wo ich auf eine Gruppe Sôlaner traf! Nach einem kurzen Austausch von Nettigkeiten erzählten sie mir freimütig über ihren Dienstort Carviel und die letzten Feierlichkeiten. Auch sie wollten sich die, wohl lohnenswerte, Parade ansehen und gleichzeitig überwachen, dass der Kodex des Sôlerben eingehalten wird. Vor einigen Jahren hätten es sich einige Magier angemaßt ihre Kräfte zu Vorführungszwecken zu nutzen. Was für die abgehärteten Städter im Rahmen dieser Feierlichkeit wohl noch faszinierend anzusehen war, verursachte wenig später bei einem ganzen Wachbataillon schwere Kopfschmerzen. Ich wollte mich zwar nicht unbedingt in derlei Belange einmischen, nahm aber das Angebot an, gemeinsam mit ihnen als Zuschauer teilzunehmen.

Nachdem wir uns etwa eine Stunde unterhalten hatten, ertönten die Fanfaren und ließen ein lautstarkes musikalisches Orchester folgen. Reihenweise adrett gekleideter Trompeten- und Trommelspieler marschierten in ihren Uniformen an uns vorbei. Ihre militärischen Marschhymnen sollten den Schritttakt der nachfolgenden Soldaten vorgeben.

Zunächst kamen die Reiter des Tasperinischen Heeres auf ihren Leändrischen Rössern um die Ecke gebogen. Ihre prächtige Gardeuniform blitzte nahezu in der vom Himmel strahlenden Sonne auf und ließ einen eindrucksvollen Anblick zu. Anschließend kamen die in schneeweiße Uniformen gehüllten und auf den seltenen Herzländer Edelblütern sitzenden Offiziere der Marine und des Heeres. Die vermutlich allesamt aus Adelshäusern stammenden Herrschaften hatten eine ganz eigene, fast schon anmutig begleitende Atmosphäre. Die Zuschauerränge brachen immer wieder in großem Applaus für "ihre Helden". Aus. Selbst als die einfachen Mannschaften und Veteranen an uns vorbeischritten, wollte der Zuspruch der Tasperiner nicht ablassen, ganz im Gegenteil.

Während wir warteten und den Reihen an Soldaten auf ihrem Weg zur Bastion hinterherschauten, floss um uns herum der Alkohol bereits in Strömen. Findige Wirte und ihre Bedienungen kassierten direkt an Ort und Stelle ab, nur um wenig später die Humpen gefüllt mit den beliebtesten tasperinischen Biersorten heranzubringen. Kleine wie große Zuschauer genossen sichtlich die Darstellung der Stärke ihres Landes, und nicht zuletzt damit auch die Machtdemonstration vor dem größten Widersacher – Sorridia.

Obwohl der Anblick derlei Freude schon ein wenig erleichternd war, verlagerte ich bald mit meinen neugefundenen Sôlanern meine Position wieder zurück zum Markthügel. Durch die Menschenmengen drang das Gerücht, dass Kaiser Cadorian I. eine Ansprache halten wolle, auch zu uns vor. Mühselig schoben wir uns daher klimpernd an den trinkenden, lachenden und feiernden Menschen vorbei. Erst nachdem wir auf die hinterliegenden Seitenstraßen ausgewichen waren, kamen wir halbwegs gut voran. Doch selbst hier versperrten die überall abgestellten und mit Vorräten vollgestopften Karren die Wege, sodass hin und wieder ein kleines Klettermanöver gefordert war.

Nichtsdestotrotz sollten wir unser Ziel irgendwann erreichen, nur um von der größten Menschenansammlung aufgehalten zu werden, die ich je gesehen hatte. Selbst die riesigen, aufeinanderprallenden Heerscharen im Kreuzzug waren kleine Gruppen im Vergleich mit der am Markt versammelten Menge. Egal, wie sehr wir und später nur noch ich, nachdem ich die anderen Sôlaner verloren hatte, es versuchten – es gab kein Durchkommen. In der Ferne erkannte ich zwar, wie eine leuchtende Kutsche heranrollte und sich schemenhafte Gestalten auf ein Podest stellten. Doch war nichts zu erkennen, und schon gar nichts zu hören. Durch die freudig rufende Masse gingen alle Worte der Rede völlig unter. Sie wurden einfach von der Lautstärke geschluckt. Dennoch, egal was auch immer dort vorn gesagt wurde, schien den Menschen dienlich gewesen zu sein. Laut schrien sie aus und hoben ihre Becher, warfen Blumen in die Luft oder hielten sogar  ihre Kinder hoch. Wenn das mal kein Nationalstolz war...

Ich quetschte mich anschließend irgendwie wieder durch die Menschenmenge und kehrte wieder in meine Taverne zurück. Überraschenderweise war auch diese bis auf den letzten Platz gefüllt, sodass  ich mich direkt in mein Zimmer zurückzog. Ich studierte noch ein wenig mein Gebetsbuch und stärkte mich mit ein paar Stücken des getrockneten Störs, bis der Abend über der immer noch feiernden Stadt hereinbrach.

Die Zeit auf Reisen vergeht wirklich wie im Flug, vor einer Woche war ich noch in Weidtland und habe um Yukis Überleben gekämpft. Und jetzt sitze ich hier während der größten Feier, die ich je mitbekommen habe, in meinem Zimmer und nasche an Trockenfisch herum. Ich hoffe bald nicht mehr allein sein zu müssen, denn die wirklich anspruchsvollen Abschnitte und schwierigen Ziele kommen erst noch. Ich werde Morgen früh in Richtung Silvarhof aufbrechen, um von dort aus weiter nach Weissenstein zu ziehen.

Drevin mag vielleicht ein unausstehlicher Zeitgenosse sein, aber ich wünsche ihm dennoch nichts Schlechtes. Vielleicht hat er seinen Platz ja endlich gefunden? Wir werden es bald sehen.

Für den Augenblick werde ich schlafen. Ich habe da so ein Gefühl, dass es vorerst die letzte Nacht ohne Albträume sein wird.




RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 16.08.2020


XIII – Weissenstein

22.02.1352

Tasperin also, es sollte nicht der längste Abschnitt dieser Reise werden. Ganz im Gegenteil.

Ich hatte mich bereits in den frühen Morgenstunden in meine Rüstung geworfen und Yuki aus dem Stall abgeholt. Die Sonne war noch weit entfernt davon am Horizont zu stehen, und eigentlich war ich auch noch weit davon entfernt wirklich wach zu sein. Nichtsdestotrotz hatte ich mir einen recht langen Weg für die erste Etappe nach Silvarhof eingeplant. Und irgendwie wollte ich ihn auch nicht länger warten lassen. Nachdem ich einige Tage in Carviel mit anderen Dingen, als meiner Mission verbracht hatte, war es an der Zeit wieder einen Zahn zuzulegen.

Wenn ich dabei allerdings an die anderen Personen zurückdenke, wird mir mehr als mulmig. Zuerst besuchte ich Rupert Seelbach in Asmaeth; er hängte sich in seiner schäbigen Bude auf. Dann reiste ich zum Kloster Melissengespenst und suchte nach Hugo Feuerstein; ihn suchte der Fluch des Alters heim. In Rodstedt versuchte ich erfolglos Werner Gerber zu finden; möge Deyn seiner gnädig sein, wenn er noch irgendwo da draußen ist.
Sie alle haben grausame und längst beendete Schicksale heimgesucht. Sie alle haben ein Objekt erhalten, das irgendwie mit Franz und seinem Verschwinden zu tun haben. Wenn sogar Rupert Seelbach betroffen ist, dann kann es nur .. dann muss es so sein. Dann wird Drevin eines haben. Und auch ihn wird ein schlimmes Schicksal heimsuchen oder längst gefunden haben.

Und vergessen wir eines nicht – ich habe auch eines erhalten.


Während jedenfalls nur aus den Bäckerstuben und Metzgereien erste Laute zu vernehmen waren, trabte ich mit Yuki über die nahezu leergefegten Straßen des sonst so lebhaften Carviel. In dieser Form gefiel es mir hier deutlich besser. Weniger Trubel und Aufregung. Mehr Platz, weniger Anspannung. Ein guter Tausch, hm?
Nachdem ich durch das nordwestliche Tor in die Herzlande schritt, wehte mir ein fast schon verdächtiger Wind entgegen. Nichts, was mich aus der Ruhe bringen könnte, aber vielleicht ein Zeichen? Oder interpretiere ich jetzt auch schon hier zu viel herein? Wer weiß das schon.

Ich schlug in die Zügel und verpasste Yuki einen sanften Tritt. Mit leichtem Anlauf ging er in seinen schnellen Trab über und führte uns vorbei an den zahlreichen Gehöften und Ställen, die vor den Toren der Tasperiner Hauptstadt lagen. Entlang an Kornfeldern und Apfelhainen, kleinen Gaststätten und Lagerhäusen, folgten wir der Straße gen Nordosten. Der Weg nach Silvarhof war nicht zu übersehen. Das kaiserliche Gehöft musste in wenigen Tagen zu erreichen sein und mit ein wenig Glück könnte ich sogar ein paar Blicke auf die Herzländer Edelblüter erhaschen.

Nach einer kurzen Weile hielt ich einmal inne, zog die Zügel an und warf noch einen letzten Blick zurück. Hinter den massiven Stadtmauern Carviels erhob sich die Kathedrale im Herzen der Stadt und schien auf all die kleinen, ringsherum gebauten Wohnhäuser herab. Aber über allem lag die Bastion des Westens; Heimat des kriegsliebenden Kaisers dieses verkommenen Staates. Für solche Worte wird man in diesem Land mittlerweile auch bestraft, wenn ich recht verstand. Aber wie soll ich eine Nation gutheißen, die Magier gewähren lässt? Die Antwort würde ich gewiss nicht in Weissenstein finden.

Den gesamten Tag, mit Ausnahme unserer kurzen Pausen, verbrachte ich auf Yukis Rücken. Gemeinsam genossen wir die aufgehende Sonne über den in bald in voller Blüte stehenden Feldern. Wir beobachteten die aus den Arbeiterkaschemmen strömenden Tagelöhner und ihre harte, immergleiche Feldarbeit oder die an uns vorbeiziehenden Wagenkollonnen. Ich bewunderte die unermüdlich gründlichen Waschweiber an den Wasserquellen oder schaute den spielenden Kindern nach, als sie mir einige Meter hinterherliefen. Selbst für Tasperiner Verhältnisse gelten die Herzlande als behütetes Land, fernab von Krieg und Zerstörung und sind weit davon entfernt größere Probleme zu verursachen. Und gewissermaßen stimmt das wohl auch. Mögen sie ihre Ruhe finden und ein deyngefälliges Leben führen.
Eine Illusion, hm?

Am frühen Abend kam ich an einer kleinen Taverne, irgendwo mitten auf dem Weg zwischen den großen Städten an. Vor der Tür saß eine Gruppe Händler um ein Feuer verteilt, schlussendlich entschloss ich mich die Nacht zu bleiben und gesellte mich zu ihnen. Während die Kaufleute ihre gerade verdiente Münze für allerlei Bier und Wein ausgaben, begnügte ich mich mit einer frischen Hasenkeule und der vergnügten Gesellschaft.
Erst als der Mond sich über unseren Köpfen erhob, wurde das Feuer gelöscht und das Bett aufgesucht. Es war Vollmond. Warum ich das hier erwähne?

Weil genau dieser Vollmond mich in meinem Traum aufweckte. Fast, wie eine fiese Grimasse, stand er so nah, wie noch nie zuvor, an unserem schönen Planeten Athalon. Seine gigantischen Ausmaße ließen mich zurückweichen, stolpern und hinfallen. Und da hatte ich längst noch nicht bemerkt, dass ich überhaupt stand. An meinem Leib trug ich nur eine schäbige Leinentunika. Meine Haut war zerschlissen, voller Kratzer und meine Narben schienen frisch. Es war kein unerträglicher Schmerz, der auf meinem Körper lag. Nur ein Stechen oder Ziehen hier und da, nichts, was ich nicht gewohnt wäre.
Doch die Atmosphäre in dieser vom Mond bestrahlten Landschaft war ominös, eigenartig, merkwürdig und verstörend. Ich suchte einen Sinn in diesem Traum; obwohl ich mir nicht einmal mehr sicher bin, dass es einen geben muss.

Ich stand inmitten eines Feldes voller aufblühender Ähren, Ähren aus schwarzer Asche. Ein leichter Windzug fuhr mir durch das offene Haare und wirbelte die Ascheflocken in die Luft auf. Schon nach wenigen Augenblicken war alles um mich herum in grauen Flecken gehüllt. Jeder Atemzug roch verbrannt, fühlte sich warm und feurig an. Ich verspürte aber keine Angst, nur ein massives Unwohlsein.

Ich war mir unsicher, was mir dieser Traum mitteilen wollte. Im Gegensatz dazu war mir aber mehr als bewusst, dass es nicht bei einem Regen aus Asche bleiben sollte. Ich folgte einem nicht vorhandenen Pfad durch das Aschfeld. Ungewiss, was mein eigenes Ziel hier war oder wonach ich Ausschau halten sollte, war ich eine halbe Ewigkeit auf der Suche nach irgendetwas. Oft genug hatte ich das Gefühl, dass aus der Erde unter meinen Füßen irgendwelche Kreaturen kriechen und nach meinem Leben trächten wollten. Oder das mir im Sturm der Asche ein aus den Lüften kommendes geflügeltes Wesen den Gar ausmachen wollte. Aber selbst, wenn ich mich mühselig danach umschaute, war da .. nichts. Rein gar nichts.

Ich hätte einfach Warten sollen, genießen, dass mich meine Zukunft noch nicht selbst einholt. Aber so bin ich nun einmal einfach nicht; ich folgte ihr selbst. Ich laufe meinen Zielen auch in den Abgrund hinterher. So auch in diesem Traum, bis ich vor meinem eigenen Abgrund stand. In der Ferne erhob er sich, er musste es sein. Was hätte es sonst sein können?. Ein gigantischer Baum mit einem Wurzelwerk, das jedem Gebäude Konkurrenz gemacht hätte. Seine durchdringenden Äste ragten in alle Himmelsrichtungen und hoben die mächtige Baumkrone in die Höhe. Seine Blätter bestanden aus glühenden und von Feuer umschlossenen Ascheflocken, die knisternd im Wind vor sich hintanzten. Nach diesem Baum hatte ich wohl gesucht, mich fast beschwert, ihn nicht gleich gefunden zu haben. Aber da war er. Flackernd, knisternd und wankend. Und dennoch so fest verwurzelt und beständig, dass ihm nichts etwas anhaben konnte.

Bedächtig schritt ich näher, ging bis auf wenige Meter an ihn heran und versuchte die Hitze seiner siechenden Blätter an meiner Haut zu spüren. Die Wärme fühlte sich erst gut und beruhigend, dann wieder unwohl und zermürbend, an. Es war ein stetiger Wechsel. Ich schluckte tief und umrundete mein mir entgegengeworfenes Mahnmal einmal; doch schon an der Rückseite fand ich sie. Halb in den Boden gesteckt standen dort ein verrostetes Schwert und ein halbbrüchiger Speer. Fast, als hätten sie auf mich gewartet. Oder als hätte ich sie mir gewünscht?

Es ist auf eine ganz eigenartige Weise verwunderlich, was für eine Sicherheit mir Klingen mittlerweile geben. Diese Instrumente des Todes, des Leids und der Qual – nur mit ihnen weiß ich mich sicher. Ich zögerte nicht einmal. Nein, so bedauerlich ist es schon mit mir. Ohne einen großen Gedanken zu verschwenden packte ich beide Waffen, hob sie aus der Erde und wog sie in der Hand umher. Erst dann beendete ich meine Runde um den Baum. Erst dann stellte ich mich wieder auf exakt dieselbe Stelle, an der ich eben dieses vor Feuer lodernde Symbol inmitten meines Traumes bewundert hatte.

Ich zog einen letzten tiefen Luftzug der von Asche erfüllten Luft durch meine Nase ein, bevor meine langwährende Ruhe enden sollte. Nur einige Schritte vor mir erhob sich eine halbzerfallene menschliche Gestalt aus dem Boden. Ihre Arme bestanden nur noch aus wenigen Brocken verfaulter Masse aus Muskeln, Fleisch und Sehnen. Es hinderte ihn aber nicht daran das ebenfalls rostige Schwert tragen zu können. Der verfallene Torso ließ auf einen einst kräftigen Mann schließen, auch wenn ihn seine neue Form nicht weniger bedrohlich aussehen ließ. Nur sein Kopf blieb mir verbogen, verdeckt mit einer feinen aschgrauen Stoffhaube. Mein Gegenüber hob seine rostige Bewaffnung an und machte sich mit gebrechlichen Schritten daran, mir seine Klinge in den Körper zu rammen. Mit einem gezielten Hieb konnte ich seinen jämmerlichen Versuch abwehren und ihm zusätzlich meinen Knauf gegen den Schädel hämmern.

Er, .. oder es? blieb unbeeindruckt. Weitere Male hob das Wesen sein Schwert und versuchte mit schwerfälligen Schlägen nach mir auszuholen. Ohne meine sonst so hinderliche Rüstung konnte ich mich frei bewegen und den langsamen Hieben nach und nach ausweichen.
Bis es mir reichte.
Hätte ich lieber die Fassung bewahrt.
Hätte ich sie wirklich lieber bewahrt.

Mit einem schnellen Schlag zog ich ihm den letzten scharfen Teil meines verrosteten Schwerts über den verhüllten Schädel. Fast schon klappernd brach das Geschöpf vor meinen Füßen zusammen und blieb wie ein Haufen Elend liegen. Vorsichtig drehte ich einige Schritte um den Kadaver vor mir, bis ich an den Kopf herantrat und die Stoffhaube abzog.

Mich traf der Schock.
Mein Magen verdrehte sich, meine Augen weiteten sich und ich spürte, wie ich mich fast übergeben musste. Ich hatte es so oft selbst gemordet und noch viel mehr Leichen gesehen, aber jedes Mal, jedes verdammte Mal, wenn ...
Selbst in meinen Träumen, kann ich mich nicht beherrschen,
aber macht mich nicht gerade das noch menschlich?
Bewahrt mir nicht diese Tatsache noch so viel von mir, lässt sie mich nicht das Leben spüren?

Der unbeschädigte, oder vielmehr bis zu meinem Schlag unbeschädigte, Schädel. Er gehörte niemand Geringerem, als Salvyro. Ein sauberer Schnitt durchzog ihn quer von Augenbraue bis Wange. Nicht einmal Blut tropfte aus ihm. Aber ich war .. ich hatte es schon wieder getan. Verdammt, Amélie. Als ob das Schwert deine einzige Lösungsmöglichkeit wäre. Sein zerfallener Körper, natürlich, das war er. Nachdem er von diesem verfluchten Dämonen, diesem widerwärtigen Geschöpf Skrettjahs, in das ewige Nichts gezogen wurde. Und hier war er wieder, suchte mich. Forderte mich kläglich heraus. Und nun liegt er wieder vor meinen Füßen und ich habe ihm wieder und wieder und wieder nicht geholfen. Für niemanden auf dieser Welt habe ich mehr Buße getan, als ich versagt habe, Salvyro. Und trotzdem suchts du mich immer wieder heim, hm? Es reicht noch nicht, ich weiß.

Aber auch mit diesem Traum sollte es nicht reichen. Das würde es auch zu einfach machen. Nur ein wenig Schuldgefühl, Ekel und Sünde wiederzubeleben. So wenig Leid habe ich nach all den ruhigen Nächten nicht verdient gehabt. Ich sehe es ja sogar selbst ein. Aber ..

Aber das ich hier gegen meine eigenen Kameraden antreten muss? Muss? Ja.
Friedrich und Karl erschienen in ihrer gesamten Pracht und Montur vor mir. Sie sprachen kein Wort, sondern zeigten nur eine offene Feindseeligkeit. Ohne auch nur einen Atemzug zu verschwenden, hob Friedrich sein Schwert an und stürmte auf mich zu. Mit aufeinandergepressten Lippen versuchte er mehrfach mich von der Seite zu treffen, aber ich hielt meine Distanz. Wenn er es dann doch schaffte, nah genug an mich heranzutreten, musste der Rost meiner Klinge seine wutentbrannten Versuche abwehren.

Ich hielt mich in meinen Lumpen gegen Friedrich und den eher als beistehenden Beobachter agierenden Karl recht wacker, bis ich zu einem Entschluss kam. Unsere Klingen krachten immer wieder klirrend aufeinander, bevor ich mich entschieden hatte. Ich wollte ihnen nicht wehtun, sie nicht auch noch verletzen. Ich würde aushalten. So lange ich eben könnte, denn irgendwann werde ich schon wieder aufwachen. So funktionieren Träume doch, richtig? So hat man mir es als Kind erzählt und so bin ich durch mein Leben gestapft, dass man irgendwann aus seinem Schlaf erwacht. Ob ich nun einmal will oder nicht. Hah, lachhaft. Was für eine Mär.

Stahl knallte auf Stahl. Seine geölte Schwertschneide auf mein verrostetes Stück Metall. Wir fochten lange Zeit, bis meine Kraft nachließ und ich von seinen harten Schlägen irgendwann ausgelaugt war. Doch er stand, wie ein festes Bollwerk, in seiner zerdellten Rüstung. Nicht ein Zeichen von Erschöpfung oder Ermüdung strahlte er aus, dieser ewige Säufer, Friedrich Ziethen. Selbst meine Knie wankten, meine Beine pulsierten und ich spuckte mehrfach vor Anstrengung aus. Kein Kampf ist dazu ausgelegt ewig ohne Sieger hervorzugehen, es geht doch immer um das Ausschalten oder Besiegen des Gegners. Aber das wollte ich hier nicht.

Sie waren nicht meine Gegner, sondern meine Kameraden. Ich würde nicht gegen sie handeln, ich wollte ihnen kein Leid antun. Also entschloss ich mich. Einmal mehr. Zeit in den Abgrund zu springen. Kopfüber.

Ich senkte meine Klinge ab, empfing ihn fast schon mit offenen Armen. Doch machte Friedrich keine Anstalt ebenfalls zu ruhen oder mich am Leben belassen zu wollen. Schritt um Schritt kam er näher und hob seine glänzende Ordensklinge in die Höhe.
Sein Schwert drang mit der Spitze zuerst in meine Brust ein und verließ wenig später meinen Rücken. Nur der Schock muss mich vor dem grauenhaften Schmerz im ersten Moment bewahrt haben. Erst schmeckte ich das Blut in meinem Mund. Dann kämpfte ich um Luft und erbrach das Gemisch aus Spucke, Blut und ... ach, was tut das zur Sache?
Ein kräftiger und betäubender Schlag fuhr durch meinen Körper, bevor es dunkel werden. Meine Augen fielen zu und ich kippte nach vorne um.

Es war vorbei. Ich würde gleich aufwachen, vielleicht aufschreien, aber .. das war es.
Träume, hm? Natürlich war es so nicht.

Jede Prüfung lässt uns mehr zu dem werden, was wir sind? Mag sein. Ich fand mich nicht in meinem Bett, in dieser Taverne irgendwo zwischen Carviel und Silvarhof. wieder. Sondern hinter dem gewaltigen Baum mit seinen schwelenden Blättern. Vor mir steckten wieder Schwert und Speer im Boden. Wieder griff ich sie mir, ohne groß nachzudenken. Wohl aber in tiefer Befürchtung. Erst wagte ich es kaum, doch dann trat ich um den Baum herum. Neben dem Kadaver Salvyro Notfinks standen zwischen den aschestreuenden Ähren Friedrich Ziethen und Bruder Karl. Von Friedrichs Schwert fiel warmes Blut Tropfen für Tropfen auf den Boden. Mein Blut. Mein Blut, nachdem er mir gerade seine Klinge durch die Brust gerammt hatte.

Ich wollte sie nicht bekämpfen. Ich werde sie nicht erschlagen, nein. Nicht meine treuen Kameraden. Nicht auch das noch. Ich will das nicht. Oder .. ich wollte das nicht.
Entschlossen trat ich auf die beiden zu und fand mich ohne Vorwarnung wieder im Zweikampf mit Friedrich wieder. Wir duellierten uns, doch dieses Mal hatte ich wenigstens den Anspruch ihn zu Boden zu bringen. Ich würde ihm nicht das Leben nehmen, aber die Waffe abnehmen. Ihn überwältigen. Das war der einzige richtige Weg.

Unser Kampf zog sich eine Weile, bis ich endlich eine Öffnung fand. Friedrich gehörte schon immer zu den wagemutigeren, aggressiveren Kämpfern. Seine Verteidigung war seine Schwäche, er war gern unachtsam. Das zeigte sich auch hier. Als er beide Hände für einen Schlag von oben zusammennahm, nutze ich meine Chance und warf mich mit meinem ganzen Gewicht gegen seine Brust. Gleichzeitig schaffte ich es irgendwie ihm meine Parierstange auf die Hand zu knallen, sodass sein Schwert in den Dreck des Feldes fiel. Keifend stemmte er sich gegen mich, drückte beide Beine in den Boden. Mir gelang es nicht ihn zu Boden zu werfen. Er nutzte aus, dass ich direkt vor ihm stand und legte beide Hände um meinen Hals.

Ich durfte hier nicht aufgeben, so schnell würde ich nicht wieder so weit kommen. Mit der flachen Seite des Schwertes zimmerte ich ihm gegen die Stirn. Mit meiner freien Hand gelang es mir in die Überreste seiner Nasenlöcher zu packen und zu ziehen.  Er verzog das Gesicht. Er spürte den Schmerz. Unangenehm, aber nicht gefährlich. Zumindest nicht lebensgefährlich.
Doch mir ging langsam die Luft aus, ich spürte mein Bewusstsein schwinden. Mit letzter Kraft holte ich noch einmal mit dem Schwert aus, zog es durch die Luft sirrend auf seinen Schädel zu. Mit einem hohlen Klirren knallten die rostigen Metallteile an seine Schläfe.

Er verdrehte die Augen, fiel langsam zu Boden und landete mit dem Rücken neben seinem Schwert im Dreck. Ich hustetete, lächzte nach Luft und fiel fast auf ihn. Mühselig, fast panisch,  krallte ich mir beide Schwerter und sah mich nach Karl um. Doch der war verschwunden. Nirgendwo um mich herum zu sehen. Keuchend schaffte ich es Friedrich auf die Seite zu drehen und ihm mit seinem eigenen Seil zu fesseln. Ich lasse nicht zu, dass wir weiter kämpfen. Das wir uns gegenseitig erschlagen. Das will ich nicht. Und .. letztlich darf ich es auch nicht zulassen.

Nach dem langgezogenen Kampf war ich jedoch ziemlich erschöpft, hatte mich von seiner Würgeattacke noch lange nicht erholt. Ich schnappte mir alle Waffen, die ich an ihm finden konnte und ging zu dem großen Baum zurück. Auf seinem Wurzelwerk ließ ich mich nieder und versuchte zu neuer Kraft zu finden. Und natürlich auch Karl auszumachen, der irgendwo in diesem endlosen Feld aus Asche verborgen sein musste. Denn auch er hatte keine gute Intention. In diesem elendigen und höllischen Traum.

Mir müssen irgendwann, bei aller Warterei, die Augen zugefallen sein. Ich weiß, wie lächerlich das klingen mag. Im Traum eingeschlafen? Was es nicht alles gibt, hm? Ich fasse mich an dieser Stelle ein wenig kürzer, ich bin wieder hinter dem Baum aufgewacht und wieder standen die beiden dort. Unser Kampf dauerte an, zwei Mal gelang es mir nicht ihn zu überwältigen und jedes Mal ging das Schauspiel von neuem los.

Aber als ich es dann endlich wieder geschafft hatte und er gefesselt am Boden lag. Als ich mir sicher war, dass ich es dieses Mal schaffen würde und meinen Sieg errungen hatte, ja, da passierte etwas, dass ich nie für möglich gehalten hätte. Es prallte, eine riesige Kugel aus brennendem Öl  irgendwo neben mir und Friedrich auf dem Boden auf. Ich sah mich panisch um, konnte kaum Sehen oder Atmen, als die Luft vom lodernden Geschoss erfüllt wurde. Karl, da war er. Mit einem Buch stand er auf dem Baum und ließ Feuer regnen. Die Kraft des Mannsweibes, hm? Was für eine verfluchte und abartige Hölle tat sich hier wieder vor mir auf?

Die nächste Kugel galt mir. Mein Körper ging in Flammen auf, meine Haut verbrannte und das Blut brodelte in meinen Gliedmaßen. Ich ging elendig und voller Schmerzenschreie zugrunde.

Aber gleich darauf – da stand ich wieder. Hinter dem Baum mit den rostigen Klingen. Ich hatte meinen Entschluss aber vor langer Zeit gefasst. Ich tue ihnen nichts an, nein.
Aber letztlich .. ich habe meine Versuche nicht gezählt. Ich fand mich Mal für Mal, Versuch um Versuch, hinter diesem teuflischen Baum wieder. Und jedes Mal verlor ich auf irgendeine abscheuliche Weise mein Leben. Und selbst als ich die beiden am Boden gefesselt und kampfunfähig geprügelt hatte, passierte nichts. Sie lagen da. Kampfunfähig und lebendig. Und das .. durfte nicht sein?

Ich hatte keine Wahl. Keine verfluchte Wahl. Ich konnte keine Entscheidung treffen, konnte sie nicht bewahren. Entweder ich bleibe für immer hier gefangen oder ich werde .. werde sie .. werde sie töten.

Ich wollte nicht. Aber meine Aufgabe, meine Mission, aufgeben? Auch das kann nicht der richtige Weg sein. Dieser Traum wird mich nicht aufhalten können. Er tut es schon viel zu lange. Sich auf dieser Welt über Fairness oder Gerechtigkeit zu beschweren, hat noch nie etwas gebracht. Aber es anstelle dessen gleich aufgeben und sich seinem Schicksal ergeben? Seiner deyngegebenen Bestimmung? Mit Sicherheit nicht, egal, wie tief mein Glaube ist. Das hier ist keine Welt Deyn Cadors, das hier ist nicht die Realität. Ich kann meinem eigenen Kopf nicht entfliehen.

Verzeiht mir.

Ich trat erneut hinter dem Baum hervor und ließ es alles schnell gehen. Sobald ich die Intention zum Töten habe, können sie mich nicht aufhalten. Nur wenige können mich mit dieser Zielsetzung im Kopf im Zweikampf aufhalten. Karl wurde von meinem durch die Luft sausenden Speer getroffen. Er fiel zu Boden, noch bevor er reagieren oder realisieren konnte, was vor sich ging. Mit Friedrich tauschte ich nur wenige Schläge aus, bevor auch er chancenlos und mit einer fatalen Wunde im Dreck lag. Ich wollte nicht. Ich fühlte mich so schlecht und schmutzig. Ich habe sie erneut betrogen und verletzt. Ich hätte mich am liebsten auf der Stelle gegeißelt und selbst gepeinigt. Mein eigenes Ende für meine Taten gewählt. Aber welche verdammte Wahl habe ich denn gehabt?

Was hätte ich denn tun können? Warum darf ich nicht .. warum kann ich nicht von diesem verschissenen Pfad abweichen und endlich .. endlich .. es bringt nichts. Es brachte nichts. Ich dachte es wäre vorbei, aber das war es nicht. Nach Salvyro, Friedrich und Karl tauchten Raphael und Jule auf.

Sie ließen mir keine andere Wahl. Sie ließen mir keine Möglichkeit meine Stimme zu erheben oder irgendetwas Friedvolles zu tun, nein. Raphael hob sein Zepter an und irgendwelche schwarzen Kugeln schossen aus der goldenen Spitze in meine Richtung. Krachend und in Feuerbällen aufgehend, platzten sie neben mir auf dem Boden auf. Zähneknirschend versuchte ich den Kugeln auszuweichen, lief, so schnell es meine Beine eben zuließen. Seine dämonischen Geschosse ließen mir keinen einzigen Augenblick zum Nachdenken, dennoch .. dennoch .. ich versuchte die Distanz zwischen uns zu schließen. Mit einem Schritt nach rechts wollte ich ihn austricksen, doch kennt er mich vielleicht zu gut? Er sah es voraus. Die Kugel flog direkt in meine Richtung, nur mit einem beherzten Sprung zur Seite konnte ich mich vor einem Direkttreffer retten. Mit einer glühenden Hitze, die mir meine Lumpen in Brand setzte und mich einige Meter durch die Gegend schleuderte, explodierte sein Angriff.

Ich hatte keine Zeit lange über meine Wunden nachzudenken oder mich von dem betäubenden Schmerz ablenken zu lassen, denn er würde auch nicht warten. Eher im Gegenteil. Krabbelnd kämpfte ich mir meinen Weg durch die Aschepflanzen wieder auf die Beine, raffte mich auf und blickte in sein widerwärtiges, immerwährendes Grinsen.

Aber als wäre dieser Gesichtsausdruck nicht schon genug, erhob sich Jule vor mir. Ihre feurig roten Haare, ihre sanften Sommersprossen und grünen Augen starrten mich ebenso entsetzt an. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht, .. verdammt. Das waren meine Gedanken, bevor sie mich in einen Zweikampf verwickelte. Meine tollkühne und mutige Jule Weber, die sich noch nie für etwas zu schade war. Auch heute bewies sie wieder ihren nie abklingenden Mut und ihre Willensstärke. Ihre Augen strahlten mich an, als wären sie die Träger ihrer Hoffnung. Aber egal wie sehr man den Sieg will oder ihn sich wünscht, er bleibt umso ferner, wenn die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen, um zu bestehen. Und so auch bei Jule. Wäre sie bei Sinnen gewesen, hätte sie gewusst, dass sie mich nicht besiegen kann. Das wir das nicht tun müssen.

Und doch wollte ich es erst nicht wahrhaben, verpasste ihr nur einen Schlag nach dem anderen mit meiner Faust. Ich hoffte so inständig, dass es bald ein Ende haben würde. Aber nein, nichts da. Unsere Klingen prallten noch zahlreiche Male vor dem glühenden Baum und seinem Feld aus Asche aufeinander, bis ich es beendete. Schweren Herzens versetzte ich ihr den endgültigen Stoß. Mit beiden Armen packte ich ihren zusammenbrechenden Körper und legte ihn behutsam auf dem Boden ab. Ich wollte sie nicht achtlos fallen lassen. Sie hatte das nicht verdient. Verzeih mir.

Raphaels Ende kam ebenso schnell. Seine verfluchten Geschosse mögen ein Hindernis gewesen sein, aber mithilfe von Jules Schild, lag auch sein Körper bald kopfüber im Ascheregen.

Jeder Hieb tat mir im Herzen weh. Jeder Stich in ihre Körper, fühlte sich an, wie zehn in meinen eigenen Leib. Ich schlachtete meine Freunde ab. Die einzigen Menschen, die immer und überall an meiner Seite standen. Ich warf ihre leblosen Körper in den Abgrund und erhob mich über sie. Aber nur, weil ich doch keine Wahl hatte? Darf und sollte das jemals eine Ausrede sein? Es soll nicht.

Selbst als Franz vor mir stand und er der Einzige war, mit dem ich ein wahres Duell führen konnte, hörte es nicht auf. Wir kämpften furios. Wild. Unfair. Ohne Ziel. Und am Ende lag er irgendwie am Boden, während ich mit zahlreichen Wunden über ihm thronte. Mir kamen nicht einmal mehr Tränen. Ich konnte nicht eine einzige Träne über meine Taten vergießen und so meinen Sünden nachkommen. Meine Buße müsste endlos ausfallen, wenn das hier real wäre. Ich zweifelte mehr und mehr an mir, wie schon so oft. Aber ich konnte es nach solchen Taten nicht lassen. Er könnte es auch schon. Wenn es nicht endet, nicht einmal trauer auslöst, sondern nur Ekel. Was für ein abscheuliches Monster ich werde, sobald ich Blut lecke.

Auch vor Anna verschonten sie mich nicht. Wir hatten einst Kinder getötet. Feige. Erbärmlich. Gegen Deyns Willen. Und hier tue ich es schon wieder. Es tut mir so Leid, meine Freunde und Kameraden. Aber .. ; nein, es darf kein "aber" geben. Wenn ich das hier nicht durchstehe, dann .. dann ..
Ich kann es nicht einmal in Worte fassen. Deyn steh mir bei. Sei an meiner Seite und bleibe mein Beschützer.

Die folgenden Zeilen sind in Sorridianisch abgefasst:

Deyn Cador,
du Allmächtiger Herr über die Ordnung
und Vertreiber des Chaos,

bitte erhöre unsere Worte,
unsere Bitten und Wünsche,
die wir jeden Abend an unseren Betten,
Tischen und Türen an dich richten.

Wir flehen nicht nur um Schutz vor dem Chaos,
nein, auch um gefüllte Bäuche,
ruhige Nächte und einen sanften Aufstieg zu dir.

Dafür kommen wir regelmäßig zusammen.
Huldigen dir.
Kämpfen in deinem Namen.
Vetreibe das Chaos in unseren Herzen.

Und wir bitten dich – nimm auch diejenigen wieder in deine Reihen auf,
die das Licht aus den Augen verloren haben und sich der Dunkelheit zugewandt haben.
Wahre Reue soll wahre Güte und Erlösung erleben.

Halte mich auf deinem Pfad,
egal wie weit ich von ihm abkomme,
stets für dich streitend,
niemals für mein eigenes Dasein laufend.

Bringe dein ordnendes Licht wieder zu mir,
nachdem die Dunkelheit sich über,
mich und mein Leben gelegt hat,
nur um,
gerettet zu werden.

So wie du es uns stets zeigtest.
Deyn Cador, du Allmächtiger Herr,
halte deine Schützende Hand über uns und so werden wir deine Worte weitertragen,
hinaus, in alle Lande.

Amen.


Ich erwachte. Dieses Mal wirklich, nachdem ich anscheinend den halben Tag verschalfen hatte. Die Mittagssonne war schon längst vergangen, als ich aus dem Bett kroch und mich wieder auf meinen Weg machte. Dieses Mal würde ich meine Etappe nicht schaffen, aber das war nicht mehr zu ändern.
War ich wirklich in meinem Traum gefangen und konnte ihm erst entfliehen, als ich meine Aufgabe in meinem Kopf erfüllt hatte? Was wäre nur passiert, wenn ich mich weiter geweigert hätte? Ich hätte dort gelegen und alles hätte sich nur in mir abgespielt. Wenn ich richtig liege, wenn es so sein sollte. Was für eine verworrene und unverständliche Welt, in der wir leben- Und dann komme ich nicht einmal mit mir selbst zurecht. Doch wer kommt das schon? Es hilft nichts. Es gilt weiterzumachen. Sünden ist mit Buße zu begegnen.

Ein bitterer Beigeschmack bleibt am Ende trotzdem übrig, denn ich habe ihnen allen nach dem Leben getrachtet. Es spielt keine Rolle, ob im Traum oder nicht. Sie haben mir mein Leben beendet. Ich hatte keine andere Wahl; das wäre eine einfache Ausrede. Aber ich akzeptiere diese vermaledeite Antwort nicht mehr. Ich wollte es anders, ich durfte nicht. Das .. Amélie, fang dich. DU schaffst das. In Weissenstein wartet vielleicht endlich Erlösung oder zumindest findest du sie. Die wahre Jule Weber würde dort sein. Nicht diejenige, die ich eben in meinem Schlaf abgeschlachtet habe. Genug Kameraden sind in meinem trägen und schwachen Armen gestorben, weil ich sie nicht beschützen kann. Ich muss dafür sorgen, dass es nicht noch mehr werden.

Meine Reise kostete mich noch einige Tage, in denen mich schlimmere und weniger schlimme Albträume heimsuchten. Sie alle verband ein Bild der Trügnis und einer Wahllosigkeit. Ich musste folgen und Taten begehen, die ich nicht begehen wollten. Ich fand mich in dunkelsten Nächten auf dem Schlachtfeld wieder und wollte nur weglaufen. Aber Aufwachen würde ich nur, wenn ich nicht diejenige war, die fällt.

Aufwachen und weiter für Deyn kämpfen würde ich nur, wenn ich die Ordnung darstelle. Wenn ich das flammende Schwert des Sôlerben in den Himmel recke und das behütende Schild des Mikael vor die Schwachen halte. Und das werde ich weiter tun, komme, was wolle. Es hängt mehr an dieser Welt, als nur ich. Mehr, als nur Drevin Cray. Doch bildete er eine weitere Station auf dieser beschwerlichen Reise.


Und da lag sie endlich vor mir – Weissenstein. Eine Stadt der Kirche mit dem Zweck der Internierung und Ausbeutung von Magiern für die Zwecke der Ordnung und der Silvanischen Kirche. Machen wir uns nichts vor, eigentlich sollte es diesen Ort nicht geben. Aber lieber das Chaos selber einsperren, als es durch noch korruptere weltliche Mächte geschehen lassen. Hinter den eigentlichen Befestigungen der Stadt liegt die einzeln abgeschirmte Akademie. Ihre pompösen Bauten verbergen das Unrecht, das darin stattfindet. Weissenstein ist ein Hort der Kirche und des Glaubens; aber auf eine Weise auch wieder weit entfernt von den Lehren Deyns. Einen widersprüchlicheren Ort gibt es vielleicht im ganzen Land nicht. Aber da lasse ich Schwarzwasser wieder einmal außen vor.

Ich ließ die Stadt ein wenig auf mich wirken und besorgte mir ein Quartier für die kommenden Nächte, ein wenig abgeschirmt vom eigentlichen Geschehen. Ich wollte wenigstens versuchen in der Nacht Ruhe zu finden, denn ich wusste, dass die kommenden Tage nur wenig Gelegenheit für Rast bringen würden. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass man sich um Yuki kümmern würde, steuerte ich mein erstes Ziel an.

Den Ort in der Stadt, an dem ich mich mit Jule treffen wollte. Mein Herz pochte ein wenig, ich merkte, wie die Vorfreude in mir anstieg. War das Sehnsucht? Ich brauche sie, das weiß ich. Aber .. ich vermisse sie alle. Eine vertraue Seele an meiner Seite zu wissen, wäre ein Geschenk des Himmels. Ich kam am offen gestalteten Platz mit seinem kleinen Brunnen in der Mitte an und wartete. Ich wartete. Es muss eine ganze Stunde gewesen sein, die ich dort verbracht habe. Erst dann hatte ich mich beruhigt und angefangen die umstehenden Marktdamen zu fragen, ob sie eine rothaarige Sôlanerin gesehen haben. Leider, leider, leider hatte niemand eine gute Nachricht für mich. Ich muss zu früh sein oder .. irgendetwas war dazwischengekommen.

Um ehrlich zu sein, ich war am Boden zerstört. Ich hatte mich gefreut, gehofft und gebangt. Ich habe mir sogar ausgemalt, wie es wäre endlich wieder zu Zweit zu reisen. Nichts habe ich mir sehnlicher gewünscht. Jemanden an meiner Seite zu wissen, der sich um mich kümmert und mich aus meinen Träumen reist. Und jemanden zu haben, den ich beschützen kann. Mit dem ich über all die Verzweiflung und Angst in meinem Kopf sprechen kann. Endlich einmal wieder ehrlich sein. Und nicht nur mehr all das, was in mir vorgeht, hier in diesem ausufernden Buch niederschreiben.

Aber es musste warten. Sie war nicht hier. Was sollte ich auch anderes tun, als weitermachen? Selbst wenn alles schief läuft, selbst wenn mich alle alleine lassen und verraten, ich musste weitermachen. Und das tat ich.

Zutritt nach Weissenstein zu erlangen, ist für Außenstehende oft kompliziert. Nicht jedoch, wenn man Angehöriger der Silvanischen Kirche oder des Sôlaner Ordens ist. Wieder einmal wurden mir die Türen auf einfache Weise geöffnet und ich stolzierte durch die weitläufigen Hallen und Gänge. Eine angespannte Atmosphäre lag unter den unter dauerhafter Beaufsichtigung stehenden Magiern. In ihren markierten Roben war für Jedermann klar ersichtlich, wer sich vor einem befand und wozu diese Person in der Lage war. Gerade auch den höherrangigeren Mitgliedern der Akademie von Weissenstein wurde mehr misstraut, als vertraut. Spätestens, als eine einzelne Frau von gleich zwei Sôlaner begleitet wurde, verstand ich in welcher Institution ich hier war.

Mir war vorher bereits bekannt, wie akribisch die Weissensteiner in ihrer Bürokratie sind, aber es selbst zu erfahren, erzeugte noch einmal einen ganz anderen Eindruck. Ich meldete mich mit dem Besuchswunsch nach Drevin Cray. Grundsätzlich stünde diesem nichts im Wege, wie mir die Dame an der Rezeption mitteilte. Es müssten nur zwei Mitglieder des Klerus zustimmen, was eine gewisse Zeit dauern könne. Sie bat mich eine Weile Platz zu nehmen und zu Warten. Mehr oder minder schulterzuckend nahm ich die Wartezeit hin und beobachtete die im Innenhof übenden Magier bei ihren ersten Versuchen ihre Kräfte zu bündeln.

Verbotene und zu verbannende Kräfte. Eine Macht, die keinem Menschen ohne Gnade Deyn Cadors obliegen sollte. Nur der Herr darf bestimmen, wann wir seine allmächtigen Fähigkeiten auferlegt bekommen. Nur mit seiner Zustimmung sollten wir den Bereich des menschlichen Daseins verlassen dürfen. Aber hier standen sie überall, geschützt und gleichzeitig eingesperrt. Nur um mehr über diese verwerflichen Kräfte zu lernen und der Silvanischen Kirche zu dienen. Ich weiß, dass ich es nicht ändern kann. Diese Welt ist nun einmal so. Aber ich werde es zumindest verurteilen. Die Freizügigkeit der Tasperiner gegenüber der Magie wird ihnen sicher eines Tages auf die Füße fallen, "denn erst wenn der Kataklysmus der verbotenen Magie über uns hereinbricht, offenbart sich ihr wahres Bild".

Ein schönes Zitat, nicht? Einer der wenigen Sätze, die ich aus den Aufzeichnungen meines eigenen Großvaters entziffern konnte.

Meine Wartezeit hatte ein schnelles Ende, als ich ein zweifach unterschriebenes und gesiegeltes Schriftstück in die Hand gedrückt bekam. Mir wurde gar der Weg zu Drevin gewiesen, der in einem der Schlafsäle der niederrangigen Akademiemitglieder untergebracht war. Ich wurde bis zur Tür geführt und trat dann eigenständig ein. Am Ende des Raums war der Blondschopf Drevin klar zu erkennen, gehüllt in seine weiße Kutte und umringt von vier anderen Novizen. Sie schubsten ihn wie einen Spielball im Kreis herum. Sein dürrer Körper wurde von einem Mann zum Nächsten gestoßen. Er verzog sichtlich das Gesicht, wagte es aber kaum sich zu wehren. Das höhnische Gelächter der anderen Weissensteiner erfüllte den Raum. Bis mich der erste von ihnen bemerkte. Bis sie ihre Beine in die Hand nehmen und durch eine andere Tür davonliefen.

Den eingeschüchterten und wütenden Drevin ließen sie zurück. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, blickte in meine Richtung und hob dann seinen Zeigefinger zitternd an. Seine Wut wandelte sich in eine gewisse Verzweiflung.

"Ihr! Du!" rief er durch den Raum. "Was wollt ihr denn hier? Seid ihr endlich hier, um mich auch fertig zu machen? So wie dieser dämliche Haufen?"

Ich hob abwehrend meine Hände und trat näher an ihn heran. Aus der kurzen Distanz wurde ein noch nicht ganz abgeheiltes Veilchen an seinem linken Auge und allerlei Schürfwunden an seinen Armen sichtbar.
"Drevin Cray. Die Freude ist auch ganz meinerseits. Wären nicht ein oder zwei Worte des Dankes hilfreich, nachdem deine werten Kameraden dir beinahe ein zweites blaues Auge verpasst haben?"

Er schüttelte heftig mit seinem Kopf. "Garantiert nicht."

"Komm mit. Es wird Zeit, dass wir uns ein wenig unterhalten. Keine Widerworte, du weißt, wo du hier bist. Und ich brauche keine lauschenden Ohren."

Er murmelte etwas, nickte dann aber leicht. Widerwillig. Das einzige Wort, das ich aus seinem Gemurmel verstehen konnte, war "Metze". Für den Augenblick ließ es unter den Tisch fallen. Nicht, dass ich noch eine derartige Beleidigung akzeptieren wollte.
Gemeinsam suchten wir einen der leeren Lehrsäle auf, guten Gewissens, hier nicht ohne Grund gestört zu werden. Widerwillig und mit verschränkten Armen setzte sich Drevin auf einem Stuhl nieder. Was für ein trotziger Bursche er war.

"Wie ergeht es dir seit deinem Betritt in dieser Akademie, Cray?"

"Wie es mir geht? Schaut mir ins Gesicht, macht eure Augen auf! Wie soll es mir gehen? Erst werde ich von den Schülern vermöbelt, dann von den Lehrern und dann von den Wachen! Breche ich eine Regel, gibt es Konsequenzen. So ein Mist."

"Ich verstehe. Warum wählst du dann nicht den Pfad der Versiegelung? Gib deine Kräfte auf und du wirst frei sein."

"Seid ihr nun völlig verrückt?! Ich werde doch nicht meine einzige Fähigkeit wegschmeißen! Eher gehe ich hier drin zugrunde, mit all diesem Haufen an Verrätern und Arschkriechern. Hier ist es elendig drin, aber besser als da draußen. Besser als mit Leuten, wie euch!"

"Zügle dich. Auch wenn ich nicht zu dieser Insitution gehöre, bleibe ich Sôlanerin. Drevin Cray, ich bin wegen dir hier. Weil ich glaube, dass du einen Gegenstand erhalten hast. Ich will diesen Gegenstand haben."

"Aha! AHA! Ihr braucht mich also, großartig."
Sein vorher trotziges Gesicht wandelte sich in ein gewisses Lächeln, ja gar eine Zufriedenheit.  
"Sonst werde ich in diesem Spaßverein von Akademie  nie gebraucht, aber wenn ihr mich braucht, gelten MEINE Regeln! MEINE! Und keine Widerworte, sonst rede ich einfach nicht mehr mit euch. Wie mit dem Rest meiner Novizen. Ich behandle euch, wie Luft. Nein, wie ein Schwein. JA, wie ein Schwein. Leute, wie ein Tier zu behandeln, könnt ihr ja."

Ich seufzte. Ich schüttelte meinen Kopf. Was für ein problematischer Bengel. Ungezogen und unerhört. Aber ... für den Moment musste ich wohl tun, was er verlangt.

Wir einigten uns darauf, am nächsten Tag "zu verhandeln", wie er es nannte. Vielleicht würde es mir auch gelingen ihm den Gegenstand so abzunehmen. Dumm war dieser Junge allerdings nicht.

Ich verließ die Akademie wieder, aber nicht ohne mir eine "Passierbescheinigung" für die nächsten Tage geben zu lassen. Da soll noch einmal jemand sagen, dass nur in Silventrum die Bürokratie ausgeprägt ist.


Die letzten Tage waren wirklich anstrengend. Auf einer sehr emotionalen Ebene. Mir eröffnete sich immer wieder eine grausige Welt, der ich nicht entkommen konnte. Einen Ausgleich oder eine Entspannung für meinen Kopf gibt es nicht. Jule ist nicht hier. Ich bin mir sicher, dass es ihr gut geht, auch wenn das Gefühl des Vermissens unerträglich ist. Ich brauche sie. Ich will sie endlich wiedersehen. Nicht im Traum. Nicht tot in meinen Armen. Sondern hier, in der Realität. Vor mir, in Fleisch und Blute.

Und dann ..  habe ich nicht einmal Herzländer Edelblüter sehen können.





RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 07.10.2020


XIV – Weissenstein

25.02.1352

Der nächste Tag auf Deyns Welt empfing mich mit dem leichten Kitzeln der hereinschleichenden Sonnenstrahlen auf meiner Nase. Seitdem ich Neu Corethon verlassen habe, schlafe ich wann immer die Zeit es zulässt. Ich wache erst dann auf, wenn ich aus dem Schlaf gerissen werde oder mein Körper endlich zu ausreichend Ruhe gefunden habe. Eigentlich ist es ungebührlich für eine Sôlanerin. Anstelle des Morgen-, manchmal gar des Mittagsgebets, liege ich auf gepolsterten Federbetten oder in meiner Hängematte. Deyn vergelts, hm? Sei mir wenigstens der Schlaf für all die Strapazen gegönnt? Ich weiß nicht, was weiß ich überhaupt?

Die Antwort auf meine Frage ist: Leider viel zu wenig. Ich kann nicht einmal ausmachen, was mein werter Orden derzeit treibt. Als nächsten Empfangsort für Briefe haben wir Zandig ausgemacht, dabei habe ich noch nicht einmal in Weissenstein mein Ziel erreicht. Ich scheue mich ein wenig davor weiterzumachen, wo ich doch weiß, was passiert ist und ahne, was passieren wird. Irgendein schreckliches Schicksal reißt sie alle in den Abgrund; und unweigerlich irgendwann sicherlich auch mich. Wahrlich, das kann kein guter oder erfüllender Antrieb sein. Immer im Wissen, dass das Ende noch viel schrecklicher sein mag, als alles zuvor.

Aber auf der anderen Seite steht das Wissen darüber, dass ich nicht aufhören darf. Eine Niederlage wäre fataler, als jeder Ausgang eines Sieges. Das Licht Sôlerbens muss weitergetragen werden, darf niemals erlöschen. In dem Moment, in dem die heilige Flamme nicht mehr lodert, vergeht das Leben auf Athalon. Die Menschen dieser Welt legen ihre Hoffnung und Zukunft in Deyns wohlige Hände; und Deyns Diener auf dieser Welt müssen sich um eben diese Menschen kümmern.

Damit war es Zeit für mich nicht weiter zu grübeln, sondern mich in mein Gewand und dann meine Rüstung zu werfen. Ich verließ die kleine Taverne über die hölzerne Fronttür und folgte den Straßenzügen in Richtung der Akademie von Weissenstein. Auf dem Weg tauschte ich einige Silberlinge gegen zwei Äpfel und ein Stück trockenes Gebäck, sie würden mir als Frühstück dienen. Nunmehr kauend bog ich auf die zentraleren Straßen ab, nur um schon aus der Ferne einer Verlautbarung lauschen zu müssen. Keine einhundert Meter vor mir führten meine Ordensbrüder eine gefesslte Frau in der Kluft der Weissensteiner über die weite Straße. In meine Richtung.

Angeführt wurde der Marschzug von einem Marschall der Sôlaner, der stets im selben genervten Tonfall eine Verlautbarung verlas. "Die Magiebefähigte Dorothea Alten wurde dem Orden des Heiligen Sôlerben und der Akademie von Weissenstein der Silvanischen Kirche vor wenigen Monaten ausgeliefert. Ihre starken Begabungen zur Bändigung magischer Kräfte nutzte sie in der Akademie von Schwarzwasser zur Erlangung eigener Vorteile. Sie missachtete das Wohl des Volkes und setzte sich nicht für die geforderten Forschungen zum Erhalt ihres Lebens ein. Als Kind Skrettjahs, als Ausgeburt des Mannsweibes wurde ihr nach ihren Verfehlungen gegen die deyngewollte Ordnung eine weitere Möglichkeit des Lebens offenbart.

Doch auch hier wandte sich die Magiebefähigte von den Lehren des einzig wahren Deyn Cadors ab. Sie verschmähte den Glauben dieses wunderbaren Landes, seiner edlen Bürger und wandte sich von den Lehren und Regeln der Akademie ab.

Für die Verfehlungen der Magiebefähigten gibt es nur noch eine Strafe, um euch, Bürger Weissensteins und ganz Tasperins, ja der ganzen Welt, vor ihren heidnischen, ketzerischen und falschen Taten zu bewahren – den Tod.

Der Orden des Heiligen Sôlerben wird sie dem gerechten und erlösenden Feuertod zuführen. Zum Wohle aller."

Ich lauschte seinen Worten erst mit ein wenig Argwohn, dann aber mit immer mehr Interesse. Ich war mir selbst nicht bewusst, dass Verfehlungen aus Schwarzwasser auch in Weissenstein enden können. Wer als Magier unbelehrbar seine verbliebenen Möglichkeiten beiseite wirft, sich von Deyn abwendet, dem droht nur noch ein Schicksal. Ein Schicksal, das jedes Kind in den Lesungen der Kirche bereits im jungen Alter eingebläut, wenn nicht gar vorgeführt, bekommt. Ab und an bewundere ich sogar wie geduldsam die Tasperiner verfahren. In Patrien gab es auch nur ein Strafmaß, sobald die magische Befähigung gefunden wurde. Aber keine zweite Chance, keine Akademien, nur die direkte Urteilsvollstreckung. Die Saat des Mannsweibes ruht in Magiern, und allzu oft ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie ausbricht und den Wirten verdirbt.

Es klingt so einfach und nachvollziehbar, nicht? Aber die echte Welt ist oftmals viel komplexer, wesentlich vielschichtiger und unglaublich komplizierter. Vielleicht hat Tasperin genau dies als erste Nation erkannt. Wenn es immer nur schwarz und weiß gäbe, könnten wir Athalon schnell in ein schillerndes Weiß Deyns tauchen. Auf der anderen Seite – gehüllt in tiefes Schwarz - bleiben die unvergessenen Massaker der Magier, verübt durch die besonders verdorbenen Exemplare. Nichts bleibt den Menschen so sehr im Kopf, wie die grundlose Vernichtung ihrer Angehörigen entgegen des Willen Deyn Cadors. Seien es die blinde Zerstörungswut im Inferno von Perwich oder dem Bischoffeldener Steinpfähler. Sie sind unvergessen. Ein Argwohn, eine Angst, die über Jahrhunderte bestehen bleiben wird. Ein Athalon ohne Magie, ohne Menschen mit Kräften, vor denen wir uns fürchten müssten – das wäre doch nahezu traumhaft, nicht wahr?

Während ich mir meine letzten Gedanken machte und auch den zweiten Apfel vertilgte, kam ich kurze Zeit später am prächtigen Haupttor Weissensteins an. Dank meines Passierscheins vom vorherigen Tage kam ich ohne weitere Nachfragen in das Gebäude hinein. Ich hatte mir keine wirkliche Taktik für meine Verhandlung überlegt. Ich stand schließlich einem verlorenen und von seinen eigenen Kameraden gehänseltem Schüler Weissensteins gegenüber. Spätestens seit der letzten Ausgabe des Codex Ars Magicka hatte man als Ordensmitglied in dieser Stadt ohnehin größte Narrenfreiheit gegenüber Akademiemitgliedern.

Ich durchkämmte den Schlafsaal, in dem ich ihn tags zuvor gefunden hatte, stieß aber leider nicht auf Drevin Cray. Danach schritt ich suchend über die zahllosen Gänge und überprüfte die Innenhöfe. Beinahe dachte ich, dass ich ihn am Ende eines Ganges gesehen hatte, nur um dann vor einer von Innen verschlossenen Tür zu stehen. Allzu viele Blondschöpfe mit lediertem Gesicht konnte es doch in diesem Teil Tasperins nicht geben. War er es wirklich gewesen und durfte gerade eine Stunde in "Deynistischen Ritualen" wahrnehmen? Er hätte es vermutlich, als "über sich ergehen lassen" beschrieben, aber mit solchen Worten würde er der nächste Kandidat sein, der die Straße hinabgeführt wird. Hoffentlich konnte er sich noch ein wenig länger zurückhalten. Noch jemanden wie eine Fliege vor meinen Augen sterben zu sehen, konnte ich wirklich nicht gebrauchen.

Franz Gerber, was willst du mir sagen? Oder .. bist du es überhaupt?

Während ich vor der massiven Buchenholztür des Lehrsaales mit ihren eisernen Beschlägen wartete, versank ich in Gedanken. Ich ließ die lezten Wochen und Tage, vor allem aber meine vergangenen Begegnungen Revue passieren. Mir schossen hunderte, wenn nicht tausende Möglichkeiten durch den Kopf. So viele Beteiligte waren bereits gestorben, haben ihren Platz auf dieser Welt verloren. Dabei habe ich bisher nur so wenige Menschen gefunden.

Mit einem seichten Rütteln an meiner Schulterplatte wurde ich aus meinem Gedankenspiel gerissen. Ich zuckte nicht nur innerlich zusammen, sondern wich gleich einen Schritt zurück und hob meine rechte Hand abwehrend vor mich. Begrüßt wurde ich aber nur durch ein freundliches Lachen eines in die Robe der Silvanischen Kirche gekleideten Priesters.

"Ihr seht mir aber nicht aus, wie einer der Wächter unserer Schüler, wertes Mitglied der Solaner."
Sein junges, nahezu von keinen Falten geprägtes Gesicht passte zu seiner sanften, wenngleich ausgesprochen gut betonenden Stimme. Ich hörte einen leichten Tasperiner Dialekt aus der Stimme des wohlgebräunten Mannes heraus. Er musste aus dem Süden Tasperins stammen, Linnigh? Nein, vielleicht eher Weitenfeld?

Ich nickte ihm zu, nahm wieder eine entspanntere Haltung ein. Vielleicht hatte er ja noch ein oder zwei Informationen über unseren werten Drevin?
"Verzeiht bitte, ich habe nur ein wenig nachgedacht. Keinesfalls wollte ich solchen Argwohn an den Tag legen. Ich gehöre tatsächlich nicht zur hiesigen Wache, ich suche nur Drevin Cray. Er ist Novize oder dergleichen. Ich benötige nur eine kleine Unterredung mit ihm."

Der junge Priester schmunzelte, bereits als Drevins Name fiel.
"Novize Cray, ja. Er ist durchaus .. bekannt in unseren Reihen. Vor allem für sein oftmals unflätiges Verhalten und seinen Wunsch nicht den Rest seines Lebens an diesem Ort zu bleiben. Wir und er auch selbst wissen jedoch, dass es keinen Ausweg gibt. Novize Cray sollte tatsächlich derzeit in einer Vorlesung in diesem Saal sein, zum dritten Mal, wie ich befürchte."

"Cray hat keinen besonders guten Stand unter den Schülern, oder? Ich vernahm, wie sie ihn vorführten."

"Vorführen ist noch eine starke Untertreibung, werte Dame. Es gibt in jedem Schlafsaal, in jedem Jahrgang eine Person an der sie ihren Stress auslassen. Den sie auswählen, ausgrenzen und beleidigen. Sie wollen sich überlegen fühlen, denn wer einmal Magier einer Akademie ist, befindet sich ganz unten." Er rümpfte die Nase, fuhr dann aber mit seinen Ausführungen fort. "Dort, wo Magier eben einmal hingehören. Aber selbst hier gibt es eine strenge Hierarchie. Und wann immer sie eine schwache Seele entdecken, lassen sie sich aus. Novize Cray ist persönlich anstrengend und seine Fähigkeiten helfen ihm in dieser Einrichtung nicht wirklich. Ein geeigneter Kandidat für die Gruppe, wenn ihr mich fragt."

Ich musste mir ein wenig auf die Lippen beißen. Überall gibt es neben der offiziellen Hierarchie eine inoffizielle Rangfolge. Aber aus den Worten dieses Priesters konnte man durchaus entnehmen, dass es gewollt sei. Die Schüler sollen einen aus ihrer Mitte exkludieren, ihn als Objekt ihres Hasses fokussieren und sich an ihm auslassen. Werden sie so im Zaum gehalten oder ist es nur das aufblühende Wesen Skrettjahs in ihnen, dass sich so befriedigt? Mir kam und kommt noch immer beides falsch vor. Das hier ist schließlich die Akademie von Weissenstein, eine Institution der Kirche. Der Kirche Deyn Cadors. Sollte nicht gerade hier die Ordnung vorherrschen und jede falsche Tat unterdrückt und sanktioniert werden? Ich kam nicht umher den Priester wegen dieses Umstandes ein wenig auf den Zahn zu fühlen.

"Ihr befürwortet also die Aufopferung eines Akademiemitglieds zur Freude des Rests?" Mein Ton war sicherlich ein wenig abfällig, vielleicht auch eher verwirrt. Mit einem abwiegelnden Lächeln beantwortete mein Gegenüber jedoch meine Frage in aller Ausführlichkeit.

"Seid unbesorgt, wir schreiten natürlich ein, wenn es um das Leib und Wohl des betroffenen Mitglieds geht. Wir befinden uns hier aber in einem Hort des Unheils. Der Rest der Gesellschaft -  der von der Bevölkerung verschmäht wird, der von den Sorridianer direkt verbrannt und vom Kaiser ausgenutzt wird – hier ist er. Ich erwähnte doch bereits, dass jede Person, die einmal in diese Hallen verwiesen wird, nicht mehr herauskommt. Ohne jemanden, der noch tiefer gesunken ist, halten sie es nicht lange aus. Novize Cray ist durchaus stark im Kopf, er wird es schon durchstehen.

Setzt ihm nur keine Flausen in den Schädel, wenn ihr gleich mit ihm sprecht. Die Stunde sollte gleich vorbei sein. Habt noch einen angenehmen Tag in diesen Hallen, werte Dame."

Mit einem Schwenk der Hand ließ er seine Taschenuhr, die er zuvor unauffällig herausgeholt hatte, wieder verschwinden. Erst wollte ich mich auch verabschieden, doch wären meine Worte nur unter dem lauten Knarzen der aufgehenden Tür untergegangen. Ich wendete meinen Blick in den Saal und erspähte sogleich den einsam sitzenden Drevin. Als ich dem Gang noch einmal meine Aufmerksamkeit schenkte, war mein Gesprächspartner bereits in einem der aneinandergereihten Zimmer verschwunden.

Drevin blieb zunächst abwartend sitzen, bis der Rest seiner Klassenkameraden den Lehrsaal verlassen hatte. Einige warfen ihm noch den ein oder anderen vielsagenden Blick zu, beließen es aber dabei, als sie bemerkten, dass ich vor der Tür stand. Die ordnungsschaffende Sonne des Sôlerben. Sie stellt das letzte Urteil in diesen Gebäuden der Akademie dar.
Mit einem trotzigen Blick und einem neuen Kratzer auf der rechten Wange kam er mir schließlich entgegen. Drevin Cray hob seine Hand begrüßend an und zeigte mir, dass ich ihm folgen solle. Er wollte an einen ruhigeren Ort, wo wir unsere kleine Diskussion halten könnten.

Um drei Ecken und (weitere) zwei lange Gänge entlang folgte ich ihm, bis wir bei lauter kleinen Studier- und Schreibzimmern ankamen. Zielsicher öffnete er eine der sperrigen Türen und ließ sich direkt auf dem Stuhl nieder. Ich trat hinter ihm ein und drückte die Tür mit meinem Fuß ins Schloss. Mit einem tiefen Atemzug fokussierte er mich, ließ ein leichtes Lächeln durchblitzen und .. zwinkerte mir zu. Ich war mir unsicher, was das nun wieder bedeutet hatte. Mit verschränkten Armen eröffnete ich die erste Verhandlungsrunde.

"Du wolltest verhandeln, Drevin Cray. Dann lass mich hören, was du zu bieten hast und dafür verlangst."

Sein Lächeln verwandelte sich schneller, als ich es für möglich gehalten hatte, in ein triumphierendes Grinsen. Seine gelben Zähne blitzten aus dem Mund hervor und mit herausgestreckter Brust offenbarte er mir, dass ich auch mit diesem Besuch rechtbehalten hatte.
"Ganz recht, ganz recht. Wie ihr gestern bereits richtig erahnt habt, habe ich einen Gegenstand. Da ich außer meinen widerwärtigen Roben und meinen drei Tellern kaum mehr Besitz habe, kann es nur ein Objekt in meiner ausgeprägten Sammlung sein. Ihr seid damit hinter meinem wertvollsten Besitz her."

"Drevin, was genau hast du gefunden?" Ich holte tief Luft. Ich wollte eine ehrliche Antwort. Es würde mir einen Vorteil verschaffen, wenn ich seiner Forderung nicht nachkommen könnte. Oder wollte. Wissen bleibt nun einmal oftmals der entscheidende Faktor. Es wäre zwar nicht meine Art, aber dann könnte ich ihm seinen Gegenstand im Zweifelsfall auch ohne sein Einverständnis abnehmen.

"Gefunden? Nein, nein, nein! Ich habe erschaffen! Etwas Bleibendes erschaffen! Nicht, wie bei meinen jämmerlichen Versuchen irgendeinen Klumpen Matsch und Schlamm, der gleich wieder wie meine Zukunft zerfließt. Einen waschechten Armreif. Vielleicht nicht mehr ganz schön, aber immernoch wertvoller und besser, als alles, was diese anderen Amateure erschaffen haben. Nennt mich auch Meistermagier Cray. Die Schmelzspuren am Armreif kriege ich noch irgendwie weg, das kommt im nächsten Akt!"
Er nickte mir zu. Überzeugt. Überheblich überzeugt. Sein weiterhin unverschämtes Grinsen verschwand nicht im Geringsten. Aber da war es – er hat einen Armreif erhalten. Es musste Franz' Armreif gewesen sein, der Drevin während einer seiner Übungen erschien. Was für Drevin ein merkwürdiger Erfolg seiner Magie gewesen war, ist für mich das nächste Stück eines unfertigen Puzzles. Eines Rätsels so tiefgehend, dass ich noch kein Stück dahintergestiegen bin.

"Drevin Cray, ich habe Interesse an deinem Armreif. Genauer gesagt werde ich ihn bekommen. Ich biete dir nur an mitzuentscheiden auf welche Art und Weise. Wir wissen beide, dass er nicht in deiner Truhe liegen wird. Ich habe nur weder Lust noch Zeit es aus dir herauzuquetschen. Daher teile mir doch bitte mit, was du als Gegenleistung erhalten willst."

Ich erwähnte bereits sein unablässiges triumphierendes Grinsen? Ich nehme diese Beschreibung zurück. Erst nach meinen letzten Worten verdient sein Grinsen das Wort triumphierend. Zuvor war es wohl eher gefällig oder erwartend? Nein, seine gespitzten und bis zu den Ohren hochgezogenen Mundwinkel machten es mehr als deutlich. Er führte etwas im Schilde. Drevin erwartete etwas von mir. Etwas, das mir nicht gefallen würde. Und am Ende hätte ich nicht viel mehr Möglichkeiten, als es aus ihm herauszuprügeln oder seinen kleinen Wunsch zu erfüllen.

Er erhob seine Stimme, fast so, als wollte er, dass mir seine Worte in den Ohren klingelten oder im Gedächtnis bleiben.
"Ich mache euch ein unschlagbares Angebot, große Solanerin! Meinen Armreif, erschaffen durch meine Magie gegen einen kleinen Gefallen! Ihr habt doch diesen großen, stämmigen Novizen in meinen Schlafsaal gesehen? Sicher habt ihr das, er ist schließlich bald drei Köpfe größer als ich. Und damit auch wesentlich größer, als ihr es seid."
Drevin streckte seinen Zeigefinger aus und deutete direkt auf meine Brustplatte, als sei er ein gewiefter Feldherr oder genialer Stratege, der endlich seine Chance erkannt hatte. Ich vermute allerdings, dass nicht nur mir seine Intention bereits ab diesem Punkt bekannt gewesen sein musste.
"Ich habe zwar einige Differenzen mit den meisten Novizen, aber er .. ER treibt alles auf die Spitze. Versohlt ihm den Hintern, gebt ihm eine ordentliche Abreibung. Sorgt bitte nur dafür, dass er mich endlich in Ruhe lässt."

"Und dafür bekomme ich den Armreif?"

Drevins markantes Grinsen verschwand von seinem Gesicht, er nickte mir zu. Fast schon flehend. Es schien so, als würde dieser Hüne mehr als nur Stress an Drevin auslassen. Nur ... eins verstand ich noch nicht.

"Warum bittest du nicht die Silvanische Kirche um Hilfe? Deine ständigen Wunden können sie kaum übersehen, irgendwann müssen sie doch etwas tun."

Drevin seufzte aus, zog danach wieder einen Atemzug scharf ein. Er legte seine Unterarme auf den Oberschenkeln ab und sprach mit gesenktem Kopf zu mir.
"Wenn es so einfach wäre. Sie tun etwas, zumindest haben sie das einmal. Zuerst konnte ich eine ganze Woche nicht mehr gehen, dann noch viel länger nichts mehr Essen. Aber danach fängt er wieder an, ganz ohne Konsequenz. Und wie soll ich es beweisen? In dieser Gruppe schützt sich jeder nur selbst, wir Magier sind Egoisten. Gemeinschaft braucht keiner, wozu auch. Am Ende teilen wir nur unser erbärmliches Schicksal."

"Drevin Cray, wie stellst du dir deine kleine Rache vor? Du wirst dir sicher über Nacht einen Plan ausgedacht haben, hm?".

Er nickte wieder, immernoch mit dem zum Boden gesenkten Kopf. Seine Stimme klang ein wenig resigniert, wenngleich doch irgendwo hoffnungsvoll.
"Natürlich habe ich das. Einen wasserdichten, genialen Plan habe ich mir ausgedacht. Ihr müsst nur am Abend, vor der Schlafenszeit, vor dem Saal warten. Uns Novizen werden nachts meist keine Wachen zur Seite gestellt, daher ist niemand da, der uns helfen kann. Nachdem die Lichter erloschen sind, wird er sicher wieder zu mir kommen. Meine Schreie verstummen an den massiven Wänden und dicken Türen. Aber wenn ihr dahintersteht und meine Rufe "zufällig" hört, könnt ihr ihm einige verpassen. Er wird sich nicht wehren, denn das bedeutet seinen Tod.

Ein wasserdichter Plan, finde ich. Ihr habt nichts zu verlieren. Rein gar nichts. Und gewinnt diesen Armreif, den ihr so dringend haben wollt. Wofür eigentlich? Wie kamt ihr auf den Trichter, dass ich das gute Stück überhaupt erschaffen habe?"

Ich musste überlegen. Ich konnte seinem Plan noch nicht direkt zustimmen. Auf der anderen Seite war Drevin einst einer von uns. Er hat viel durchgemacht, ebenso viel, wie wir restlichen Solaner. Ich könnte ihm mitnichten die Wahrheit sagen, die ich ja selbst noch nicht verstand. Aber wenigstens etwas? Wer würde ihm schon glauben und .. wer weiß, wie lange er noch auf Athalon verweilen dürfte.

"Wegen deines Planes kehre ich später zurück, ich .. kann dir noch nicht zusagen. Du erhältst aber noch am heutigen Tage, bevor die Sonne untergeht, eine Antwort.
In jedem Fall bist du aber nicht allein. Du hast diesen Armreif nicht erschaffen. Er wurde dir gebracht? Oder sagen wir eher .. übersandt. Du bist nicht allein. Viele alte Wegbegleiter haben solch einen Gegenstand erhalten. Und wer auch immer der Absender wirklich ist, es dreht sich hier alles um Franz Gerber. Seine Taten, seine Vergangenheit und den Ort, an welchen er auch immer jetzt sein mag."

Ich war mir auch danach noch unschlüssig, ob ich ihm hätte soviel sagen sollen. Dennoch, auch ein Magier hat das Recht auf ein Fünkchen Wahrheit. Denn auch er war einst eine Seele an Deyns Seite.

Er blieb genau so ahnungslos auf seinem Stuhl sitzen, wie ich es einst war, als ich Neu Corethon verließ. Die Teile fügen sich nur langsam und lose zusammen, für manche von uns auch gar nicht. Drevin Cray jedenfalls war ein isoliertes und einsames Teilchen. Er hatte nur eine Stelle, an die er passen würde. Doch auch diese Stelle muss gefüllt werden.

Und so verließ ich ihn für den Moment, schloss die Tür hinter dem still mit sich ringendem Weissenstein-Magier und zog mich über die langen Gänge und weitläufigen Gebäude der Magierakademie auf dem selben Weg zurück, auf dem ich hineingekommen war. Ich brauchte Luft. Zeit zum Denken. Und eine kleine Mahlzeit würde mir sicher auch nicht schaden. Selbst wenn ich Drevins Vorschlag zustimmte, wollte ich nicht den ganzen Tag an diesem unheilvollen Ort verbringen und in Ungewissheit warten.

Schlendernd folgte ich gedankenverloren den Straßenzügen und Häuserblocks. Ich konnte Drevin gut verstehen, er wollte Rache für die Hänseleien und Verspottungen. Sein ohnehin schwieriges Leben wurde ihm dadurch noch mehr zur Tortur gemacht. Er hat sich nie für diesen Weg entschieden. Er ist nicht aus eigenem Antrieb dem Leben Skrettjahs verfallen, hat sich gar selbst Weissenstein – bewusst aller Konsequenzen – angeschlossen. Rechtfertigt das eine mildere Behandlung eines Magiers? Schließlich ist doch seine Seele hinabgefallen. Dort hin, tief an die Klippe des Fegefeuers. An der Grenze zum ewigen Leid steht er nun, in der Hoffnung, dass er doch noch Rettung erfährt. Wie eine welkende Blume in größter Not.

Kann Rettung durch Rache erzielt werden? Nein, kann sie nicht. Wird sie nie. Deyns ewige Güte lässt keine Rache zu, sie erlaubt nur die eigene Vergeltung durch den Glauben und die Entscheidung der Heiligen. Wie sollen wir als Menschen jemals zur Ruhe finden, wenn wir uns in einem ewigen Kreislauf aus Rache verfangen? Auf der anderen Seite sind Drevins Gefühle so nachvollziehbar. Kann man Güte walten lassen, wenn man jeden Tag nur leidet? Es ist freilich keine einfache Abwägung, die ich hier treffen muss.

Und doch dreht sich wieder alles um mich. Um die Frage, ob es richtig ist, Gewalt anzuwenden, obwohl keine Notwendigkeit besteht? Wieder einmal handeln diese Seiten nur von der bloßen Möglichkeit jemanden blutig zu schlagen, um meine Reise fortsetzen und meine Aufgabe erfüllen zu können. Es geht letztlich um meine Faust für meinen Erfolg. Und damit auch um den Erfolg der Ordnung, um das Strahlen von Sôlerbens unablässigen, grellen und welterfüllendem Licht. Einer Quelle, die niemals versiegen darf und immer gestärkt werden muss.

Es erscheint wiedermal so simpel. Natürlich wäre meine Tat gerechtfertigt, alleine auch, um Drevin zu schützen. Selbst wenn mir nichts an ihm liegt. Selbst wenn ich seinesgleichen verschmähe. Weil Magier keine Daseinsberechtigung auf dieser Welt haben. Gerade weil sie nicht auf dieser Welt verbleiben dürfen. Und dann .. will ich doch nicht? Hält mich meine Vergangenheit oder mein Gewissen auf?

Ich konnte mir meine Fragen selbst nicht beantworten, aber .. ich bin froh, dass ich überhaupt noch ein Gewissen habe. Es wird auf dieser Welt schließlich immer seltener.

Als ich nach meine Spaziergang zur Mittagsstunde wieder in meiner Taverne war, besorgte ich mir beim Wirten eine leichte Mahlzeit. Er schien nicht wirklich gesprächig zu sein, sondern grummelte mir nur die Speisekarte vor und stellte mir letztlich eine halbfettige Hasenkeule zu einer Gemüsesuppe auf den Tresen. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, stieg ich die Stufen hinauf. Auf der obersten Stufe angekommen, rief er mir noch etwas hinterher: Besuch auf dem Zimmer.

Besuch?
Es konnte nur eine Person auf der ganzen, weiten Welt geben, die mich hier finden konnte. Nur eine Person, von der ich mir gewünscht hatte, dass sie hier aufkreuzt.

Ich spürte meinen Puls im Hals ansteigen. Meine Hände begannen zu zittern und beinahe hätte ich einen Schwenk der wohlriechenden Suppe über dem Boden verteilt. Eiligst trat ich über den knarzenden Holzboden bis zu meiner angelehnten Zimmertür. Im Inneren erkannte ich das Flackern einer stärker werdenden Kerze. Mit einem leichten Schubser stieß ich die Tür, in den Raum hinein, auf. Ich konnte es nicht glauben. Und während ich mit einer Gemüsesuppe in der einen und einer Hasenkeule in der anderen Hand da stand, grinste mich das rotversprenkelte Gesicht Jule Marina Webers an. War das ein Traum? Ein Gespinst in meinem Kopf? Nein, da war sie. Da stand sie vor mir.

Ohne weitere Rücksicht auf meine Suppe stellte ich mein Mittagessen auf dem Tisch ab. Eigentlich ließ ich es achtlos fallen, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus. Nach all dieser Zeit! Wir fielen uns in die Arme, ohne das auch nur ein Wort gesprochen werden musste. Mein stärker schlagendes Herz beruhigte sich wieder, fand gar zu ungewöhnlicher Ruhe, als ich die vertraute Wärme vor mir spürte. Der wohlige Duft ihrer Haare stieg in meiner Nase auf. Bevor ich mich versah, wurde mein Essen kalt und unser Griff hatte sich noch immer nicht gelöst. Selbst die vergossenen Tränen auf unseren Wangen waren längst wieder getrocknet, als ich mich endlich neben ihr hinsetzen konnte. Ich spürte die Zufriedenheit in mir. Monate vergingen, in denen ich erst realisierte, wie viel mir doch an meinen Ordensmitgliedern lag. Wie sehr ich sie in mein oftmals kaltes, abwehrendes Herz geschlossen hatte. Wie sie diejenigen waren, die ich beschützen wollte – wobei sie stets auch auf mich Acht gaben.

Jeden Atemzug nahm ich nach meiner langen und oftmals einsamen Reise in mir auf, als wäre es mein Letzter. Ich wurde erfüllt, von Wärme und Zufriedenheit. Wir Menschen sind wirklich nicht für die Einsamkeit gemacht. Kein Wunder, dass wir uns zusammenschließen und beieinander sein sollen. Aber all diese Ungewissheit und Qual wäre nun erstmal gemildert, wenn nicht gar vorbei. Deyn sei gesegnet. Möge Sôlerbens Licht auf uns herabscheinen.

Endlich, nach all dieser Zeit der schmerzlichen Trennung, konnten wir einander von unseren abenteuerlichen Wegen berichten. Jule ließ vor allem mich reden und lauschte aufmerksam nickend, mit einem unendlichen Lächeln auf den Lippen. Endlos flossen die Worte wie ein Strom aus meinem Mund und berichteten ihr die Erlebnisse der vorangegangenen Seiten und von allem, was zwischen den Zeilen passierte. Ich war wirklich froh. Froh, dass ich endlich einmal mehr als dieses Buch hatte, um zu berichten und zu durchdenken. Froh nicht mehr allein mit Yuki zu sein. Froh mir und meinen Gefühlen endlich wieder freien Lauf lassen zu können. Überfroh Jule hierzuhaben. Deyn, dir sei mehr als gedankt für diese Zusammenkunft.

Ich kann nicht anders, als hier ein Gebet niederzuschreiben. Einen Dank an Deyn und Solerben, an alle Heiligen und diese Welt.


Deyn Cador, du ewiger Herr und Hirte, ich danke Dir für Deine unzähligen Gnaden und Wohltaten.
Möge jeder Schlag meines Herzens ein neues Dankeslied für Dich sein, großer Deyn Cador.
Jeden Tropfen meines Blutes soll für Dich kreisen, Herr; meine Seele ist ein einziges Loblied deiner Barmherzigkeit.

Ich danke Dir für unsere Zusammenkunft. Ich danke ^Dir für unsere Gemeinsamkeit. Ich danke Dir für unser Allereins.

Heiliger Sôlerben, Du Behüter des Himmels und der Ordnung, ich danke Dir für Deine unzähligen Gnaden und Wohltaten.
Wie auch heute hast Du uns wieder zusammengebracht, an diesem Ort des Lebens. Nur dank Dir führen unsere Pfade entlang des rechten Weges. Gemeinsam und behütet von Deiner Barmherzigkeit.

Oh Deyn Cador, sie alle rufen mit der gewaltigen Stimme ihrer Not.
Gütiger Deyn Cador, verschmähe auch nicht das Gebet der Verbannten dieser Welt.
Oh Deyn Cador, in Deiner unbegreiflichen Güte, Du kennst unser Elend ganz und gar und weißt, dass wir nicht imstande sind, aus eigener Kraft zu Deiner Ordnung zu finden.
Deshalb bitten wir Dich, komme uns mit Deiner Güte und Ordnung zuvor und vervielfache stets Deine Barmherzigkeit in uns, damit wir Deinen heiligen Willen treu erfüllen im ganzen Leben und in der Stunde des Todes.

Deyn Cador, Du ewiger Herr und Hirte, ich danke Dir für Deine unzähligen Hilfen und Wunder.
Bringe uns Gläubige unter Deinem Antlitz zusammen, auf das wir Deine Aufgaben erfüllen und Deinem Wohle zu unserem Wohle dienen dürfen.

Ich danke Dir für unsere Zusammenkunft. Ich danke Dir für unsere Gemeinsamkeit. Ich danke Dir für unser Allereins.

Amen.


Ich konnte es nicht lassen und schüttete ihr weiter mein Herz aus. Ich berichtete ihr in aller Ausführlichkeit von dem Dilemma, in dem ich gerade steckte. Soll ich einem Magier, der mit seiner eigenen Existenz überfordert ist, helfen um an mein Ziel zu kommen? Oder soll ich ihm mein Objekt der Begierde einfach abnehmen, gerade weil er Magier ist und mir egal sein könnte?

Vielleicht war es egoistisch nur meine eigenen Probleme vorzuschieben und nicht ihren ganz eigenen Konflikten zuzuhören. Nein, es war egoistisch. Und doch das einzig Richtige in dieser Situation. Die Zeit bleibt schließlich unser Gegner, immer und unaufhaltsam. Jule verstand es jedenfalls mich mit wenigen Worten wieder auf den rechten Pfad zu führen.

"Amélie, tu das, was du für richtig hältst und schon dein ganzes Leben getan hast. Wir sind damals doch auch nicht auf die Himmelskuh gestiegen, um es allen Recht zu machen." Dazu gab es ein aufheiterndes Lächeln. Diese Welt ist so oft schon beinahe in den Abgrund gestürzt und sonst verstand ich mich auch gut darin, mir nicht die Menschheit zu Freunden zu machen. Wer sein Ziel erreichen will, muss Opfer bringen. Der Pfad der Ordnung steht so offensichtlich vor mir, wie kaum zuvor.

"Ich bleibe hier, du schaffst das schon allein. Ich will mich lieber noch ein wenig ausruhen, denn das war sicher nicht das Ende deiner Reise, Amélie. Geh nur, ich besorge uns derweil etwas, was dir gefallen wird!" Sie verabschiedete mich mit einem Grinsen auf den Lippen.

Ich zog die Holztür heran, ließ das Schloss in die Angeln fallen und machte mich dann wieder auf zur Akademie von Weissenstein. Die Sonne wanderte gerade gen Horizont hinab, als ich an der Pforte ankam und nach Drevin Ausschau hielt. Auf einer steinernen Seitenbank saß er mit grimmigem Blick und wackelnden Beinen. Er schien bereits seit geraumer Zeit auf meine Antwort zu warten.

"Ihr habt euch ja ganz schön Zeit gelassen! Aber ich bins ja nur!" entgegnete er mir patzig. Ich strafte ihn mit einem sanften Lächeln und einem darauffolgenden Nicken ab, womit er auch gleichzeitig seine Antwort erhalten hatte. Erfreut sprang er sogleich auf und lief die Gänge mit einigem Vorsprung entlang, bis wir an seinem Schlafsaal ankamen. Es könnte wohl eine Weile dauern, weshalb ich mich auf einem der Holzstühle vor der Tür niederließ. Drevin machte mir aber deutlich, dass wir sein Kapitel meiner Reise heute Nacht beenden werden.

Vergessen wir aber nicht: Jule ist endlich da! ENDLICH! Ich habe lang gewartet und dann steht sie da! Einfach so. In meinem Zimmer. Ich hätte gerne mehr Zeit und Zeilen gehabt, um meiner Freude Ausdruck zu verleihen. Aber manchmal kann man die Realität nicht ändern und muss sie hinnehmen, wie sie ist. Wir werden noch einen langen Ritt vor uns haben, wenn wir diese Stadt verlassen. Dann haben wir Zeit. Zeit für uns und mehr als das Geplänkel über meine Aufgabe, unsere Mission oder den Stand der Dinge. Wir könnten endlich über unseren Orden auf Neu Corethon sprechen, uns überlegen, was wir alles machen wollten oder unsere Hoffnungen und Ängste miteinander teilen. Vielleicht wüsste sie ja, was in meinem Kopf vor sich geht. Vielleicht könnte sie mir helfen meine ewig andauernden und stets schlimmer werdenden Träume zu verstehen, damit ich ein bisschen Ordnung schaffen kann.

Vielleicht könnte sie mir aber auch einfach nur zuhören. Zu oft genügt es nicht allein zu sein und mit jemandem sprechen zu können. Gerade deshalb ist die Buße im Namen des Herrn ein so erlösender Moment. Wenn die eigenen Taten nicht mehr ausschließlich auf der eigenen Seele lasten, werden wir befreit. Wir können Erlösung, und manchmal auch Vergeltung, erfahren. Kein Wunder also, dass ich mit Drevin fühlen konnte. Auch er war hier allein und konnte niemandem sein Leid mitteilen. Gemeinsam finden wir einfacher aus unseren Sünden, aus unseren Fehlern und unseren Bürden. Ohne meine treuen Kameraden hätte ich niemals die Kreuzzüge überstanden, das Ende der Welt oder all die anderen schrecklichen Prüfungen. Es sind so viele an der Zahl, dass ich sie kaum alle zu Papier bringen kann, ohne gleich ein Dutzend von ihnen zu vergessen.

Momentan mögen wir getrennter als jemals zuvor sein, doch wird uns der Segen Deyn Cadors hoffentlich eines Tages wieder vereinen. Damit Sôlerbens Licht scheint. Damit die Ordnung obsiegt. Und wir unser Seelenheil finden.

Hinter der neben mir liegenden Tür rumpelte es bereits gefährlich laut. Ich war schon dabei meine Hand in Richtung des Türgriffs auszustrecken, wartete aber dann doch noch einige Augenblicke ab. Er wollte mir ein eindeutiges Signal geben, einen Schrei nach Hilfe absetzen. Und eben dieser war noch nicht verklungen. Ich hoffte nur, dass sie ihm nicht den Mund zuhielten oder ihn gleich in die Bewusstlosigkeit geprügelt hatten. Sein Erzfeind in diesem Raum war tatsächlich ein ganz schöner Bär von Mann..

Es rumorte weiter lautstark neben mir. Zuerst konnte ich lautes Gemurmel vernehmen, dann das Knarzen von Holz und schlussendlich sogar das Aufschlagen von plumper Masse auf dem Boden. Angespannt sprang ich auf. Mein Herz beginn zu rasen. Ich war bereit in wenigen Sekunden bei Drevin zu sein. Nicht für seinen Schutz, so ehrlich muss ich sein. Es war für mich. Für mein Ziel, meine Aufgabe und mein Dasein. Drevin war ein weiteres Mittel zum Zweck. Ein schauderliches und ungebührliches Mittel, aber wie oft konnte ich nicht umkehren? Verdammt, ich habe schon weitaus schlimmere Dinge im Namen Sôlerbens verübt. Da ist es doch nicht viel verlangt einen rüpelhaften Magiernovizen zu verprügeln. Und es wäre an der Zeit ehrlicher zu mir selbst zu sein, diese vorgeschobenen Gewissenskämpfe loszulassen.

Meine Wahl hatte ich in diesem Augenblick getroffen. Ich würde auch hier tun, was eben nötig ist. Das bestmöglichste Ergebnis mit den geeignetesten oder mildesten Mitteln zu erzielen, klingt immer so leicht. Aber alleine in der Praxis vor der Ausführung zu stehen, birgt eine eigenartige Schwierigkeit. Verdammt, Amélie, lass dich nicht ablenken. Rein da.

Ich zog Luftstoß um Luftstoß scharf ein, bis ich endlich die Stimme Drevins durch die Tür vernahm.
"Hiiiilfeeeee".

Schauderhaftes Gelächter einer ganzen Gruppe von männlichen Magieranwärtern folgte seinem erbärmlichen Schrei. Sie grunzten wie die Tiere, wie ein Rudel Wölfe, die gerade ihr schwächstes Glied für seine Anwesenheit bestraften. Drevin jaulte in ihrer Mitte. Und ich drückte die Türklinke herunter.

Umgeben von seinen Anhängern stand der hünenhafte Anführer vor dem am Boden liegenden Drevin. Sein Gesicht wies schon einige Blessuren auf, er hielt sich beide Hände an der rechten Seite und versuchte nicht einmal mehr auszuweichen. Einige seiner Kumpanen zogen den großen Weissensteiner vergeblich zur Seite, einmal mehr erhob er seine Faust und ließ sie auf Drevin herabfahren. Mit einem dumpfen Schlag traf ihn die massige Hand mit voller Wucht in seiner kümmerlichen Position. Drevin Cray kämpfte um Luft, stöhnte auf vor Schmerz und zeigte dann mit wackeligem, aber erhobenem Finger auf mich.

Sein großer Schläger erkannte mich erst in diesem Moment. Er hob abwehrend die Hände und berichtete fast schon abgebrüht: "Cray hat mich provoziert! Hat meine Mutter beleidigt, mich dickes Schwein genannt! Das kann ich doch nicht auf mir Sitzen lassen." Seine Stimme wurde immer undeutlicher, fast schon weinerlich. Aber es lag kein Fünkchen Wahrheit oder Ehrlichkeit in ihr. Ich hoffte für Drevin, dass dieser ganze Aufstand es wert war.

Mich interessierten die Ausflüchte des Schlägers nicht im Geringsten. Sie mögen wahr gewesen sein. Sehr wahrscheinlich sogar waren sie das. Ein Zufall war dieses Schauspiel vor meinen Augen mit Sicherheit nicht. Jetzt war es aber an mir meinen Teil der Vereinbarung mit Drevin einzuhalten. Mit festen, klimpernden Schritten ging ich auf Drevins Widersacher zu. Ich war entschlossen. Und ich hoffte inständig, dass er nicht im Begriff war sich zu wehren. Wenn er wusste, wo sein Stolz aufhörte und sein Verstand begann, gingen wir hier alle mit ein paar Blessuren raus.
Als ich vor ihm ankam, flog meine erste Faust bereits in seine Magenkuhle. Mit grimmigem Blick kassierte er meinen Schlag, schnaufte zwar hörbar, machte aber keine Anstalt der Gegenwehr. Meine freie Hand knallte daraufhin gegen klatschend gegen seine linke Wange. Empört spuckte er einen Schwall widerlichen Speichels vor mir auf die Füße. Ich dachte wirklich nur daran, dass er hier nicht sein Ende finden muss. Geh zu Boden, zeige Schwäche und lass Drevin in Ruhe. Das wäre es gewesen. Wäre.

Auch nach einigen weiteren Schlägen gegen Gesicht oder Bauchraum stand der Hüne weiter vor mir. Seine Atmung wurde stärker, mein Herz fing an zu rasen. Nachdem ich ihm zwei weitere Schläge gegen den Unterkiefer verpasst hatte, fing seine linke Augenbraue an aufzuzucken. Nach einem dritten Haken hörte ich die ersten klimpernden Schritte hinter mir.

Ich wusste, dass ich ihn entweder zu Boden kriegen oder provozieren musste gegen mich vorzugehen, damit das hier Erfolg haben könnte. Verfluchte Sturköpfe. Fangt endlich an eure Schwächen einzugestehen. Manchmal, nein, fast immer, rettet das euer deynverdammtes Leben. Und nur dann würde Drevin auch in Zukunft in Ruhe gelassen werden. Natürlich würde dieser widerliche Magierschläger seine verdiente Strafe erhalten, aber ihm würde ein noch viel schlimmeres und endlicheres Schicksal erspart bleiben.

Ist es nicht auch ein Stück weit jämmerlich für eine Sôlanerin einen wehrlosen Magier zu verprügeln? Manch einer mag sagen, dass es genau meine Aufgabe ist. Aber so einfach ist es nicht, so einfach war es schon lange nicht mehr. Und hoffentlich wird es auch nicht mehr so leicht sein. Ich habe zu viel von dieser Welt gesehen und zuviel verstanden. Auf keine Frage gibt es eine einfache Antwort.

Und so konnte ich ihn nur mit einigen leise gemurmelten Worten aus der Reserve locken. Ich musste. Es ging hier schließlich um mich. Um meinen Erfolg in Deyns Namen.

Ich wusste, dass mein Kiefer gleich schmerzen würde. Aber damit würde ich meinen Teil der Abmachung erfüllen und hätte Franz Armreif. Dafür habe ich sein Schicksal besiegelt. Denn er hatte seine letzte Wahl getroffen. Ihm war sein Stolz wichtiger, als Schwäche zu zeigen. Immerhin eine Entscheidung, die er wissentlich und willentlich getroffen hat. So kann auch ich ein wenig besser schlafen.

Der Hüne stöhnte erzürnt auf und hob letztlich seine Faust. Mit einem Haken, der seinesgleichen sicher gesucht hat, schlug er mit gegen den rechten Teil meines Kiefers. Hinter seinem Schlag lag eine Wucht, die mich von den Beinen riss. Ein pulsierender Schmerz zog mir ins Gesicht, mein halbes Gesicht verkrampfte in einem Zustand des Schmerz. Deyn, dieser Mann hätte mit Leichtigkeit jede Kneipenschlägerei für sich entschieden. Es tat, und tut auch immer noch, höllisch weh.

Keuchend, überrascht und völlig umgeworfen kam ich auf dem Boden neben ihm zum Liegen. Die Schritte der eiligst herbeieilenden Solaner verwandelten sich in neben mir stehende Fußpaare, die Drevin und mich am Boden liegen ließen. Mit einem gezielten Schwung des Streitkolbens ließen sie  das Schienbein des Novizen splittern, sein Schicksal war gezählt.

Bereits am nächsten Tag wurde er auf derselben Straße zum Scheiterhaufen geführt, wie tags zuvor seine ehemalige Kameradin. Möge Deyn sich seiner Seele annehmen und er ein gerechtes letztes Urteil empfangen. Für seinen Haken hatte er es allemal verdient. Deyn bewahre, mein Kiefer schmerzt auch noch zwei Tage danach. Selbst nachdem ich eine Kräuterfrau aufgesucht und mir für teure Münze Eis zur Kühlung gekauft hatte.

Was allerdings Drevin angeht, werde ich sein aufblitzendes triumphierendes Grinsen am Boden seines Schlafsaals nie vergessen. Obwohl er in einer kleinen Pfütze seines eigenen Blutes lag, war er zufrieden. Fast schon höhnisch blickte er seinem Schläger hinterher. Ich hatte übertrieben, sicherlich. Das war weder das Ende, das ich mir gewünscht noch vorhergesehen hatte. Aber es entspricht der Ordnung dieser Welt. Und der Ordnung Deyn Cadors; alles andere ist egal.

Wir schienen in jedem Falle einen ziemlichen Aufruhr verursacht zu haben, den ich nicht noch weiter anheizen wollte. Erst als der Schläger aus dem Zimmer gebracht wurde, wollte man sich überhaupt Drevin und mir zuwenden. Ich nutzte allerdings die Gunst der Stunde und verließ die gefüllten Gänge der Akademie und suchte mir meinen Weg zurück zur Taverne. Natürlich nicht ohne das Drevin mir den angeschmolzenen Armreif Franz Gerbers zuwarf.  

Es war ohne jeglichen Zweifel einer der gesuchten Gegenstände. Er hatte dieselben Spuren, wie alle anderen Gegenstände zuvor auch. Ich hatte Erfolg. Einmal mehr war ich rechtzeitig, nachdem ich allzu oft zu spät kam. Nachdem ich durch die Stadt geeilt war, um in meinem Tavernenzimmer Unterschlupf zu suchen, fand ich nur eine schlafende Jule vor. Offenbar hatte sie meinen Anteil des Abendessens auch verspeist, aber ihr sei es vergönnt. Möglichst unauffällig legte ich mich mit meinem pulsierenden und schmerzendem Gesicht zu ihr ins Bett und ließ mich in meine Träume hinabgleiten.

Keine gute Idee.

Ich hatte gehofft, wenn ich neben meiner allzu vertrauten Jule einschlafe, wird es eine ruhige Nacht. Aber vielleicht war es gerade deswegen nicht der Fall. Nachdem ich binnen weniger Minuten in meine Träume verfallen bin, wachte ich in diesen umso ungemütlicher wieder auf. Mein Körper war gehüllt in schneeweiße Seide und all meine Narben waren von meinem Körper genommen. Es wirkte fast, als hätte ich ein ganz normales Leben gehabt. Eines, in dem ich nicht gegen die Gefahren der Welt ankämpfen muss. Eines, in welchem ich Deyn Cador auf ganz andere Weise gedient habe – unbefleckt und doch so sanft und schön.

Ich stand unbestritten vor der Pforte des Himmelsreichs. Gebettet in das ewige Weiß der Ordnung strahlte in der Ferne die ewige Glückseeligkeit. Doch hatte ich die größte Hürde, wie all die anderen Seelen, um mich herum, noch vor mir. Hier ging es nicht um mich, nein. Sondern um eine meiner Taten. Um das, was ich just getan hatte.

Die riesige Schlucht Dysmar des Heiligen Renbold erhob sich zu meinen Füßen. Tief herab, im Spalt wankte die ewige Dunkelheit des Fegefeuers. Ein jeder, der hier hinabfällt und nicht in das Reich Deyn Cadors eingelassen wird, wird leiden. Auf Ewig. Nur wer reinen Herzens ist und sich der Ordnung, entgegen des Chaos, verdient gemacht hat, wird eingelassen. Nur, wer ausreichend Buße für seine weltlichen Verfehlungen getan hat, fällt nicht in den Schlund.

An meiner Seite standen Drevin und sein Schläger. Ihre Füße taumelten bereits über der Kante, noch ein weiterer Schritt oder Stoß und sie würden ihr Schicksal wahrnehmen. Erlösung oder Vernichtung. Schwarz oder Weiß. So ist es im Reiche der Götter. Es gibt kein ewiges "Ja, aber". Meine liebste Antwort, meine beste Ausflucht, sie ist hier nichts wert.

Drevins Schläger machte den ersten Schritt. Er würde bald sein weltliches Ende finden und genau hier an der Schwelle stehen. Er musste sich nicht einmal mehr umdrehen. Ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck vorstellen. Jeder, der weiß, dass er den Sprung nicht schaffen wird, hat Angst. Weint. Schreit um Hilfe. Verzweifelt.

So auch dieser große, mürrische Schläger. Er hatte alle Chancen bekommen, die ihm diese Welt zur Verfügung gestellt hatte. Und letztlich haben wir seine allerletzte Möglichkeit gemeinsam beendet. Es ist auch an mir, dass er hier zur Wahl gestellt wird. Letztlich hat er aber seine Wahl getroffen. Er hat sich für dieses Leben entschieden. Und wird von den Konsequenzen in den Abgrund gezogen. Sein gerechtes Urteil kam. Und es war ebenso grausam, wie man es sich nur ausmalen konnte. Die ewige Dunkelheit verzehrte ihn. Für immer. Für alles Leid.

Es blieben nur Drevin und ich an der Schwelle stehen. Heute war nicht Zeit mein Urteil entgegenzunehmen, soviel wusste ich. Aber Drevin, was machte er hier? Würde mir nur eine weit entfernte oder eine nahegelegene Zukunft gezeigt? Es war so undifferenzierbar. Ich kann es auch jetzt nicht sagen. Fest steht nur, dass auch Drevin seine Wahlen im Leben getroffen hatte. Beeindruckende Wahlen, wie sie kaum ein Zweiter nur hätte, überhaupt entscheiden wollen. Das Leben hatte ihn oft genug im Stich gelassen. Und auch von Deyn Cador höchstselbst schien er verlassen. Jahrelang gefangen in einem falschen Körper durch falsche Kräfte. Nur wieder zum Mensch gemacht, durch ein großes Opfer und heidnisches Dasein. Und doch .. und doch entschied er sich für Deyn Cador. Für die Ordnung. Für das Licht und den richtigen Pfad. Obgleich aller Täuschung und allen Schmerzes. Ein bewundernswerter Mensch.

Seine letzte Wahl würde er hier am Abgrund des Renbolds treffen. Ein letztes Mal drehte er sich zu mir um und zeigte mir sein wahres Lächeln. Leicht süffisant, aber so ehrlich und rein, wie das eines Kindes.
"Ich sehe schon einmal nach ihm." entgegnete er mir.

Ich verstand nicht. Bis er einen Schritt zurücksetze. Und die Dunkelheit ihn so erbarmungslos verschlang, wie schon alle vor ihm.



RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 16.10.2020


XV – Drevin Cray

27.02.1352

"Würdest du bitte aufhören dir ständig Vorwürfe über alles und jeden zu machen?" Das waren ihre Worte. Anschuldigend. Vorwurfsvoll. Aber nicht verletzend, eher im Gegenteil.

Jule saß mir im Schneidersitz auf unserem gemeinsamen Bett gegenüber. Ich hockte mit angewinkelten Beinen auf dem Kopfkissen, während mein Rücken gegen die Wand drückte. Immer wieder spielte ich mit meinen Fingern an der verkrusteten, rußschwarzen Haut meines Beines herum. Eines Beines, das eine machtbesessene Magierin einst versengte und in ein schwarzes Stück Kohle verwandelt hatte. Es war Deyn Cador zu verdanken, dass ich es immer noch benutzen konnte. Wobei, eher wieder benutzen konnte.

"Du bist doch sicherlich nicht ohne Grund eine der ersten Empfängerinnen der Habseligkeiten von Franz geworden. Er wollte, dass du es tust. Nur du kannst es tun."

"Es ist .. es ist nicht so ..". Ich zögerte. Zeigte meine Unsicherheit offen. "Es wäre doch...; Warum hat er es nicht uns allen aufgetragen?"

"Du brauchst uns nicht, Amélie. Vergiss nicht, auch Franz war allein. Wir haben ihm eben nur ein wenig unter die Arme gegriffen. So wie Raphael und Rhys dir auf Neu Corethon mit Kessler unter die Arme greifen. Sie übernehmen nur einen kleinen Teil für dich, die Prüfungen und Hürden musst du selbst nehmen. Mit ihm war es damals doch auch nicht anders. Du weißt doch am besten von allen, was Franz durchgemacht hat."

"Unter die Arme greifen und trotzdem allein sein, hm? Hat er wirklich so viel Bürde allein getragen?"

Sie wurde wütend. Nicht in einer aggressiven Art, sondern durch bloße Empörung. Ihre Arme verschränkte sie mit verzogenem Gesicht vor ihrer Brust, bevor sie mir mit lauter Stimme eine Staundpauke hielt. "Natürlich hat er das! Natürlich, natürlich, natürlich! Wie oft habe ich euch zwei im Garten beobachtet, als er dir – und nur dir – wieder von seinen Strapazen berichtet hat. DIR hat er seine Rolle im Orden anvertraut, damit er sich für uns an vorderste Front stellen kann. Für uns alle hat er es getan! Er hat sich geopfert, Amélie, für dich und mich und Raphael und alle anderen! Willst du das wegwerfen oder schlechtreden? Das lasse ich nicht zu! Du wirst doch nicht seit Monaten wie ein verschrecktes Huhn durch die Welt ziehen?!"

Manchmal tut es weh die Wahrheit gesagt zu bekommen. Manchmal tut es gut die Wahrheit zu erfahren. Und manchmal ist es eine Mischung aus beidem. Heute war es zweifelsfrei eine gefühlvolle Kombination aus Befreiung und Verzweiflung.

"Nein, nein, ich will doch gar nicht... Ich meinte doch nicht, dass Franz nichts für uns getan hat. Es fühlte sich nur stärker an, als wären wir alle im selben Boot. Würden den selben Pfad beschreiten, aber vielleicht .. vielleicht hätte ich ihm noch mehr zuhören sollen. Mehr mitfühlen müssen oder ihm eine bessere Schulter sein. Verzeih mir, Franz."

"Es ist auch zu spät dich zu entschuldigen. Ich glaube aber nicht, dass er so eine halbherzige Entschuldigung überhaupt hören wollte. Er wusste, was ihm bestimmt war. Das hast du seinem gebrochenen Herzen doch anhören können. Es wird ihm wichtiger sein, dass du ihm jetzt hilfst. Das du jetzt an Sôlerbens Seite weiterkämpfst. Und zwar ohne dich ständig zu bemitleiden oder fertigzumachen."

"Ach, Jule, du hast ja so, so sehr recht. Wie oft dachte ich mir dieselben Dinge oder wollte genau das tun. Aber immer wieder fiel es mir so schwer. Und dann waren da diese Träume. Immer wiederkehrende schreckliche Träume, die mir meinen Kopf vernebeln und keinen klaren Gedankengang mehr zulassen. Ich weiß weder woher sie kommen, noch wie ich sie loswerde. Am schlimmsten ist aber, dass ich viele von ihnen nicht verstehe."

"Komm her hier und hör für einen Moment auf zu grübeln." Ihre abwehrende, verschränkte Haltung öffnete sich mit dem freundlichen Lächeln, das sie auf ihre Lippen legte. Jule streckte ihre Arme und Beine aus, deutete mir an zu ihr zu kriechen. Ich folgte ohne jegliche Gegenwehr. Mit angewinkelten Beinen legte ich mich über die halbe Länge des Betts und ließ meinen Kopf in ihren Schoß sinken. Mit sanften, beinahe kaum spürbaren Bewegungen strich sie mir über den Kopf.

Es war ein angenehmes, beruhigendes Gefühl. Es stiftete mir inneren Frieden und bot eine ungewohnt gewordene Geborgenheit.
"Augen zu. Erzähl mir alles, was noch auf dir lastet." Das waren ihre letzten Anweisungen, bevor ich meine Augen schloss. Nur noch das sanfte Streichen an meinem Kopf, ihre weichen Beine und ihre wohlige Stimme erfüllten mich.

"Ich verstehe es nicht. Was ist mit Franz? Wo ist er? Warum ist er nicht mehr hier? Und warum all das?"

"Halt, halt, halt." Das Streichen hielt für einen Moment an, bevor sie fortfuhr. "Zu viele Fragen auf einmal! Erstmal, keiner von uns hat eine Ahnung, was hier vor sich geht. Ich habe sogar mit Karl darüber gesprochen, doch auch aus diesem grausamen Buch hat er nichts mitgenommen, was uns helfen könnte.

Amélie, ich kann dir auch nicht sagen, wo er hin ist. Aber er ist für uns gegangen. Für Deyn Cador und Sôlerben. Was auch immer Franz gemacht hat, es war wichtig. Vertrau ihm, das haben wir doch sonst auch immer gemacht. Aus irgendeinem Grund sendet er, oder irgendjemand für ihn, uns Zeichen. Du verschmähst doch nicht plötzlich göttliche Zeichen?!"

"Nein, nein, keine Sorge. Ich mache mir nur allerlei Gedanken. So viele Empfänger von Gegenständen sind gestorben, weißt du? Ich habe Rupert Seelbachs Leiche baumeln sehen, nachdem ich am Vortag noch mit ihm gesprochen habe. Hugo Feuerstein ist eingeschlafen und weilt nicht mehr unter uns. Werner ist auch verschwunden. Und Drevin? Selbst er sieht aus, als hinge er am seidenen Faden. Ich will nicht... ich will nicht, dass es uns auch eines Tages so ergeht. Ich will dich nicht verlieren. Ich will Raphael nicht verlieren. Oder Karl und Anna. Verdammt, ich habe geschworen euch zu beschützen. Gerade nach Salvyro. Gerade wegen Salvyro. Und hier liege ich, zitternd und voller Angst." Meine Stimme vibrierte. Ich merkte, wie ich wieder nervöser und angespannter wurde. Ich konnte mich kaum beruhigen. Irgendwie verließ ich mich dann aber wieder auf die immerwährenden Streicheleinheiten Jule Webers und fand nach ihren Worten wieder zur Ruhe.

"Du hast viel gesehen, ich weiß. Du hast das alles durchgestanden, nur du. Und das macht dich so stark. Du schaffst das." Sie machte eine kurze Pause und ließ die Stille regieren. Wann hatte Jule gelernt so aufheiternde Reden zu halten? In der Not entdeckt man vielleicht doch noch das ein oder andere Talent, hm?
"Wir wollen dich auch nicht verlieren. Und selbst fürchten wir uns auch vor unserem eigenen Tod. Niemand will freiwillig sterben. Ich bin mir sicher, dass du es schaffst. Wenn du weitermachst, wirst du sicher das Schlimmste verhindern. Denk immer dran – wenn du nicht weitermachst, wird es nie ein gutes Ende geben! Das verstehen sogar Kleinkinder, also merk auch du es dir endlich einmal. Wir erwarten viel von dir, Amélie. Dafür halten wir dir doch den Rücken frei." Wieder beließ sie es bei einem Augenblick der Stille zwischen unseren Worten. Es war Zeit für mich, jedes einzelne Wort durchzugehen und abzuspeichern.

"Erinnerst du dich noch an deine Tatkraft in Szemää? Du hast uns angeführt, warum führst du dich dann nicht selbst?"

Ich seufzte tief aus. Szemää. Es war das Fegefeuer auf Athalon. Noch heute sind mein Körper und mein Geist gezeichnet von den Erlebnissen.
"Aber ich habe so oft gezögert. Wollte lieber abwarten und sehen, was passiert. Mein Warten war der Grund dafür, warum ich erst nach Neu Corethon kam. Mein Warten in Szemää ließ beim Ansturm auf Aironia diese arme Frau und ihr Kind sterben. Weil ich gewartet habe. Weil ich mich alleine nicht getraut habe. Verdammt, ich habe ihnen in die Augen gesehen. Ihre Angst, ihre Hoffnung, ihre pure Verzweiflung. Und dann all dieses Blut." Ich schüttelte meinen Kopf, bis Jule ihn mit beiden Händen festhielt. Erst dann spürte ich die wenige Tränen, die an meiner linken Wange hinabflossen. Mit einem vorsichtigen Wischen trocknete sie mir das Gesicht und ließ wieder Stille walten.

"Es ist nicht deine Schuld, Amélie. Wir haben getan, was wir konnten. Wir haben so viele gerettet. So viele Seelen bewahrt und so viele Ketzer in den Abgrund gestoßen. Du hast deine Aufgabe ganz wunderbar erfüllt.

Jeder Tod ist tragisch, doch du kannst nicht alle verhindern. Deyn Cador und seine Heiligen wachen über dich, soviel steht fest. Sie wissen, dass du immer dein Bestes gibst. Sie führen dich und weinen mit dir, wenn du nicht alle retten kannst. Denk nur daran, wieviele ohne dich verloren wären. Denk nur daran, was diese Welt – was unsere Heimat ohne dich wäre. Ich will mir keinen Orden ohne dich vorstellen, soviel ist sicher."

Ich biss mir auf die Unterlippe. Nicht stark und auch nicht so fest, dass meine alten Wunden wieder aufrissen. Aber immer noch ausreichend, um den lastenden Druck auf mir zu fühlen.
"Es nagt alles an meinem Geist. Ich kann es nicht loslassen. Selbst, wenn ich verstehe, dass ich es nicht hätte besser machen können. Selbst dann kehren diese Geister der Vergangenheit zu mir zurück. Sie klammern sich an mich. Als ob die Hände der Toten aus der Erde steigen und mich festhalten. Ich .. will sie auf eine Weise nicht loswerden, aber auf der anderen Seite .. behindern sie mich."

"Wenn du sie nicht loswerden willst, was willst du dann?" Jules sanfte Berührungen hätten ewig so weitergehen können, sie würden nicht ausreichen, um all den Schmerz und all die Last von mir zu nehmen. Sie sorgten aber immerhin dafür, dass ich langsam immer verstehen konnte. Erst jetzt verstand ich, wie lange ich all meine Taten verdrängt hatte. Hinter einer festen Wand waren all die schrecklichen Erlebnisse verschlossen. Und in der Einsamkeit brach diese Wand auf. Denn ich hatte Zeit. Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Verarbeiten.

"Ich will .. ich will Ruhe. Ich will verstehen und die Vergangenheit nicht vergessen, weißt du? Nicht vergessen, aber damit leben. Es soll in mir ruhen und bleiben. Ich will daraus lernen, um solche Fehler nicht wieder zu machen."

Mit einem lautstarken Schnippser flippte sie mir ihren Zeigefinger gegen die Stirn. Irritiert öffnete ich meine Augen und blickte in das vom flackernden Kerzenschein erhellte Grinsen meiner Ordensschwester. "Sag nie wieder, dass ich die Ungeduldige von uns beiden bin. Du bist längst dabei. Amélie, du hast längst damit begonnen. Vielleicht stehst du sogar kurz vor dem Abschluss." Sie zuckte mit den Schultern. "In jedem Fall hast du schon für dich selbst entdeckt, was du tun musst. Dein ständiges Grübeln und Jammern sind wohl deine verquerte Form der Verarbeitung." Sie fing an zu kichern und grinste mich weiter an. "Das mit dem Seelenheil habe ich mir gut bei Rhys abgeschaut oder?"

Ich wusste nichts darauf zu sagen. Stattdessen musste auch ich anfangen zu Lachen. Zum ersten Mal seit langer Zeit.


Am nächsten Morgen verließ ich die Taverne fürs Erste und besorgte uns beiden ein brauchbares Frühstück. Glücklicherweise gab die Tasperiner Backkunst allerlei schmackhaftes Gebäck her, dazu ließ ich die Sôlaner Tradition des Eierverzehrs aufleben. Wenngleich lieber gekocht, anstelle der rohen Zandiger Essweise. Ich musste nach unserem Gespräch irgendwann eingeschlafen sein. Auch Jule ließ die Kerze abbrennen und fiel dann neben mir in das Reich unserer Träume. Es war keine ruhige Nacht, fast wie erwartet. Aber immerhin verstand ich ein wenig mehr. Vielleicht halfen mir die grausamen Träume wirklich langsam, aber stetig, über alle Erlebnisse nachzudenken und sie einzuordnen. Ich bin wahrlich kein Paradebeispiel für einen glaubenstreuen Ordensritter; noch für einen ideellen Menschen. Aber ich versuche alles zu geben. Jetzt mehr denn je.

Als auch meine Zimmerpartnerin endlich erwacht war und der Kirchturm zur zehnten Stunde schlug, war es Zeit zu frühstücken. Während wir uns die Bäuche vollschlugen, setzten wir unsere Unterredung von gestern fort.

Jule begann, fast schon aufbrausend und fordernd. "Hast du verstanden, was ich dir sagen wollte, Amélie?"

"Ich denke schon. Ich bin zumindest ein bisschen schlauer, als vorher. So langsam sehe auch ich, was mir vorher vielleicht verborgen geblieben ist. Etwas, was ich nicht sehen wollte sondern immer versteckt habe. Auf die ein oder andere Weise." Ich zog meine Mundwinkel nach unten. "Danke, Jule. Danke."

Sie schaute mir gar ein wenig zu stolz, doch bei ihrem zuckersüßen Lächeln konnte ich nur schwach werden. "Die eigentliche Frage, Amélie, und bitte gib mir dafür nicht wieder Latrinendienst, ist: Wofür stehst du?"

"Wofür ich stehe? Na, für ... " Tja, wofür stehe ich? Für den Solaner Orden? Für Deyn Cador? Für meinen Orden? Für die Ordnung? Für meine eigenen egoistischen Interessen? Es ist sicherlich keine einfach zu beantwortende Frage. Doch mit irgendeiner sinnvollen Antwort müsste ich ihr Interesse doch stillen können. Ich grübelte. Währenddessen biss ich von einem meiner hartgekochten Eier ab und blickte unschlüssig durch Jule hindurch. Ebenso einfach könnte ich wohl die Frage nach dem Sinn des Lebens beantworten. Oder eben nicht.

Jule lächelte nach einer ganzen Zeit wieder schmatzend auf. "Sehr gut. Sehr gut. Keine Antwort heißt du denkst nach und bist dir noch nicht sicher. Auch das ist eine Antwort. Denn falsch gibt es bei mir nicht. Ich wünsche dir, dass du die Antwort auf deiner Reise findest. Ach was, ich bin mir gar sicher, dass du eine ganz wunderbare Antwort entdeckst."

Ich musste schmunzeln. "Vielleicht solltest du doch eine Heilstube für die Seele eröffnen? Da hast du dir aber einiges bei Rhys abgeschaut. Obwohl, eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass das alles von ihm kommt."

"Ich bin immer wieder für Überraschungen gut, oder?"

"Mhh, goldrichtig. Ansonsten würde es langweilig werden." Ich nickte beiläufig.

"Beantworte mir aber bitte noch eine Sache, Amélie: Brauchtest du wirklich erst mich um endlich hinter deinen Ausflüchten zu verschwinden und selbst in den Schein der Sonne zu treten?"

Ich nickte. Mein Blick glitt langsam zur Decke, bis ich mich auf den Rücken fallen ließ. "Ich schätze schon, ja. Ohne dich wäre ich manchmal heillos verloren, Jule Marina Weber. Du hast mir  wieder einmal geholfen eigenständig stehen zu können. So leid es mir nun einmal tut, von nun an brauche ich dich nicht mehr."

Ich schoss wieder nach oben. Vor mir baute sich ein entsetzt dreinblickendes Gesicht auf. Ihr Mund stand meilenweit offen, beinahe wären ihr noch die Reste des Frühstücks entglitten. Ich musste also schnell handeln. "Als Seelenklempnerin, Jule. Meine werte Sôlaner Ordensschwester wirst du immer bleiben. Ob du willst oder nicht."

Ihr Gesicht entspannte sich ebenso schnell wieder, wie es zuvor ihre Panik ausdrückte. Fast hätte man das Rattern ihres Kopfes hören können, bis sie endlich verstand. Klick. Entsetzen wurde zu Freude. Und das Frühstück war beendet.


Bevor wir uns nach Zandig aufmachen wollten, beschloss ich noch einmal nach Drevin zu sehen. Ich wäre ihm wenigstens eine Verabschiedung schuldig, natürlich immer in der Hoffnung, dass ihn kein schreckliches Schicksal erleiden würde. Ich ließ Jule vorerst alleine zurück und begab mich auf die belebten Straßen der Stadt. Es musste kurz vor der Mittagsstunde gewesen sein, denn die Sonne stand hoch oben am Himmel über Weissenstein. In der Luft lag ein gewisser Hauch von Kälte, und der pfeifende Wind machte es in meinem metallenen Panzer nicht gerade angenehmer.

Mit eher müßigem Gang suchte ich mir meinen Weg entlang der Stadtverwaltung und kleineren Läden, vorbei an Handelskontoren und einer innerstädtischen Windmühle. Ihre durch die Luft gleitenden Flügel erhoben sich hoch oben über den Dächern der Stadt. Runde um Runde drehten sie unablässig, auch als ich schon weit an ihr vorbeigeschritten war. In den Gassen der Stadt tummelten sich allerlei beschäftigte Menschen, die vermutlich nicht immer Gutes im Sinne hatten. Aber als Hort des Sôlaner würden diese zwielichtigen Gestalten hier nicht lange verweilen können. Die Ordnung obsiegt, stets und ständig.

Und eben diese Ordnung begrüßte mich auch am Haupttor der Akademie von Weissenstein. Ein gutes Dutzend Sôlaner Ordensritter kontrollierte die ein- und ausgehenden Personen genauestens, aufgrund der gestrigen Ereignisse, wie mir mitgeteilt wurde. Es bildete sich eine kleine Warteschlange vor mir, die auch ich geduldig abwarten musste.
Zunächst ließen die Wachen zwei Lieferburschen mit einem Stapel Papieren voran. Ihre Leiber wurden abgetastet, die mitgeführten Schriften genaustens kontrolliert und sogar teilweise quergelesen. Es vergingen sicher mehrere Minuten, bis sie überhaupt die Vorhalle betreten durften und ich einen Schritt weiter nach vorn kam. Der nachfolgende Ordensbruder hielt seinen Passierschein hoch in die Luft und wurde nach einem kurzen, offensichtlich vertrauten Pläuschchen, eingelassen. Wieder kam ich einen Schritt näher an die Türe. Nur noch eine junge Dame und ihre kleine Tochter trennten mich vom Einlass. Ich war innerlich bereits damit befasst mir eine gute Begründung auszudenken. Viel wichtiger war jedoch, dass man mich nicht erkannte oder dem gestrigen Tumult zuordnete. Es hätte mir sicher einige Stunden geraubt eine qualifizierte Aussage zu tätigen und mein Verhalten zu begründen. Nichts, was ich hätte gebrauchen können. Und vor allem Nichts, woran ich ein gehobenes Interesse hatte.

Auch die mitgebrachten Waren der beiden Damen wurden auseinandergenommen. Sie würden einen Verwandten der Kleinen besuchen wollen, für den sie eigens aus Leinburge angereist seien. Vor wenigen Monaten hatte man ihn als Magier identifiziert und vor die unablässige Wahl gestellt. Seine Entscheidung, welche Gründe er auch immer gehabt haben mag, war Weissenstein. Und hier standen sie nun, als zerissene und niemals wieder vereinte Familienangehörige. Meine Ordensbrüder nickten, wollten ihr schon fast den Weg hineinweisen. Bis einer von ihnen auf eine Leibesvisitation bestand. Die Mutter begann zu protestieren, ihre kleine Tochter würde weder schmuggeln noch sei sie irgendeine Gefahr.

Ich witterte meine Chance und mischte mich in erhabener Dreistigkeit in das Gespräch ein.
"Verzeiht bitte, werte Dame, aber wäre es euch recht, wenn ich euch hineinbegleite? Dann müsste eure Tochter nicht von meinen Ordensbrüdern überprüft werden. Zumal ich euch den richtigen Weg weisen könnte."

Ihre Mutter nahm das Angebot sogleich dankend an. Die Sôlaner warfen mir aber den ein oder anderen fragenden Blick zu. Von der einen Seite wurde gefragt, was überhaupt der Grund für meine Anwesenheit sei. Von einer anderen Seite kam die Forderung nach einer durchgehenden Kontrolle. Angesichts der weiter anwachsenden Warteschlange in meinem Rücken ließ man Gnade walten. Schon bald führte ich die Dame an den als Empfangstresen gestalteten Eingangsbereich und wartete geduldig mit ihr.

Innerhalb weniger Minuten wurden mehrere Papiere ausgetauscht, bis sie schließlich durchgelassen wurde. "Ihr kennt den Weg?" fragte die mürrische Dame am Schalter. "Er wird mir gezeigt." kam als angenehm freundliche Antwort zurück.
Gemeinsam mit meinen neuen beiden Wegbegleitern, die sich während unserer kurzweiligen Suche als Hilda mit ihrer kleinen Tochter Agnes vorstellte, fanden wir schon bald den gesuchten Saal. Ich ließ die beiden allein zurück und folgte den langen Gängen zurück zu Drevins Schlafsaal.

Während meines Ganges konnte ich mehrere gefüllte Lehrsääle betrachten, in denen allerlei Theorien und Zeichnungen auf die verstaubten Kreidetafeln geschrieben wurden. In den Innenhöfen wurden Leibesübungen und ein gemeinsames Gebet durchgeführt. Zwischendrin entdeckte ich sogar eine Lehrstunde der Zauberkunde, in der die Anwärter die richtige Körperhaltung zur Aufrechterhaltung ihrer Kräfte einstudierten. Für jeden Fehler gab es einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Schlussendlich aber traf ich vor dem Schlafsaal ein. Ich ergriff die Türklinke und wurde enttäuscht. Die Tür war verschlossen. Keine Seele weit und breit schien auch nur irgendetwas mit diesem Raum zu tun zu haben.

Leicht frustriert lief ich über dieselben Gänge wieder an den Schlägen auf den Hinterkopf, der Gebetsstunde und den Kreidetafeln, entlang. Als ich wieder in der Empfangshalle angekommen war, erkundigte ich mich bei der Dame am Schalter nach Drevin und seines aktuellen Zustands. Sie konnte mir nicht nur keine Auskunft geben, nein, sie versteinerte bei seinem Namen. Langsam aus ihrem Zustand erwachend, bat sie mich noch einmal um meinen Namen. "Wer seid ihr gleich nochmal? Was wollt ihr von diesem Novizen?"

Ich schluckte. Ihre Rückfragen, dazu ihr kritischer Blick und eine abwehrende Haltung, konnten nichts Gutes verheißen. Ich hatte aber keine andere Wahl, als sie zu fragen. Ihn im endlosen Labyrinth der Akademiegebäude selbst zu finden, war ein sinnloses Unterfangen. Also beantwortete ich ihr wiedermal, ehrlich, ihre Fragen. Sie bat mich auf einer der Steinbänke Platz zu nehmen. sSie würde sich mir wieder widmen. Mich zur gegebenen Zeit aufrufen. Ich entschied mich für denselben Sitz, auf dem auch Drevin auf mich gewartet hatte.


Es verging einige Zeit. Leute kamen und gingen. Allen voran Sôlaner Ordensritter, mal in voller Montur, mal nur in einfacher Leinenbekleidung. Oftmals trugen sie Stapel von Schriften oder Büchern unter ihren Armen, gelegentlich brachten sie auch größere Kisten mit in das Gebäude. Aber niemand von ihnen kam zu mir. Ich wartete und wartete. Bis mir ein wenig die Geduld fehlte. Auch nach meiner Nachfrage, bat mich die Dame weiter zu warten. Sie hätte alles in die Wege geleitet und würde nach ihm suchen lassen. Es sei nur derzeit schwierig ihn zu finden, sie könne auch nicht sagen warum. Immerhin reichte sie mir eine neue Ausgabe des Herolds. Ein wenig Lektüre würde mir zumindest etwas die Zeit vertreiben und mich auf den neuesten Stand bringen.

Während ich mir also die neuesten Reaktionen zum Vertrag von Corastella oder den Unruhen in der Akademie von Schwarzwasser zu Gemüte führte, stieß ich auf einen kleineren Artikel im regionalen Teil der Zeitung. Mir fiel sofort ein Name ins Auge, den ich seit vielen Jahren nicht mehr gelesen hatte. Es schien fast, als hätte ich ihn einfach verdrängt. Gar gelöscht. Aber hier erschien er mir so klar und eindeutig, als wäre unser letztes Treffen erst gestern gewesen: Martynas Litwer.

Wir hatten uns einst kennengelernt, als es um die Dechiffrierung geheimer Passagen in einem der bedeutendsten Schriftwerke Athalons ging. Er, derjenige der die Heilige Schrift ins Tasperin übersetzte, half uns auf die richtigen Ansätze zu kommen. Martynas Litwer spielte einen ebenso großen Teil im Leben des Franziskus Maximilian Gerber, wie ein Rupert Seelbach oder Hugo Feuerstein. Er war gewissermaßen nur eine Bekanntschaft gewesen. Es wäre in jedem Fall falsch gewesen ihn als Freund zu bezeichnen, aber diese Reise dient nicht dem Zweck alte Freundschaften wiederzubeleben. Sondern einzig das Mysterium um Franz zu klären. Und die Frage, warum seine alten Wegbegleiter die angeschmolzenen Gegenstände erhalten.

Als ich den Namen Martynas Litwers im Herold las, wusste ich sogleich, dass ich auch ihm einen Besuch abstatten müsste. Und wer hatte jüngst eine neue Druckerei in der Stadt am Strom etabliert? Ganz recht, eben jener Martynas Litwer.

Doch für den Moment war die Freude über meinen Fund beiseite gestellt. Nicht noch länger wollte ich mich aufhalten oder abwimmeln lassen. Genug der Warterei und vorgeschobenen Beschäftigung. Ich spürte, dass etwas nicht stimmen konnte. In der Akademie von Weissenstein könnte ein Novize nicht einfach so verschwinden. Es war nicht möglich einfach ungesehen unterzutauchen und nicht mehr auffindbar zu sein. Insbesondere, wenn eine Sôlanerin um ein Gespräch bittet. Obwohl mir schon ein wenig flau im Magen war, fragte ich erneut nach und wurde wieder mit Entschuldigungen abgewimmelt. Man wüsste nicht, wo er sich gerade befindet, aber wenn ich noch ein wenig länger warte, würde er schon wieder auftauchen. Ich wusste, dass es nur eine Lüge sein konnte. Sein musste.

Entschlossen wagte ich mich wieder in das Innere der Akademie. Im Hintergrund hörte ich die Kirchenuhren zur vierzehnten Stunde des Tages verklingen. Ich hatte noch ausreichend, aber nicht mehr viel Zeit, wenn ich ihn heute noch sprechen wollte. Und das musste ich. Dieses flaue Gefühl in meinem Magen wollte nicht verschwinden; dabei hat es sich bisher immer bewahrheitet. Waren es Sorgen? Um einen Magier? Deyn, vergib mir, was passiert hier nur mit mir?
Zunächst machte ich mich wieder zu seinem Schlafsaal auf. Mit einem festen Griff drückte ich die Klinke wieder herunter. Verschlossen.

Nach einem minutenlangen Marsch kam ich an der Rückseite des Saales an, an der sich ebenfalls eine Tür befand. Zu meiner Verwunderung saßen zwei Novizen und eine Novizin auf dem Boden vor dem Saal. Als ich aus einiger Entfernen auf sie zukam, starrten mich bereits sechs Augen an. Wenige Meter von ihnen entfernt, sprangen sie im Gleichschritt auf und stellten sich ordentlich vor mir hin. "Die Tür ist verschlossen, nur deswegen sitzen wir hier. Verzeiht bitte unser Ungehorsam. Wärt ihr bitte so gütig uns die Tür aufzuschließen?"

Ich zuckte ein wenig mit den Schultern, winkte erstmal ab. "Euch sei vergeben. Wo finde ich den Schlüssel?" Ich wollte an Drevins Sachen, sie würden mir vielleicht einen Hinweis geben. Auf der anderen Seite könnte ich anschließend seine Mitschüler außerhalb neugieriger Ohren befragen, was mit ihm am gestrigen Abend noch passiert war.

"In der Wachstube am Ende des Ganges. Wir dürfen dort aber nur in Notfällen stören." Ein Fingerzeig wies mir den Weg zu einer massiven, eisenbeschlagenen Holztür. Nickend zog ich von den drei Schülern wieder ab, die sich rücklings wieder auf den Boden setzten.

Ich hob meine Hand vor der Tür hoch in die Luft. Im Begriff anzuklopfen, ließ ich es doch sein und öffnete einfach die Tür. Ich bin schließlich Sôlanerin, eine Wachstube zu betreten sollte nicht allzu schlimm sein. Im Inneren fand ich neben einer eher spärlichen Einrichtung nur einen schlafenden Waffenbruder vor. Sein Schnarchen überdeckte jedes einzelne Geräusch, das ich in diesem Raum auch nur hätte verursachen können. Es war so penetrant laut, dass sogar Leibecht neben ihm als ruhiger Schläfer gelten könnte. Ohne größeren Zweifel griff ich den Schlüssel vom Brett, hoch lebe die Sôlaner Ordnung.

Ebenso schnell, wie ich die drei Novizen verlassen hatte, kehrte ich wieder zu ihnen zurück. Mit einer kurzen Handbewegung schloss ich die Türe klickend auf, woraufhin die drei eilig das Zimmer betraten. Ich folgte ihnen und verriegelte den Raum von innen. So schnell war ich allein mit drei Magier-Novizen in einem verschlossenen Raum. Ich hätte vermutlich alles mit ihnen tun können, was mir beliebte. Aber ich brauchte nur Informationen. Ich wollte nicht schaden. Wozu auch?

Während ich mich an Drevins Habseligkeiten zu schaffen machte, wurde ich bereits kritisch von hinten beäugt. Sein spärliches Besteck und auch seine Ersatzroben waren allesamt noch in der Kiste unter seinem Bett verstaut. Zum Vergleich zog ich die Kiste des Nachbarbetts hervor, in der sich nur wenige Gegenstände mehr versteckten. Besteck, Kleidung, aber auch ein Ledersack mit einigen Münzen und wenige selbstgezeichnete Bilder. Drevin fehlte Geld, sogar das Münzbeutelchen selbst und alle persönlichen Objekte. Es schien fast, als hätte er all das mitgenommen, was ihm persönlich gehörte. Oder es wurde mitgenommen.

Ich verzog ein wenig das Gesicht. Hatte ihn etwa schon die Vergangenheit eingeholt? War ich mittlerweile sogar zu langsam, um mich zu verabschieden? Ich wollte es irgendwo nicht wahrhaben. Vielleicht habe ich auch deswegen nicht aufgegeben nach ihm zu suchen. Und damit vielleicht nur alles noch schlimmer gemacht?

Ich ließ mich auf seiner Bettkante nieder und blickte in die drei fragenden Gesichter der Weissensteiner.
"Wo ist Drevin Cray?" fragte ich möglichst nüchtern. Es wäre aber sicher einfach gewesen meinen leicht emotionalen Klang zu vernehmen.

"Ich weiß nicht, er war gestern Abend noch hier. Also nach allem." sagte die junge Novizin. Sie war  nicht einmal volljährig gewesen sein. Nein, sie war noch ein Kind, vielleicht um die fünfzehn Jahre alt? Ihre jugendliche Naivität sah man ihr vollends an. Sie verstand mit Sicherheit nicht, warum sie hier war. Oder das sie den Rest ihres Lebens hier verbringen würde.

"Mhh, er sollte sich einfach nur hinlegen. Aber heute Morgen war er weg. Fehlte auch bei der Anwesenheitskontrolle." brachte mir einer der beiden, nur wenig älteren, männlichen Novizen entgegen.

"Was hat er gestern noch gemacht oder gesagt?" Ich schob sogleich die nächste Frage auf. Rückfragen konnte ich zwar direkt abschmettern, aber .. wollte ich das?

"Nun, er ist ins Bett gekrochen. Er schien wieder mal ziemlich fertig zu sein, nachdem Urtes ihn so zusammengeschlagen hat. Moment mal – seid ihr nicht die Sôlanerin von gestern? Wegen der wir Urtes endlich los sind?"
"Doch, doch, das muss sie sein. Wir bedanken uns ganz ausgesprochen bei euch. Er war kein guter Mensch. Ganz besonders gegenüber Drevin nicht." schob der Dritte im Bunde ein.

Kein guter Mensch, hm? Ihr sollt alle keine gute Menschen sein. Weil ihr Magier seid. Weil ihr immer Magier gewesen seid. Deswegen seid ihr hier. Und doch seid ihr Menschen. Wie ich und alle anderen.
"Mhh, ich schätze, ich war es, ja. Dankt mir jedoch nicht, auch ich erfülle nur meine Pflicht. Warum habt ihr nie etwas gesagt oder gemeldet, wenn auch ihr leiden musstet?"

"Hätten wir den Mund aufgemacht, dann wären wir hier nicht lebend rausgekommen. Urtes hat uns alle bestraft, wenn wir Drevin beschützen wollten oder ihm irgendwie zur Hilfe kamen. Und wenn wir den Wachen etwas gesagt hätten, dann hätte er uns noch viel Schlimmeres angetan. Besonders den wenigen Frauen hier." "Er war wirklich furchtbar. Drevin hätte jetzt sicher seine Ruhe, er war aber einfach weg heute Morgen."

Vielleicht warst du doch nicht so allein, wie gedacht. Zu ihrem eigenen Schutze haben sie dich leiden lassen. So wie es oftmals ist, ist sich jeder selbst der nächste. Möge Deyn uns in eine bessere Welt führen, irgendwann einmal. Egal, was passiert ist. Egal, was passieren wird. Wichtig war nur, wo Drevin hingebracht oder hingelaufen ist.
"Habt ihr gesehen, wie Drevin den Raum verlassen hat? Oder herausgebracht wurde? Wisst ihr, wo er sich sonst aufhält"?

Auf meine ersten beiden Fragen erhielt ich ein einheitliches, gar synchronisiertes Kopfschütteln. Nur zu seinen Aufenthaltsort konnte mir die Novizin immerhin einen wichtigen Hinweis geben. "Er mag den Nordhof, dort gibt es eine von Efeu überwachsene Mauer. Er hat mal gesagt, dass sie ihn an seine Heimat erinnert. Wo auch immer das gewesen sein mag".

Ich nickte, und bedankte mich. Mit einem Dreh des Schlüssels öffnete ich die Tür wieder und ließ die drei Novizen allein im Zimmer. Den Zimmerschlüssel hing ich wieder in den Wachraum zum immer noch schlafenden Waffenbruder. Dank der Karte des Akademiegeländes neben meinem äußerst wachsamen Ordensbruder fand ich dieses Mal schneller meinen Weg. Der Nordhof lag, wie bereits der Name verrät, tatsächlich im Norden der Akademie. Er schien mir nur unwesentlich größer, als die restlichen Innenhöfe, war aber durch zahlreiche Grünanlagen geziert. Mit ein wenig Geschick konnte man sich hier wirklich verstecken oder zurückziehen, aber war dies der Platz an den Drevin gehen würde? Und was, wenn er weggebracht wurde? Ist weggebracht überhaupt der richtige Ausdruck? Verschleppt oder entführt? Ich war mir zu dieser Zeit noch sehr unsicher, was überhaupt mit ihm vor sich ging. Also suchte ich nach weiteren Spuren oder Anhaltspunkten, immer in der Hoffnung nicht mit leeren Händen dastehen zu müssen.

Die Efeuwand von der seine Mitschülerin sprach, war nicht zu übersehen. In voller Pracht sprossen die grünen Triebe in die Höhe. Sie überwucherten fast die gesamte Gebäudewand. Aber ansehnlich? Das war sie sicherlich nicht. Jeder gesunde Mensch hätte die Rosenbeete oder die großen Birken vorgezogen. Warum also der Efeu? Die Antwort ist ebenso einfach, wie schwierig. Weil es nicht der Efeu war, der Drevin anzog. Sondern das, was ich nach einiger aufwendiger Suche darunter fand. Ein kleiner Tunnel in die Keller des Gebäudes, verborgen unter den großen Trieben und Blättern.  Ich würde mich nicht als besonders große oder kräftige Frau beschreiben, doch auch ich hätte nicht durch diesen kleinen Verschlag gepasst. Der noch kleinere Drevin hingegen mit einiger Mühe bestimmt. War es ein Zufall oder folgte ich einer völlig falschen Spur? Es gab nur einen Weg genau das herauszufinden.

Hinab. In die Kellergeschosse der Akademie von Weissenstein. Nur mit einiger Mühe fand ich Zugang zu den Kellern, die hinter mehreren Wachräumen verborgen lagen. Unten angekommen war ich in einem noch verzweigteren Labyrinth aus Lagerräumen und Gängen gefangen, als ich es in den oberen Stockwerken zuvor war. Kisten und Fässer aus aller Welt stapelten sich in den Ecken, manchmal sogar mitten auf dem Gang. Nur dank einer Öllaterne konnte ich überhaupt in der finsteren Dunkelheit sehen und versuchen das Loch ausfindig zu machen. Ich irrte sicher eine halbe Stunde durch die Gegend, bis ich zum ersten Mal den Schein einer anderen Öllaterne vernahm.

Ich blieb stehen. Mir war mehr als bewusst, dass es viel zu spät zum Umkehren war und man den Schein meiner Lampe bereits gesehen haben musste. Ich hatte keinen guten Grund hier unten zu sein, ich gehörte ja nichtmal zu den Sôlanern der Akademie. Meine Rüstung öffnet viele Türen, aber so komfortabel war sie nun auch wieder nicht. Ich biss mir ein wenig auf die Lippe, da wurde ich schon vom hellen Schein einer zweiten Laterne erfasst. Ich folgte der Laterne zur tragenden Hand, und dieser zum Gesicht des Trägers. Und dort erblickte ich ein bekanntes Gesicht.

Ein junger Priester mit sanfter Stimme lächelte mir bereits zum zweiten Mal seit dem Beginn meines Aufenthalts in Weissenstein zu. "Wie unerwartet, so sehen wir uns also wieder! Was treibt ihr hier unten? Ich dachte, ihr seid nur hier um einen unserer Novizen zu "besuchen"?". Ich merkte schon bei seiner Art "besuchen" auszusprechen, dass ich nicht viel verheimlichen musste. Schließlich schien ich ohnehin aufgeflogen zu sein, wenn man es denn so nennen möchte. Seine leicht ironische Sprechweise tat ihr übriges.

Ich schaute ein wenig beschämt zu Boden und lehnte mich mit dem Rücken gegen die kalte Steinwand des Kellers. "Seit meinem letzten Besuch wird dieser Novize gewissermaßen vermisst. Ihr wisst nicht zufällig etwas darüber?"

Gewissenhaft schüttelte er seinen Kopf. "Ich habe nichts damit zu tun, falls ihr das meint. Es fällt mir aber durchaus leicht mir vorzustellen, warum ihr in den Kellergeschossen sucht. Folgt mir doch bitte, euren Durst nach Wissen kann ich zumindest für den Moment stillen. Und da draußen im Felde seid ihr ohnehin deutlich besser aufgehoben, als ich, werte Protektorin."

Ich schauderte. Innerlich. Hoffentlich habe ich mir nichts anmerken lassen. Wenn ich mich recht entsinne haben wir weder Namen noch Ränge ausgetauscht und uns eher als zwei Fremde behandelt. Hatte Drevin etwas gesagt oder er sich durch die Unmengen von Akten an den Türen gewühlt? Sicherlich hatte er nur mit der Dame am Empfangstresen gesprochen, das musste es gewesen sein. Was auch immer dieser Bruder hier war, ein gewöhnlicher Priester stand nicht vor mir.

"Novize Cray hatte schnell eine Affinität für den Nordhof. Erst für seine Ruhe, dann wegen der Wand." berichtete mir der Mann in Priesterkutte im Gehen durch die engen, abgewinkelten Gänge. Ich konnte mir sein leichtes Grinsen förmlich vorstellen. Wie er mich an die Hand nahm, durch die Gänge führte und schließlich zur der anderen Seite des Loches brachte. Ohne, dass ich auch nur ein Wort darüber verloren hatte. Ich zog einen Stoß Luft, konzentrierte mich. Erst dann blickte durch den engen Erdspalt hinauf auf das saftige Grün des Efeus.

"Kam er hier durch?" fragte ich knapp. Ich hätte mir meine Frage sparen können, so offensichtlich war die Antwort. Leicht feuchte Erdbrocken und frische Blätter lagen auf dem Boden, direkt unter dem vermutlich von Drevin gegrabenen Durchbruch.

"Allem Anschein nach, ja, werte Protektorin. Aber so weit wart ihr auch schon, nicht?"

Ich nickte. Seine Freundlichkeit schien mehr als nur gespielt, vielmehr war sie eine Taktik. Eine Fassade, hinter der er die Wahrheit versteckte. Er bildete eine Wand aus seinem Lächeln, die ich hätte unmöglich durchdringen können. Dennoch schadet es nie nach den Hintergründen zu fragen. "Wärt ihr so gütig und würdet mir verraten, wer ihr seid? Was ihr hier macht?"

Seine Fassade schien vorbereitet, abgehärtet, nahezu unzerstörbar. Mit seinem unverschämten Lächeln konnte er jeden Versuch ohne Worte abschmettern, aber gleichzeitig so viel damit sagen. Stattdessen bekam ich jedoch eine unerwartete Antwort. "Alles zu seiner gegebenen Zeit. Vorerst würde ich euch bitten Drevin Cray nachzugehen." Er stellte die Öllaterne auf einer Holzkiste ab und wandte sich mir voll und ganz zu. "Ich war so frei und habe bereits ein wenig umher geforscht. Seht es als kleine Hilfe meinerseits. Von hier aus gibt es drei Ausgänge in die Obergeschosse, die er hätte nehmen können. Einer davon war verschlossen. An einem weiteren wurden heute allerlei Umbauten vorgenommen, er wäre in seiner beschmutzten Robe sicher aufgefallen. Bleibt nur noch eine Tür in die Freiheit. Sie führt aus einem Lagerkeller in eine Seitenstraße, von dort aus seid ihr auf euch gestellt."

Ich merkte die Anspannung in mir. Aus meiner Verabschiedung wurde erst eine Suche nach Drevin. Man könnte sogar sagen eine Suche aus Sorge oder Anstand. Aber dieser Kerl? Er sorgte dafür, dass ich ihn zu jagen hatte. Anscheinend war er wirklich geflohen, davongelaufen. Warum ist mir schleierhaft, waren seine Probleme doch endlich gelöst. So dachte ich zumindest. Mit einem "Worauf wartet ihr?" machte der Herr in Priesterrobe seinen Unmut deutlich. Was sollte ich anderes tun? Wirklich warten und zusehen, wie andere Sôlaner ihn finden? Das hatte er nicht verdient.

Obwohl ein Verlangen in mir brannte, herauszufinden, wer dieser geheimtuerische Kerl ist, musste ich zu Drevin. Und zwar als Erste. Eilig folgte ich der Wegbeschreibung des Mannes. Und ließ ihn allein in den schier endlosen Räumlichkeiten der Keller zurück.

Nach weiteren schiefen Gängen trat ich hinaus, in die Freiheit der Seitenstraße. Mehrere Kutschen und Lastenkarren standen auf beiden Straßenseiten, der Handel schien in vollem Gange zu sein. Während mich ein Esel anquiekte, wechselte ich die Straßenseite und versuchte einen halbwegs guten Überblick zu bekommen. Nur wenige Orte boten eine annehmbare Aussicht auf den vor mir liegenden Weg – und damit auf Drevins Fluchtweg. Ich versuchte mein Glück daher bei mehreren Händlern und in vier der kleinen Läden, bis mir – Deyn sei Dank - eine Dame weiterhelfen konnte. Sie sei gerade am Dekorieren des Schaufensters ihrer Schneiderei gewesen, als sich ein Blondschopf in der Kleidung der Akademie mit schnellen Schritten gen Norden bewegte.

Ich bedankte mich und setzte ihm nach. Im Norden lagen noch mehrere Stadtviertel, bevor die Stadtmauer das Ende Weissensteins markierte. Dahinter würden nur Wiesen und Wälder liegen. Gewiss würde Drevin nicht in der Stadt bleiben wollen, wenn er tatsächlich eine Flucht gewagt hatte. In seiner Kutte wäre es ihm aber auch nicht einfach möglich durch das Stadttor zu spazieren. Sie hatten dort sogar Bücher mit Zeichnungen aller Mitglieder der Akademie für solche Fälle. Und wenn nicht gerade mehrere Leibechts im Wachdienst waren, würde er niemals durch das Torhaus kommen. Ich musste also herausfinden, wie man in dieser Stadt ungesehen die Mauer überwinden kann.

Für solche Fragen gibt es gewissermaßen zwei Anlaufpunkte. Erstens die Stadtwache und zweitens die Schurken dieser Stadt. Wenn die Ersteren allerdings die Wege der Zweiteren kennen, bauen diese Neue. Weissenstein stellte sich aber bedeutend anders da, als die Hafenstadt Asmaeth. Wo ich spielend leicht mit ein paar Münzen einem Seebären oder Hehler Informationen hätte entlocken können, patrouillierten hier tasperinische Heerestruppen und Sôlaner. Manchmal macht einem die staatliche Ordnung und Kontrolle das Leben schwer, hm? Ich folgte daher schlussendlich dem Weg nach Norden, zum oberen Stadttor.

Auf dem Weg dahin sah ich allerlei umherspazierende Weissensteiner mit dazugehörenden Sôlanern, ratternde Karren und tratschende Städterinnen. Aber nirgends einen Drevin Cray. Wie auch? Er war sicher schon in der Nacht geflohen und ich wäre mehrere Stunden hinter ihm, selbst wenn ich mich jetzt auf Yuki schwingen würde. Weissenstein scheint auf den ersten Blick eine völlig verklemmte, staatliche Planstadt zu sein. Und auch auf den zweiten und letzten Blick erfüllt sie alle diese Klischees. Nichts an diesem Ort gefiel mir. Seine negative Atmosphäre, die herabgezogenen Gesichter. Außer den kirchlichen Geldern gab es nicht viele Gründe herzuziehen, wahrlich nicht. Und dann setzte auch noch der Regen ein. Erst fingen leichte Tropfen an auf den Boden zu plätschern, irgendwann schlugen die Wassermassen unerbittlich auf mich ein. Als ich am Nordtor angekommen war, schüttete es prasselnd aus Eimern. Ich war bis auf die Knochen durchnässt und jeder Schritt fühlte sich wie ein Sprung ins Wasser an. Aber – ich wollte ja nicht mehr aufgeben und mich hinter irgendetwas verstecken. Also machte ich weiter.

Unter den steinernen Pfählen des Tores angekommen, blieb ich ein wenig neben einer lodernden Kohlenpfanne stehen. Ich wollte wenigstens ein bisschen trocknen. Das Wetter war unangenehm und die Temperaturen mir nicht besonders wohlgesonnen. Ich atmete tief durch. Jule saß sicher gerade im Trockenen. Ihre beide Füße hatte sie auf meinem Kopfkissen abgestellt, während sie zusah, wie der Regen an der Fensterscheibe abprallte. Es wäre schön gewesen bei ihr zu sein. Angenehm. Warm. Trocken. Aber ich? Ich war auf der Jagd nach Drevin Cray. Einem geflüchteten Magier der Akademie zu Weissenstein. Das war die traurige Realität. Das Ergebnis meiner Handlungen. Unserer Taten. Ich werde für sie einstehen und auch diese Bürde tragen. Wie eine weitere schwere Last auf meinen Schultern.

Doch war ich nicht allein. Zumindest nicht allein auf der Suche nach ihm. Bald hörte ich die Rufe einiger zurückkehrender Reiter. Ihre Öllaternen waren im Regen erloschen und die Pferde wurden scheu. Sie brachen ihre Jagd nach dem Entlaufenen ab, obwohl er nicht weit gekommen sein soll.

In meinem Kopf schrillten alle Alarmglocken. Wenn sie mir zuvorkamen, dann .. kann ich nicht Schlimmeres verhindern. Dann wird Drevin sich wirklich bald an der Schlucht Dysmar vorfinden, und den Weg in die Dunkelheit schreiten. Ich .. wusste nicht, ob ich es verhindern konnte. Ich wollte es aber in jedem Falle versuchen. Das war mein Wunsch. Eine persönliche Schuldbegleichung. Vielleicht vorgeschoben, aber immerhin ehrlich.

Hastend sprintete ich durch die verlassenen Straßen der Stadt, so sehr, wie es meine Rüstung eben zuließ. Die Menschen hatten sich in die warmen und sicheren Innenräume geflüchtet. Es war keine Flucht, wie die von Drevin. Nein, es war .. Ich verstand ihn nicht. Hatte er aus Verzweiflung gehandelt? Angst? Während meine plätschernden und klimpernden Schritte das ewige Rauschen des Regens unterbrachen, dachte ich viel an ihn. An mich. An Schuld und Vergänglichkeit. Ich wollte ihn fragen. Seine Sicht der Dinge hören. Seine Motivation. Ich wollte nicht, dass sein Leben hier endet. Würde ich ihn gehen lassen, wenn ich ihn finde? Ich wusste es nicht. Es wäre falsch gewesen. Und auf der anderen Seite nur richtig. Die ewige Leier der Moral wird niemals aufhören, ganz besonders dann, wenn man sie immer wieder gebrochen hat. Brechen will.

Triefend kam ich an dem Stall an, in dem ich Yuki untergestellt hatte. In wenigen Minuten legte ich ihm Sattel und Zaumzeug an, bevor ich ihm beide Hacken in den Hintern rammte. Wir ritten durch den kalten Regen, der unsere Leiber hinabrannte. Unablässig und unnachgiebig. In Minuten waren wir wieder am Tor angekommen, das wir ohne jede Worte passierten. Vor uns lag nur das Dunkel des Sturmes, erhellt vom niedergehenden Donner. Er konnte nicht allzu weit gekommen sein, schließlich war er zu Fuß. Ohne gutes Schuhwerk. Ohne Vorräte. Was hatte er sich nur gedacht? Ich konnte seine Gedanken nicht nachvollziehen, denn ich weiß auch bis heute nicht, wie es ist keine Zukunft zu haben. Auch in der dunkelsten Stunde war Deyn an meiner Seite. Er wies mir immer einen Ausweg, eine Tür in die Freiheit. Aber Drevin? Drevin wurde weggeworfen. Hierhin. In dieses Gefängnis mit dem zelebrierenden Namen "Akademie".

Ich schlug in die Zügel, bis wir vom Dunkel des Sturmes aufgesogen wurden. Irgendwo zwischen Wäldern und Wiesen blieb Yuki ruckartig stehen, als wollte er mir ein Zeichen geben. Unsere nassen Leiber klebten längst aneinander, bis ich verstand. Ich erhob meine Stimme in die Dunkelheit, auf das sie das Licht ist, das uns leitet. Uns verbindet und vereint.
Krächzend hallte es "Drevin? Drevin, wo bist du?" durch die einbrechende Nacht. Es blieb still. Keine Antwort.

Yuki galoppierte von selbst weiter, suchte sich seinen Weg durch die Unterhölzer, während ich meine Augen aufhielt. Meine Stimme verklang zahllose Male in den Wäldern und an den Steinformationen oberhalb der Stadt. Irgendwann sah ich nicht einmal mehr die Hand vor Augen, so sehr hatte die Dunkelheit uns eingenommen. Wo warst du Drevin Cray? Zeig dich mir, so ich dir nichts antun wollte.

Es schien eine ausweglose Suche zu sein. Ein Versuch, der zu einer Jagd mit einem unbekannten Verbündeten – oder Feind – verkam. Dabei konnte ich nicht einmal mehr aufhören, so sehr hatte ich  die Orientierung verloren. Die Nacht und der immerwährende niederprasselnde Regen hatten mich als ein Teil von ihnen verschluckt. Ich spürte das Brennen in meinem Herzen. Ich wollte nicht aufgeben. Nicht schon wieder. Nicht so. Also machte ich weiter. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, bis sie bald am Versagen war. Nur Yukis ruhiges Schnauben hielt mich davon ab still zu sein. Und dann irgendwann, dann irgendwann endlich hallte es durch die Nacht.

"Hier, am Ufer. Hier bin ich. Hilfe."

Seine Stimme war schwach, nahezu gebrochen. Erst mit einigen weiteren Schreien im Trübsal der Nacht konnten wir zueinander finden.

Drevin lag kümmerlich zusammengezogen am Fuße eines Baumstumpfes. Völlig durchnässt und schwer blutend. Der Pfeil in seinem Rücken schien ihn nicht vom Lächeln abhalten zu können. Blut hatte seine einst weiße Robe tiefrot gefärbt. Ich sprang von Yukis Rücken, kniete mich zu ihm in den Sand und wollte wissen, was geschehen war. Doch bevor ich auch nur ein Wort sprechen konnte, legte er einen Finger auf seine Lippen und sagte: "Psssst. Ich würde gerne noch ein wenig dem Plätschern des Regens auf dem See zuhören. Es ist so lang her."

Ich ließ ihn gewähren. Setzte mich neben ihm in den Sand. Lauschte ebenso dem leisen Klang des Wassers. Der Blitz und mit ihm sein Donner vergingen irgendwann, doch der Regen blieb. Drevin sah elend aus. Aber er war am Leben. Er brauchte dringend eine Behandlung, bevor ihm Schlimmeres drohte. Er musste hier weg. Ich wollte ihm seinen Wunsch aber nicht nehmen. Und so schwiegen wir. Es herrschte so lange Ruhe, bis er selbst die Stimme erhob.

"Sie haben mich doch gefunden. Schneller als gedacht. Ich hielt mich für clever, aber sie waren besser. Immerhin kam der Regen und hat sie vertrieben. Ich wollte doch nur Freiheit. Ein Leben in Freiheit. Das war aber zu viel. Sowas ist einem Magiergesindel, wie mir, nicht vergönnt. Das ist doch, was sie sagen? Was ihr sagt?"

Ich schwieg. Ich ließ ihn reden und hörte nur stumm zu.

"Ich wollte dort nicht enden. Als wahnsinniger Magier, zwischen noch wahnsinnigeren Idioten. Nur um täglich ausgebeutet und bestraft zu werden. Das ist doch kein Leben. Ein wenig Freiheit. Ich wollte diese Kräfte nie. Versiegeln? Dabei gehst du drauf, Drevin. Großartig oder? Als ob ich nichts hätte tun können, als ob mein Pfad direkt in den Abgrund führt. Schnurstracks gerade aus nach unten."

Er schüttelte den Kopf. Neben dem Regen liefen ihm einige Tränen die Wangen herunter. Er war gebrochen. Ich wusste, dass ich besser nichts sage. Ich verstand, dass er seine Wahl längst getroffen hatte. Ob vor meiner Ankunft, danach oder deswegen. Es spielte keine Rolle. Er war frei. Wenigstens noch ein letztes Mal.

"Wenn ihr mich zurückbringt, ziehen sie den Pfeil aus meinem Rücken. Um mich dann zu verbrennen oder zu vierteilen. Bitte, lasst mich hier einfach noch ein Weilchen sitzen. Ich weiß, dass ihr nicht geht. Aber ..". Drevin zögerte. Sein Blick glitt von mir ab, in das tiefe, vor ihm liegende Dunkel.

"Aber beendet ihr es wenigstens. Kurz und schmerzlos. Ich will nicht leiden. Ich will nicht wieder eingesperrt und zu Tode gefoltert werden. Ich will als freier Mann sterben. Nur das."

Ich bekam kein Wort mehr raus. Was ist die richtige Antwort auf diese Frage? Natürlich? Selbstverständlich? Gern? Sogleich? Verflucht.

Also nickte ich. Nickte und nickte und nickte. Drevin lächelte. Mit einem ehrlichen, frohen Gesichtsausdruck wollte er aus der Welt gehen.
"Wir sehen uns vermutlich nicht auf der anderen Seite, aber .. kümmert euch bitte um Franz. Er hat mir nie etwas Schlechtes getan."

Wieder nickte ich. Vorsichtig zog ich meine Klinge und versuchte ihm ein möglichst kurzes, schmerzloses Ende zu bereiten. Beinahe ehrfürchtig erfüllte ich ihm seinen letzten, unaussprechlichen und unendlich traurigen Wunsch.

Mit einem Schnitt war es vorbei. Drevin Cray war tot.

Ich legte meine Hände um mein Holzkreuz und kniete vor seinem Körper nieder. Erst dann merkte ich, dass auch ich längst um ihn weinte. Trauer. Schmerz. Das war es. Die nächste Seele, die diese Welt verlassen hat.


Heiliger Renbold, du ewiger Behüter von Tod und Ruhe,
nimm du auch dich dieser verlassenen Seele an und führe sie
an die Schwelle deiner endlosen Schlucht.

Begleite sie auf ihrem letzten Wege,
als wäre sie ein Kind deiner selbst,
führe sie wie ein leuchtendes Mahnmal
ihres glorreichen Lebens vor die Pforte
des ewigen Himmelsreichs.

Deyn Cador, du Richter über Ordnung und Chaos,
nimm diese Seele als Teil deiner an
und gewähre ihr ein gerechtes letztes Urteil.
Empfange sie mit offenen Armen und gewährte ihr deine Güte,
denn auch diese Seele verdient die Liebe deiner Macht.

Zeige uns, wie sehr sie dir gedient hat und
kümmere dich um sie, damit sie für immer deinem
Reiche und der Ordnung dienen kann.

Umsorge sie mit deiner schützenden Hand,
deinem wärmenden Leib und
sättigendem Blute,
bis diese Seele in dir aufgeht,
wie ein hellerleuchteter Stern.

Ihr Heiligen, zeigt diesem Leben die Gerechtigkeit,
die es verdient hat. Lasset Gnade und Güte walten,
bevor ihr Verzweiflung und Sünde mehrt.

Wir bitten euch, ihr Heiligen, nehmt sie als Kind eurer auf
und verurteilt auch ihre Fehler nicht mit Verstoßung.
Nehmt euch ihrer an, auf das wir eines Tages wieder vereint sein dürfen.
Amen.


Mir war schwummrig und kalt. Reaktionslos blieb ich im Sand sitzen. Ich schloss meine Augen für einen Augenblick und ging in mich.
Mögest du ein gerechtes letztes Urteil erfahren, Drevin Cray.

Als ich meine Augen wieder öffnete, saß sie neben mir und Drevin. Fast schon spielend im Sand lächelte mir Jule Marina Weber aufmunternd zu. "Siehst du, Amélie, du brauchst mich wirklich nicht. Wenn du Sôlerbens Licht sein willst, dann sei es."

Ich war verwirrt. Verstand nicht. Ich war im Begriff meine Stimme zu erheben, doch da verschwand sie einfach. Spurlos und so schnell, wie sie gekommen war. Einfach weg. Eine Einbildung? Ein Zeichen Deyns? Oder doch nur ein Streich meines Kopfes, meiner ewigen Albträume und Hoffnungen? Ich weiß es nicht. Wichtig ist nur, dass sie in dieser schweren Stunde für mich da war. Mir Mut gegeben hat. Den richtigen Pfad aufzeigte. Einen Pfad, den ich selbst beschreiten muss. Und werde.

Vorsichtig legte ich Drevin auf Yukis Rücken nieder und wandte meinen eigenen Blick gen Himmel. Gerade als die letzten Worte meines Gebets gefallen waren, ließ der Regen nach. Schon bald klarrte der Himmel auf und der Mond trat hinter einem Schleier aus Wolken zum Vorschein. Mit dem Licht der Domenica wies er mir den Weg zurück nach Weissenstein. Im Schatten der Fackeln wartete bereits ein bekanntes Gesicht auf mich.



RE: Sôlerbens Licht - Feuerfrosch - 28.10.2020


XVI – Entlang der Prage

04.03.1352

Ich musste stundenlang nach Drevin gesucht haben. Und am Ende kam es doch zu einem vorhersehbaren Ende. Es war sicherlich eine Niederlage. Sicherlich? Nein. Eindeutig und offenkundig. Ich hätte ihm ein Leben in Freiheit und Zufriedenheit gewünscht. Denn vielleicht haben wir ihn erst zu dem gemacht, was er war? Ihn in die Ecke gedrängt und ihm keinen Ausweg mehr offengelassen?

Ich hatte in jedem Fall dafür gesagt, dass seine Seele nun ihre letzte Prüfung erwartet. Ich hatte ihm das Leben genommen. Wunschgemäß. Aber dennoch schwingt ein Hauch von Reue mit. Die Frage, ob es eine richtige Entscheidung gewesen war, habe ich hier schon zu oft gestellt. Wir alle wissen, dass ich keine Antwort finden werde. Manchmal hat eben jeder seine ganz eigene Antwort, geprägt durch Moral und Glaube.


Geschützt vom Schein des Mondes und erhellt von einer Vielzahl an Fackeln, traf ich wieder in Weissenstein ein. Eine Scharr aus Wachleuten und Ordensrittern stand unter dem Torhaus versammelt. Ob sie hier zusammengekommen waren, um bei Tagesanbruch nach Drevin zu suchen oder auf mich zu warten, spielte keine Rolle. Ich konnte sie allesamt ignorieren. Denn in ihrer Mitte wartete ein ganz bestimmter Priester wieder auf mich. Sein charmantes Lächeln wurde durch den Schatten seiner Priesterkutte verborgen, entging mir jedoch nicht. Wer er war? Ich würde gewiss eine Antwort finden. Nur zu einem späteren Zeitpunkt. Eigentlich hätte es mir schon hier, in Weissenstein, klar werden können. Und doch ließ ich es nur passieren.

Drevins schlaffer Körper hing festgezurrt hinter mir, auf Yuki. Sein verbliebenes Blut war während des Ritts an den Hinterläufen meines geliebten Streitrosses hinabgeronnen. Sein Körper verkam so zu einem ausgenommenen Tierkadaver. Es war eine Schande. Und doch würde ihn kein Grab und keine Gruft dieser Welt aufnehmen. Seine sterblichen Überreste würden bei nächster Gelegenheit zu Asche verbrannt werden. Nur damit auch mit seinem toten Leib keine Schande mehr angestellt werden könne.

Yuki und ich kamen vor dem Priester zu stehen. Ein leichtes Schnauben entfuhr meinem geliebten Pferd, der Priester streichelte ihm mit seiner narbenfreien Hand am Kopf herum. Anschließend reichte er Yuki eine Möhre als kleine Belohnung und sah zu mir auf.
"Ihr hattet Erfolg. Ich bin höchsterfreut, habe aber auch nichts anderes von euch erwartet. Lasst eure Ordensbrüder doch den ..", er zögerte eine Weile, "Kadaver des Magiers übernehmen. Wir werden ihn angemessen entsorgen, ihr versteht sicher. Lasst mich an dieser Stelle noch meinen Dank mit euch teilen."

Ich nickte halbherzig. Einerseits weil ich nach meiner stundenlangen Suche im Regen erschöpft und durchgefroren war, andererseits gefiel mir sein selbstgefälliges Gesicht nicht. Nichts an ihm war echt. Keine Spur von Ehrlichkeit oder Zugehörigkeit. Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich nur in seiner Nähe war.

"War er noch am Leben, als ihr ihn gefunden habt?" fragte er mit nahezu süffisantem Blick.

"Das war er. Nachdem ihn dieser Pfeil in seinem Rücken zu Boden brachte, kämpfte er sich noch stundenlang blutend weiter. Er war am Ende seiner Kräfte. Ich habe ihn vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt." Ich zog die Mundwinkel etwas in die Höhe. Es sah sicher nicht sehr überzeugend aus, aber ich wollte mich selbst daran erinnern, dass ich es war. Das ich ihm wenigstens seinen letzten Wunsch erfüllen konnte.

Ohne auf meine Antwort einzugehen, fuhr mein Gegenüber fort.
"Ich vermute, dass ihr Weissenstein leider verlassen müsst?" Ich antwortete ihm mit einem stummen Nicken. "Es war mir eine Freude euch hier kennenlernen zu dürfen, Protektorin. Möget ihr eine sichere Reise haben. Ich bin mir sicher, dass wir uns irgendwann einmal wiedersehen. Die Wege des Herren sind schließlich unergründlich."

Während er einen leichten Knicks machte, um dann hinter der nächsten Ecke zu verschwinden, wandte ich mich Drevins Körper zu. Ich stieg von Yukis Rücken hinab, löste die Seile mit denen er befestigt war und übergab seinen fahlen Körper an meine Ordensbrüder. Zu zweit packten sie Drevin an seinen Gliedmaßen. Die Ordensritter trugen ihn gemeinsam in die nächstbeste Zelle. Sicherlich würden sie ihn schon am nächsten Morgen vor den Stadttoren verbrennen.

Leb wohl, Drevin Cray. Mögest du diese Welt endlich verlassen können.


Vollkommen durchnässt und in Drevins Blut getränkt, kehrte ich wieder in meiner Taverne ein. Nur mit ein paar zusätzlichen Münzen konnte ich den Stalljungen aus dem Schlaf reißen und dazu bringen, sich auch nachts um Yuki zu kümmern. Ich wollte unbedingt sicherstellen, dass er nicht die ganze Nacht blutverschmiert alleine verbringen muss. Das hatte er nicht verdient.
Beherzt schob ich die Tür in die warmen Innenräume auf. Unter dem Schein mehrerer Öllaternen waren nur noch wenige Gäste nebst Wirt in der Spelunke versammelt. Die Stapel an Krügen auf dem Tisch sprachen für sich. Aber, ohnehin interessierte sich in dieser Stadt niemand für blutverschmierte Sôlaner.

Mit einem herben Lacher begrüßte mich der Wirt wieder in seinem noblen Etablissement. "Der Badezuber ist am rechten Gang. Ich heize euch wohl besser das Feuer an." Den Tresen ließ er Tresen sein und wies mir den Weg. Nur wenige Minuten später stand ich entkleidet vor dem leicht dampfenden Badewasser. Zuerst setzte ich meinen intakten Fuß in den Wassertrog. Eine angenehme Wärme umgab meine zerschlissene Haut. Dann wagte ich mich mit meinem gesamten Bein ins warme Nass, anschließend zog ich mein zerschlissenes, verkohltes Bein nach. Selbst an diesem zerstörten Teil meines Körpers wirkte die allumgebende Wärme, wie ein Segen aller Heiligen zugleich. Ich sollte mir diesen Vergleich nicht anmaßen, aber nach diesem Schock in der widerlichen Kälte Tasperins fand ich hier ein wenig Ruhe. Und die hatte ich bitter nötig.

Schnell fand ich mich mit meinem kompletten Körper im großzügig bemessenen Becken wieder. Der Wirt hatte mir angeboten, dass seine Frau meine Kleidung gegen ein kleines Trinkgeld waschen würde. Ich nahm natürlich dankend an, griff ein wenig Ersatzkleidung aus meinem Zimmer und freute mich auf das Bad. Hier war ich nun. In einer halbwegs geschützten und allen voran menschenleeren Umgebung.

Ich lehnte mich zurück, ließ meine Schultern an die hölzerne Rückwand sinken und lauschte dem Knistern des kleinen Holzofens. Solange das Feuerholz brannte, würde ich hier sitzen bleiben. Ich würde ohnehin nicht Schlafen können, ich hätte es auch nicht gewollt.

Drevin, Jule – was war das alles? Erschien sie mir wirklich nur im Kopf? Hat sie deswegen nie etwas zu Essen besorgen können? Weil sie nie da war? Ist sie deswegen immer auf dem Zimmer geblieben? Wobei, selbst das war eigentlich gar nicht möglich gewesen. Ich seufzte innerlich. Was für ein Wahnsinn. Drehe ich etwa durch? Oder ist es eine Eingebung Deyns? Ich weiß, ich weiß, ich verfalle wieder in alte Muster. Aber .. wer hat denn eine Antwort auf solcherlei Dinge? Und wer kann sie einfach hinnehmen und so tun, als wäre nichts gewesen? Ich weiß doch, was ich gesehen habe. Was ich erlebt habe und .. was ich mir gewünscht habe.

Sôlerbens Licht, hm? Das war die Rolle, die Franz einst eingenommen und ausgefüllt hatte. Vielleicht auf eine ganz andere Weise als ich. Irgendetwas hat ihm auf seinem Weg gebrochen; etwas Unvorstellbares. Ich hoffe, dass mir so etwas nicht passiert. Und doch wäre es wohl auch nichts für mich irgendwann an Altersschwäche im Bett friedlich einzuschlafen.

Ich hielt die Luft an, zog meinen Kopf unter die Wasseroberfläche und öffnete meine Augen wieder. Es tat sich eine andere Welt auf, eingefasst vom hölzernen Rahmen und umgeben von durchdringender Nässe. Und das nur einen Kopf entfernt von all dem da draußen. "Wenn du Sôlerbens Licht sein willst, dann sei es"? Ich tauchte wieder auf, holte tief Luft und strich mir über die Arme.

Sie hat Recht. Wozu habe ich mein Leben geführt, wenn ich hier aufgebe? Ich habe mich für diese Welt so oft geopfert, stets in den Abgrund geschaut. Und wenn nötig bin ich mit der Klinge voran hinabgesprungen. Ich habe mich auf dieser Welt Dämonen gestellt, die so schrecklich waren, dass ich heute noch Albträume von ihnen habe. Ich habe diese Welt verlassen, um an Deyns Seite zu stehen – selbst wenn mir nur wenige Erinnerungen in meinen Träumen davon geblieben sind. Ich bin in den Kreuzzug gezogen, um Flüche zu brechen, Kulte zu zerschlagen und unvergessliches Leid auf dieser Welt auszumerzen. Und nicht zuletzt hat Deyn mir selbst seine Himmelspforte offenbart. Damit ich sie beschütze; damit wir sie versiegeln.

Alles Dinge, die ich niemals jemandem erzählen kann. Nicht nur, weil sie mir nicht glauben würden oder mich für verrückt hielten. Sondern weil diese schrecklichen Geheimnisse niemals an die Welt dürfen. Deyn Cador muss allobsiegend bleiben, er hat keine Schwächen. Er darf keine Schwächen haben.

Ich schloss meine Augen wieder und lauschte dem leisem Knistern des Feuers. Fast, wie in der Priorei auf Neu Corethon. Die vielen Abende, die ich mit Raphael vor dem lodernden Kamin saß und über unseren Orden sprach. Die etlichen Stunden, die ich mit Habinger und Leibecht in der Küche verbrachte. Nur damit sie mir allen Kuchenteig vor der Nase wegfuttern. Oder die Abende unter dem Himmelszelt mit Karl und Anna, an denen wir Stockbrot am Feuer machten. All das ist vorbei. Ich kann mir schwerlich vorstellen, dass es je wieder so sein wird, wie einst. Aber ich werde  wenigstens dafür sorgen, dass sie es gut haben. Und ich werde sie beschützen.

Erst als das Feuer vergangen war, hob ich mich aus dem Badezuber. Nachdem ich mir ein leichtes Leinenhemd und meine Ersatzhose übergeschmissen hatte, zog ich mich auf mein Zimmer zurück. In Ruhe reinigte ich dort meine Rüstung von Wasser, Blut und Schmutz. Der Boden sah sicherlich fürchterlich aus, aber ich hoffte darauf, dass mir die Besitzer vergaben. Erschöpft fiel ich in einen tiefen Schlaf. Doch nur weil ich schlafe, bedeutet das noch lange nicht, dass ich zur Ruhe finde.

Träume. Sie suchten mich immer noch jede Nacht Heim. Manchmal stärker, manchmal gemächlicher. Diesen hier hatte ich nur schon einmal erlebt, erst vor wenigen Tagen. Und doch war er anders. Als hätte er sich verändert, nach allem, was ich tat.

Wie schon einige Nächte zuvor, fand ich mich an der Pforte des Himmelsreichs wieder. In weiter Ferne lag das Reich der ewigen Glückseligkeit Deyn Cadors. Hinter einem Schleier aus seiner undurchdringbaren Ordnung ruhten all die Seelen, die sich ihren Einzug zu Lebzeiten verdient gemacht hatten. Auch Drevin?

Ich würde es bald erfahren. Er stand neben mir. Mit demselben hilflosen Gesicht, dass er schon einmal an dieser Stelle gezeigt hatte. In diesem vergangenen Traum fiel er hinab in die Dunkelheit, wurde von ihr verschlungen und würde nie wieder freigelassen werden. War das das Schicksal, was ihn heute wieder erwarten würde? Wieso war ich wieder hier? Nur um meinem eigenen Fehlschlag wieder zuzusehen?

Ich hatte schon einmal meine Anerkennung für unsere jungen Weissensteiner ausgesprochen. Einen menschlichen Mut, der seinesgleichen suchte. Er konnte nicht alles hinter seiner Fassade verstecken, nicht nach all dem. So standen wir hier wieder. Was hatte sich geändert? Was würde sich ändern?

Ich wartete und schaute gespannt dem trubeligen Kommen und Gehen der Seelen zu. War es auch in der echten Welt des Herrn so? Was für ein abstruses Bild sich hier vor mir aufbaute. Wie auf einem belebten Marktplatz, an dem über die beiden wundersamsten Extreme der Welt entschieden wurde. Drevin stand noch immer da, an der Schwelle zur Schlucht. Nur mit einem weiteren Schritt würden er und ich unsere Antworten bekommen. Es war unvermeidlich. Warten äußert sich nur im Herauszögern des Entschiedenen.

Noch einmal schaute er zurück. Ein fast schon schüchterner Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, bevor er den Schritt nach vorn wagte – und ich aufwachte. Mit pochend schlagendem Herzen stellte ich mich nahezu senkrecht im Bett auf. War er gefallen oder über den Abgrund geschritten? Ich wusste es nicht. Statt meiner Antwort, sah ich nur der aufgehenden Morgensonne entgegen. Ich gebe zu, dass ich ein wenig enttäuscht war. Zu gern hätte ich erfahren, ob sich meine Träume nach meinen Entscheidungen verändern. Aber auch das würde ich eines Tages erfahren, nur nicht hier, nur nicht jetzt.

Kurz darauf trat ich völlig angekleidet und in Rüstung vor meine Zimmertüre. Meine Taschen hatte ich wieder zusammengepackt und auf dem Rücken. Zu meiner Freude fand ich meine gewaschene Kleidung vom Vortrag schon zusammengelegt vor meiner Zimmertür, die ich gleichermaßen in den Lederbeuteln verstaute. Mit einigen Worten (und Münzen) des Dankes verabschiedete ich mich beim Wirten und durchkämmte noch einmal die Straßen Weissensteins. Im morgendlichen Markttrubel gab es allerlei reichhaltige Lebensmittel zu kaufen, die mir als Proviant für den nächsten Abschnitt der Reise dienen mussten.

Neben einigen Stücken Trockenfleisch, konnte ich etwas Dörrobst und Brot ergattern. Für Yuki gab es noch drei Strünke Karotten und ein paar anderen Leckereien. Ich schlug in die Zügel und verließ Weissenstein, bevor die Arbeiter mit dem Errichten des Scheiterhaufens am Nordtor fertig geworden waren. Einerseits wollte ich nicht Drevins Körper beim langsamen Dahinschmelzen zusehen, andererseits wollte ich diese trostlose und wehmütige Stadt nur noch verlassen.

Mein Weg führte mich gen Norden. Ich ritt entlang von frisch gepflügten Feldern und manchmal noch vollständig blattlosen Obstwiesen entgegen des wichtigsten Flusses Tasperins – der Prage. Unterwegs kam ich nur an kleineren Bauerndörfern vorbei, in denen ich mir besonders in der Nacht einen Unterschlupf suchte. Viele der Landbewohner boten mir sogleich Obdach in ihren bescheidenen Hütten und teilten ihr Abendessen mit mir. Ihnen allen ließ ich stets ein paar Münzen auf dem Tisch zurück, als ich ihre Gastfreundschaft verließ. In einer Nacht wollte man mir sogar das eigene Bett anbieten, doch lehnte ich dankend ab. Meine Hängematte bleibt ein ewiger Vorteil auf langen Reisen, selbst wenn sie nur wenig Schutz gegen Kälte bietet.

Die Tage verbrachte ich meist alleine auf Yukis Rücken. Häufig hielten wir an kleinen Seen und Weihern an, um uns ein wenig auszuruhen. Die tasperinischen Landschaften änderten sich nur selten, doch spürte ich die mir immer stärker entgegenschlagende Kälte im Gesicht. Der Fluss konnte nicht mehr allzu weit sein.

Nur eine Nacht, bevor ich die Prage erblickten sollte, war die Dunkelheit schon längst über uns eingebrochen. Im Schein meiner Fackel suchte ich noch nach einem passenden Dorf, in dem ich hoffentlich Schutz vor der nächtlichen Kälte finden konnte. Trotz allem war mir das Glück zunächst nicht hold. Erst nach einer einstünden Suche erblickte ich in der Ferne ein kleines Lagerfeuer. Selbst wenn es kein Dorf war, wollte ich mich für die Nacht dazugesellen.

Als ich näher kam, vernahm ich bereits das fröhliche Lachen mehrerer illustrer Gestalten. Sie hatten es sich auf mehren Decken gemütlich gemacht und saßen mitsamt ihrer beiden Zugesel um ihr Feuer herum. Ohne großes Zögern hatte ich bald meinen Platz am Feuer.

Die drei Personen stellten sich als Ludwig Idolf, seines Zeichens Händler, seine Gattin Frida sowie der Mitreisende Thorsten Orkmark vor.
"Setzt euch nur, setzt euch zu uns. Ein wenig Gesellschaft außerhalb der Reisegemeinde ist stets gut. Dürfen wir euch um euren Namen bitten? Ach, und wohin reist ihr? Wir sind auf dem Weg nach Leinburge."

"Mein Name lautet Amélie, nennt mich ruhig Schwester Amélie oder wie auch immer es euch beliebt. Sehr erfreut. Ich reise derzeit zum Strome. Seid im Übrigen nochmals bedankt, dass ihr euer Feuer mit mir teilt."

"Selbstverständlich! Es ist doch die Pflicht eines guten Tasperiners so viel zu teilen, wie geht. Und ein Platz am Feuer ist nie verschwendet, stimmts?"

"Wahrlich. Woher stammt ihr, werte Reisende?"

Ida blickte erfreut auf. "Oh, ich will erzählen, ja? Hört ihr gern zu?" Ich nickte, sie fuhr fort. "Hervorragend. Wir kommen aus Silberbruck, wo ich und mein lieber Ludwig eine kleine Torfbrennerei hatten. Aber dort oben geht alles zu Grunde. Wir hatten einen miserablen Statthalter, keine Kunden und dann waren da noch die Magier in Schwarzwasser".

Ludwig hob einen Finger vor den Mund: "Psst. Sowas darfst du doch nicht sagen, Liebling."

"Und doch. Siehst du doch, wie ich das kann" erwiderte Ida grummelig.

"Seid unbesorgt. Ich habe kein Interesse daran eure persönlichen Ansichten zu verfolgen oder weiterzugeben. Ihr habt eure Heimat also verlassen? Weshalb Leinburge?"

"Wir hoffen dort ein wenig Arbeit zu finden. Thorsten war lange Zeit mein bester Mitarbeiter, nachdem es mit dem Geschäft bergab ging, auch mein letzter treuer Angestellter. Irgendwann blieben nur er und wir. Es lohnt sich einfach nicht mehr in Fahlstrad zu bleiben. Keiner will mehr unsere Waren kaufen, seitdem die ganze Provinz sich nur noch durch Schwarzwasser auszeichnet. Dabei sind wir doch viel mehr, als diese Hexen und Möchtegern-Forscher. Für mich haben sie noch nie etwas getan, braucht kein Mensch!" Thorsten nickte eindringlich dazu, Ida versuchte dagegen zu beschwichtigen. "Aber, aber Schatz, vielleicht kommt da ja noch etwas. Fakt bleibt aber, dass sie unseren ganzen Ruf hinunterziehen. Wer will denn mit solchen Leuten etwas zu tun haben? Und wir waren irgendwie ihre Nachbarn".

"Mitgehangen, mitgefangen" lachte Thorsten auf. "In Leinburge soll es genug Arbeit in den Werkstätten geben. Und Ida findet sicher auch etwas."

Ich hörte mir noch eine ganze Weile ihre Sorgen und Nöte an. Sie konnten sich am Ende kaum noch etwas zu Essen leisten, da keiner mehr ihren Torf brauchte. Ob es wirklich am Einfluss Schwarzwasser lag, vermochte ich nicht zu sagen. Es klang zumindest nicht allzu abwegig. Schlussendlich verkauften sie ihre letzte Habe und auch ihr Haus für eine viel zu kleine Geldsumme, um sich damit auf nach Leinburge machen zu können.

Ich konnte ihnen nicht viel Trost und Beistand in ihrer Situation anbieten. Sie hatten sicher lang für ihren eigenen Betrieb und ihr Eigenheim gearbeitet. Sie so einfach wieder zu verlieren, war sicher zermürbend. Immerhin bot ich ihnen an, ein kleines Gebet mit ihnen zu sprechen. Möge der Glaube ihnen wieder zu neuer Kraft und auf ein neues Hoch verhelfen.


Höret uns an, Deyn Cador.
Wir stehen zu dir,
auch nach einem tiefen Fall.
Alles was du uns gabst,
wurde uns wieder genommen.

Und doch bleiben wir an deiner Seite,
um mit deiner Kraft,
wieder zu neuem Glanze emporzufahren.

Sei auch du weiter an unserer Seite,
besonders in der schweren Zeit,
damit wir vom Boden wieder aufstehen vermögen
und wieder zurück ins Lichte treten.

Bleibe uns verbunden,
in guter wie in schwerer Stunde,
so denken wir auch in allen Zeiten an dich.
Wir erbringen dir deine Opfer, wann immer erforderlich,
so hilf uns du, wenn wir nicht weiterwissen,
im Sturme der Not.

Höre uns an, Deyn Cador.
Wir stehen zu dir,
auch nach einem tiefen Fall.
Alles was du uns gabst,
wird uns mit deiner Hilfe wieder zukommen.

Amen.


Nach unserem Gebet legte ich mich am knisternden Feuer unter einigen Decken zum Schlafen bereit. Der klare Sternenhimmel erhob sich über uns. Die unzähligen leuchtenden Punkte weit oben im Reiche Deyn Cadors funkelten so klar, wie weiße Lichter am Horizont. Ich betrachtete das Sternenreich eine ganze Weile lang, bis mir die Augen zufielen.
In der Nacht wurde es bedeutend kälter, insbesondere als das Feuer zu einem Haufen Glut und Asche verkam. Ich musste mich bei nächstbester Gelegenheit dicker und wärmefester einkleiden, schließlich stand Zandig noch auf dem Plan. Und der Frühling war noch lange nicht in Sicht.


Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von dem Dreier-Gespann und ihre beiden Eseln und machte mich an den letzten Tagesritt bis zur Prage. Über hügelige Wiesenlandschaften gelangte ich letztlich zum Ufer des riesigen Stromes. Seine schieren Ausmaße überraschten mich einmal mehr, obwohl ich schon viel über diese zentrale Verkehrsroute Tasperins gehört hatte. Schiffe unter unterschiedlichster Flagge fuhren in Reih und Glied den Fluss entlang. Viele der Wappen und im Wind wehenden Fahnen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie gehörten wohl zu kleineren Handelshäusern oder einfachen Bürgern, nur wenige waren eindeutig zuzuordnen.

Auf der anderen Seite der Prage erhoben sich die Dächer der Stadt Stringrub. Dort konnte ich meine Vorräte aufstocken und mir ein wenig wärmere Kleidung zulegen, doch galt es zunächst ein ganz anderes Hindernis zu überqueren – den Fluss. Brücken gab es nicht vor dem Strome, weshalb ich wieder in die Zügel schlug. Yuki und ich wanderten an den langen Stränden bis kurz vor Einbruch der Dunkelheit entlang. Die Dämmerung kündigte sich schon langsam an, als ich endlich einen Bootsanleger entdeckte.

Ich schwang mich vom Rücken meines Pferdes und führte uns beide auf den hölzernen Untergrund. Yuki war spürbar unwohl, nach allem, was in Weidtland passiert war. Ich näherte mich ihm aber so weit, wie nur irgend möglich. Er bekam ausgiebige Streicheleinheit und ein paar zusätzliche Möhren, damit er sich wieder ein wenig beruhigen konnte.

Die Sonne war kurz davor hinter dem Horizont zu verschwinden. Ich hatte die Hoffnung auf eine Überfahrt für diesen Tag fast schon aufgegeben, da rauscht endlich ein mittelgroßes Fährboot heran. Auf seinem Deck standen nur wenige Leute, von denen noch weniger das Schiff auf meiner Seite des Flusses verließen. Erst dann konnten ich und Yuki auf die schwimmende Plattform steigen. Mit vereinten Kräften begannen die Schiffsarbeiter zu rudern. Mühselig kämpften sie gegen die Strömung des Flusses an. Gleichzeitig mussten sie aber auch Ausschau halten, ob nicht gerade ein Segelschiff aus beiden Richtungen auf sie zusteuert. Glücklicherweise verlief meine Überfahrt weitgehend ereignislos.

Eine ruhige Fahrt lässt die Prage aber nicht minder beeindruckend dastehen. Der Fluss ist wirklich riesig, wirkt fast wie eine See ohne Enden. Auch das verdeutlicht vielleicht einmal mehr die Ausmaße dieses riesigen Landes. Mehr als eine Woche war ich schließlich unterwegs, um überhaupt hierher zu kommen – und das zu Pferd. Als ich aus meinem Staunen wieder herausfand, entrichtete ich die kleine Gebühr und suchte mir einen weiteren Unterschlupf für die Nacht.

In einer kleinen, aber durchaus liebenswürdigen Herberge fand ich ein preiswertes Zimmer für die Nacht. Die Schwestern, die die Mietsstube führten, waren allesamt freundlich und gut gelaunt. Für wenige Münzen bekam ich neben einem trockenen Bett sogar einen halbwegs netten Ausblick auf die Prage. Während ich also meine Zeilen niederschrieb, blickte ich immer wieder auf die vorbeisegelnden Schiffe und ihre Herkunft. Manchmal verlor ich mich in kleineren Träumereien, fokussierte mich dann aber doch letztlich wieder. Schließlich brach die Nacht endgültig hinein. Ich ließ die Kerze erlöschen und meine Augen zufallen. Ruhe.


In der tasperinischen Kleinstadt füllte ich meine Vorräte auf und suchte mir ein paar Kleidungsstücke heraus. Neben einem dickeren Wollhemd fand ich eine gefütterte Lederhose sowie zwei Wolldecken. Aufrichtig dankbar zog ich mich noch im Hinterzimmer des Ladens um, damit ich wenigstens ein wenig besser gegen die Kälte gewappnet war. Die schwere Plattenrüstung zog die Kälte zwar förmlich an, ich wollte aber so viel dagegen unternehmen, wie nur irgend möglich. Kälte ist schließlich alles andere, als mein Metier.

Nach meinem Kauf spazierte ich noch ein wenig am Hafen der Stadt entlang. Ich wollte mir ursprünglich nur noch ein warmes Mittagessen einverleiben, wurde aber von zahlreichen Schiffsführern angesprochen. Sie alle riefen ihre Fahrtziele durcheinander, wollten jeweils noch ein paar Passagiere gegen ein wenig zusätzliche Münzen befördern. Einige von ihnen hatten auch die Stadt am Strome zum Ziel. Ich wollte es Yuki aber nicht wieder antun. Er sollte nicht schon wieder tagelang in einem Schiff herumstehen müssen, schließlich ist er ein aktives Tier. Ich ließ die Angebote also Angebote bleiben. Stattdessen suchte ich nach einer kulinarischen Spezialität. Vielleicht würde ich hier etwas finden, was mich begeisterte?

An einem kleinen Lokal am Hafen erspähte ich mein Ziel. Aus einem Durchbruch in der Außenwand ihres Hauses verkaufte ein altes Ehepaar einen deftigen, fleischhaltigen Krauteintopf. Ich bestellte mir sogleich eine Schüssel. Die prallgefüllte Schüssel mit meinem dampfenden Mahl wanderte nach wenigen Minuten durch die Wand in meine Hand. Ein wohliger Geruch stieg in meine Nase auf. Er war sogar so verlockend, dass ich an Ort und Stelle mit dem Essen begann. Löffel um Löffel verschwand in meinem Mund. Jedes Mal ergab sich ein neuer saftig-vollmundiger Geschmack in meinem Mundraum, der mich sogar dazu antrieb die Schüssel nochmals füllen zu lassen. Dank eines vollgeschlagenen Bauches war ich bereit zum Weiterreisen; ausreichende Motivation brachte mir der Wille der alten Dame ihr Rezept willig mit mir zu teilen!


Am Seitenrand steht das Rezept niedergeschrieben:

-- 2 große Weißkohlköpfe
-- großen Schlag Sauerkraut
-- halber Schweinenacken
-- Stück Schweinebach
-- drei Zwiebeln
-- zwei Tomaten
-- halbe Hand Wacholderbeeren
-- Salz und Pfeffer
-- Schwenk Bratfett

Fleisch mit Zwiebeln im Fett anbraten, großzügig zerkleinern.
Kohl schneiden und einkochen.
Zwiebeln, Tomate, Wacholderbeeren und Sauerkraut dazugeben.
Fleisch hinzugeben, anderthalb Tage köcheln lassen.
Stets umdrehen und abschmecken.


Gestärkt schritt ich durch die Straßen Stringrubs zurück zu meiner Unterkunft, schnürte Yukis Packtaschen und schlug in die Zügel. Wir hatten gerade einmal die Hälfte unserer Strecke hinter uns gebracht. Ich hoffte, dass ich nur noch eine Woche brauchen würde, um zu Martynas Litwer zu gelangen. Aber wieder einmal sollte ich falsch liegen. Das Wetter machte mir einen Strich durch die Rechnung.

Nachdem ich eine weitere Nacht bei einer freundlichen Bauernfamilie verbrachte, setzte mitten am zweiten Tag ein heftiger Schneefall ein. Plötzlich regnete es überall um mich herum kleine, weiße Flocken herab. Und zwar ausgesprochen viele. Auf dem kalten Boden sammelten sich schnell erste Mengen der weißen Masse. Mir wurde erst beim Anblick des Schnees wirklich bewusst, wie kalt es eigentlich war. Meine Zähne begannen zu schlottern. Vielleicht habe ich auch deswegen Yuki ein wenig in den Hintern getreten, damit wir schneller vom Fleck kommen. Schon im nächsten Dorf steuerte ich zielgerecht die örtliche Kirche an. Mit entschlossener Dreistigkeit mein edles Schlachtross nicht der Kälte zu überlassen, stellte ich ihn neben zwei Bullen im kleinen Stall an der Kirche unter. Dann klopfte ich lautstark an die Türe der Kirche.

Die schwere Eisentür wurde mir daraufhin von einer Priesterin geöffnet, die etwa in meinem Alter gewesen sein muss. Sie bat mich herein.
"Möge Deyn euch begrüßen, Schwester des Sôlerben. Kommet doch bitte hinein in die Kirche; oder gleich in meine bescheidene Stube. Ihr wollt euch sicher aufwärmen? Ich bin Johanna, die Priesterin von Weideln."

"Seid bedankt, Johanna. Amélie vom Orden des Sôlerben. Ich hoffe ihr habt auch nichts dagegen einzuwenden, dass ich mein Pferd in eurem Stall untergebracht habe?"

Sie lächelte verlegen. "Nun ist es wohl auch zu spät. Kommt, ich setze uns einen Tee auf. Dieser Sturm wird noch einige Zeit andauern. Es ist schließlich nicht das erste Unwetter diesen Winter." Johanna ging durch die kleine Kirche hindurch und führte mich in die hinteren Gemächer. Das Gotteshaus verfügte über keine zwanzig Sitzbänke und einen kleinen Altar, keinerlei Orgel oder aufwendige Malereien. Weltgewandte Menschen hätten das Innenleben als rustikal bezeichnet; es war sehr einfach gehalten. Auch Johannas Wohngemächer boten kaum Luxus. Neben ihrem zentralen Ofen verfügte sie über kaum mehr als ein Bett, einen Tisch mit Sitzbänken sowie ein üppig bestücktes Bücherregal.
Sie bot mir einen Platz am Tisch an und schmiss sogleich ein paar Holzscheite nach. Erst dann hob sie den Wassereimer über ihre kupferne Teekanne und goss Wasser nach.
"Kamille ist hoffentlich in Ordnung?" fragte sie nach hinten. "Nicht, dass ich überhaupt etwas Anderes habe." Sie lächelte wieder warm.

"Ich bin euch überaus dankbar dafür, dass ihr mir überhaupt so freimütig eure Gastfreundschaft anbietet. Diese Kälte ist wirklich unerträglich. Ganz fürchterlich." Ich schüttelte mich, während ich ein Stücken näher gen Ofen rückte.

"Kein Umstand, wir dienen schließlich dem selben Herren! Und ich bin mir sicher, dass ihr ein paar gute Geschichten auf Lager habt. Vielleicht könnt ihr mir ja das ein oder andere erzählen? Hier in Weideln passiert nicht allzu viel. Wobei, letzte Woche wurde Schäfer Söder ein Lamm gerissen! Ein furchtbarer Anblick sage ich euch."

Ich lächelte sanft entgegen ihrer Bemerkung. Kurz darauf goss sie zwei kleine Tonbecher mit einem köstlichen (und sogar leicht gezuckerten!) Kamillentee auf. Die Wärme des Kruges in meiner Hand fühlte sich, wie ein kleiner Segen an. Und die Gesellschaft einer Priesterin war auf dieser Reihe ohnehin etwas Neues. "Johanna, lasst mich zunächst selbst ein paar Fragen stellen, danach beantworte ich euch gerne alles, was ihr nur wissen wollt. Wie lange seid ihr hier schon tätig?"

"Ach, natürlich." Sie lächelte auf. "Seit meiner Weihe bin ich hier ein Weideln. Das war vor .. vielleicht fünf Jahren? Ja, fünf Jahre sollte es her sein. Es ist ein schöner Ort zum Leben, sehr ruhig und idyllisch. Aber auch mich stören die langen Winter. Meine Schwester lebt noch weiter nördlich von hier, dort habe ich es nur zu einem kurzen Besuch ausgehalten. Verzeiht, verzeiht, ich schweife ab!" Johanna lachte ein wenig auf. Während sie einen Schluck vom Tee nahm, sprach sie allerdings schon weiter. "Es ist nur so, dass ich hier kaum gleichgesinnte Gesprächspartner habe. Die Dorfbewohner sind alle sehr nett, aber das letzte trächtige Kalb interessiert mich eher weniger."

Ich konnte sie nur zu gut verstehen. "Wir leben alle in unserer kleinen Sphäre, hm? Nur noch eins: Gehört ihr einem Orden an?"

"Ich? Nein, nein, ich bin einfache Priesterin der Silvanischen Kirche. Ich habe einmal überlegt, ob ich nicht den Schwestern der Barmherzigkeit beitreten soll, aber meine beiden linken Hände sind nur für Lesungen zu gebrauchen." Sie zuckte mit den Schultern, schien aber immer noch zufrieden. "Aber ihr! Spannend. Eine Sôlanerin in meiner kleinen Stube. Woher kommt ihr? Wo wollt ihr hin, Amélie?" Sie grinste mich vor Vorfreude an, kam bis auf wenige Zentimeter an mich herangerutscht. "Und .. vor allem – woher kommt diese fiese Narbe auf eurer Wange?"

Ich zog meien Augenbrauen in die Höhe, vor Verwunderung und nicht etwa Empörung. "Fies?"
Sie nickte. "Außerordentlich fies."

Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als mein Lächeln aufzusetzen und leise zu Seufzen. "Wenn wir schon meine Narbe als fies betiteln, lassen wir zunächst diese elende "ihr" sein, ja?" Zustimmendes Nicken. "Gut. Woher ich komme? Ursprünglich aus dem schönen Sorridia, welches dann in Patrien aufging. Falls ihr einmal von La Jonquera gehört habt, könnt ihr euch ein ungefähres Bild machen. Dann hat es mich aber irgendwie in die Unbekannten Lande, fernab dieser Welt verschlagen. Und nun bin ich wieder hier auf dem Festland. Eine kleine Reise, wie man sagt. Mein aktuelles Ziel ist am Strome, sofern dieser Schneefall aufhört."

Ihr Mund klappte herunter. "Patrien? Unbekannte Lande? Reise? Und dann diese fiese Narbe? Ich habe mir hier eine unglaubliche Geschichtsquelle ins Haus geholt!" Sie griff mit beiden Händen an meine Schulter, umarmte mich förmlich. "Ich habe Velhard noch nie verlassen! Und ihr habt die ganze Welt gesehen. Bitte, bitte, erzählt mir."

Ich warf einen Blick durch das Fenster. Dicke Schneeflocken prasselten mittlerweile auf den Boden. Die Kälte hielt Einzug in diesem kleinen Dorf. Ein undurchsichtiges Dickicht an durcheinander fliegendem Weiß baute sich außerhalb der geschützten und beheizten Wände auf. "Ich vermute, dass wir ein wenig Zeit haben, nicht? Also fein. Meine ach so fiese Narbe stammt übrigens von einem entstellten Seeungeheuer, das einmal für mich gearbeitet hat."

Johanna lachte ungläubig; ich stimmte mit ein. Wahre Begebenheiten, wie sie auf Neu Corethon so oft passieren, glaubt mir hier in der Zivilisation niemand. Das Wunder der Unbekannten Lande?
Wie dem auch sei hatte ich den Tag hindurch viel Freude mit ihr. Ich erzählte ihr allerlei leichtherzige Geschichten, bevor und während wir uns ans Kochen eines gemeinsamen Mittagessens machten. Gehüllt in dicke Mäntel kümmerten wir uns um Yuki und ihre beiden Bullen im Stall, nur um anschließend weiter in ihrem beengten Zimmer zu plaudern. Johanna war eine nette Abwechslung, eine frohmütige Persönlichkeit. Sie erinnerte mich ein wenig daran, was ich hätte sein können, wäre mein Leben anders verlaufen. Geordneter. Ruhiger. Und vor allem eins – Langweiliger.

Der Schneefall sollte auch am nächsten Tag nicht abflachen und wir wurden gezwungen einen weiteren Tag miteinander zu verbringen. Es war zwar eine aufgezwungene kurze Freundschaft, die zwischen uns entstand, aber keine die ich missen möchte. Während des Tages konnten wir uns sogar noch ein paar Hinweise und Ratschläge für unsere Messen geben. Ich hoffe, dass ich sie eines Tages meiner Gemeinde präsentieren kann. Johanna hat da wirklich ein paar ausgeklügelte Methoden, wie sie die müden Dörfler zur Abendmesse wieder lebendig bekommt.

Als wir am Morgen des dritten Tages endlich mit strahlendem Sonnenschein und einer dicken Schneeschicht auf dem Boden begrüßt wurden, war es Zeit für eine Verabschiedung. Ich nahm sie noch einmal in den Arm und versprach auf dem Weg gen Süden ein weiteres Mal bei ihr vorbeizuschauen. Ich hatte einiges über sie gelernt; und sie einiges über mich. Vielleicht war ich mit der Wahrheit nicht immer allzu präzise, aber manche Tat bleibt besser unter einem Schleier aus Güte verborgen. Die Wahrheit ist schmerzhaft. Unfassbar schmerzhaft.

Winkend sagten wir einander unser Lebwohl. Auf Yukis Rücken wagte ich mich durch die knöchelhohe Schneedecke weiter entlang der Prage. Die wenigen Eisschollen, die sich auf dem Fluss gebildet hatten, waren längst geschmolzen oder zu einem matschigen Brei durch vorbeifahrende Schiffe verkommen. Die Landschaft um mich herum wirkte dagegen, wie ein kleines Wunderland. Als hätte ich gerade den teuren Puderzucker über den Topfhelmkuchen gestreut. Alles, war wie mit weiß begossen und der Weg so schwer zu finden, wie kaum zuvor. Und hier kam der große Vorteil meines Zielortes ins Spiel. Am Strome liegt schließlich .. am Strome! Es galt daher weiter gen Norden, bis die große Brückenfestung am Horizont auftaucht, zu reiten.

Aufgrund des Schnees und kalten Bodens kam ich bedeutend langsamer voran. Wir schafften nur die Hälfte der täglich eigentlich geplanten Wegstrecke und mussten deutlich öfter rasten. Ich kam zwar mal bei einem freundlichen Müller, mal in einer kleinen Ordensniederlassung und sogar einmal in einer verfallenen Wachkaserne des Heeres unter, doch war die durchdringende Kälte auf Dauer ermüdend. Meine Knochen fühlten sich wie von einem lähmenden Gift durchzogen an. Mein Blut wird sein Übriges tun und mich auf Temperatur halten, aber .. nichtsdestotrotz ich bin nicht für Kälte gemacht.

Ich werde an dieser Stelle nicht mehr weiter von trostlosen Tagen inmitten des eindrucksvollen Schnees schreiben. Auch werde ich meinen immer wiederkehrenden Traum mit Drevin, mitsamt meines abrupten Erwachens nur einmal ausführen. Dafür kann ich mit Stolz verkünden, in der zweiten Februarwoche 1352 endlich am Strome angekommen zu sein.

Die sich in der Ferne erhebenden massiven Steintürme, gespannt über den großen Strom, waren ein herrlicher, gar erleichternder, Anblick. Die Festung mitsamt ihrer beiden Stadtteile gibt es in dieser Form wohl nur einmal auf der Welt. Wieder einmal bewahrheitet es sich – der Preis für die Risiken dieses Lebens sind Eindrücke und Erfahrungen. Manchmal beneide ich Johanna und ihre eintägliche Ruhe dennoch. Vielleicht nicht ganz unbegründet?